Magischer Logarithmus

Postkommunistische Zahlenspiele in Viktor Pelewins Roman "Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin"

Von Thilo RissingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thilo Rissing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Parallel zu unserer Welt, aber mit konkreten Einflussnahmen und Interdependenzen, existiert das Reich der Zahlen, mit seinen Galaxien aus Ziffern, Brüchen, Logarithmen und Primen. In diesem System herrscht eine strenge Hierarchie, wobei die mächtigen "Einziffer" die Herrschaft an sich gerissen haben und die übrigen Zahlen dominieren. Tief in diesem Universum gibt es einen Doppelstern, der aus zwei sich umkreisenden, diametral aufgeladenen Ziffern besteht: der "Sonnenzahl" 34 und ihrem Antipoden, der "Mondzahl" 43. In dieser numerischen Mikrowelt ist ein selbstzerstörerischer Kampf auf Leben und Tod zwischen den beiden Zahlen entbrannt, in dessen Bann nicht nur andere Ziffern, wie die 17 oder die 68 auf Seiten der 34 oder aber die 29 und 66 auf der Gegenseite, die der 43, geraten sind, sondern in dessen abgründigem Strudel sich ebenfalls Stepan Michailow wiederfindet.

Dabei hatte für den kindlichen Stepan alles ganz harmlos begonnen: Wer sich als Außenseiter einer Übermacht von Gegnern gegenübersieht, muss sich Verbündete suchen, um sich gegen mögliche Angriffe zu schützen. Stepan, die Hauptfigur in Viktor Pelewins neuem Roman "Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin", befolgt diesen Leitsatz der Verteidigung und wendet sich mit einem Gesuch um Beistand an das Reich der Zahlen. Sein erstes Vorhaben muss Stepan allerdings unverrichteter Dinge abbrechen. Zu gering sind die Aussichten, die mächtige und von allen umworbene Sieben auf seine Seite zu ziehen. So geht die Erkenntnis Stepans, dass diese als Einstellige für ihn wohl eine Nummer zu groß ist, parallel mit der logisch nachvollziehbaren Konsequenz, dass sich sein Augenmerk nun der 34 zuwendet. Nach reiflichen Erwägungen kann er im Rückblick nicht mehr genau unterscheiden, ob seine Wahl auf die 34 gefallen ist oder ob umgekehrt diese ihn ausgesucht hat. Doch haben ihn seine bisher gescheiterten Avancen misstrauisch gemacht, weshalb Stepan nun konkrete Beweise für ein erfolgreiches Bündnis mit der 34 verlangt. Seinen ganzen Alltag hat er werbend auf diese Ziffer ausgerichtet: Er steht um sechs Uhr vierunddreißig auf, kommt zu halbstündigen Verabredungen immer vier Minuten zu spät, kaut jeden Bissen vierunddreißig Mal und reagiert selbst auf Beleidigungen erst, nachdem er still bis vierunddreißig gezählt hat, was ihm zusätzlich sogar den Ruf eines äußerst selbstbeherrschten jungen Mannes einträgt. An seinem siebzehnten Geburtstag, - für Stepan aus einsichtigen Gründen ein magisches Datum -, erreicht seine Beziehung zur 34 einen ersten Höhepunkt:

"Er stellte ein Orakel auf: Der Pakt würde ihn nur dann ans Ziel seiner Wünsche bringen (was das für ein Ziel war, hätte er einstweilen noch nicht sagen können), wenn die Nummer der Kinokarte, die er heute zu kaufen gedachte, die Ziffern 3 und 4 enthielt. [...] Er hatte elfte Reihe, Platz Nummer fünfzehn. Stepan spürte, wie die Welt, die er sich so viele Jahre Stück um Stück zusammengepuzzelt hatte, mit einemmal zu Bruch ging. Er war durchgefallen. [...] Er setzte sich in seinen Sessel, senkte den Blick auf die Lehne vor sich - und hatte das Gefühl, dass der ganze Kinosaal zu schlingern anfing. Und das lag nicht am Portwein. Vor ihm prangte fett, mit Permanent-Marker geschrieben, ein Graffito: SAN-34. Was dieses SAN bedeutete, wusste Stepan nicht - irgendeine Lehrlingsklasse vielleicht. Was 34 bedeutete, wusste er um so besser. [...] Nach diesem Vorfall wusste er, dass der Pakt, von dem er als Kind schon geträumt hatte, besiegelt war."

Dieser Wink des Schicksals befreit Stepan von allen Zweifeln. Im Bunde mit der 34 richtet er nun sein gesamtes Leben nach ihr aus. Das führt zu einer ungeahnten Komplexitätsreduktion, denn ab jetzt lassen sich alle Entscheidungsprozesse von existenzieller Tragweite in schlichte Rechenexempel überführen. Durchgängig veranschaulicht Pelewin anhand seiner Hauptfigur ein Denken, das zwischen Schamanentum und Ratio oszilliert. Überraschenderweise zeigt sich aber, dass der Kontext der postkommunistischen Ära und des einsetzenden Raubtierkapitalismus in Russland diese Art von irrationalem Vorgehen geradezu erzwingt, zumindest aber doch fördert. Wunderbar angepasst an sein Umfeld könnte Stepans Geschichte somit schon an diesem Punkt ein zufriedenes, allerdings vorzeitiges Ende finden, wenn nicht gerade jetzt am Horizont die Gegenzahl 43 erschiene. Diese Zahl verkörpert für Stepan den "Gegenpol zur Weltharmonie". "Kurz: Die 43 stand für Tod und Verderben all dessen, was Stepan Glück und Seligkeit versprach."

Ab diesem Moment entdeckt Stepan die 43 überall, wo er zuvor nur die 34 wahrnahm: "Betrachtete er zum Beispiel ein Photo der Titanic, so fielen ihm als erstes die vier Schornsteine ins Auge, nebst drei Zwischenräumen. Eine 43, keine Frage. Und hätte es irgendwelcher Beweise bedurft - das Schicksal des Schiffes sprach für sich." Aus diesem Sachverhalt zieht Stepan seine Lehren. Als mittlerweile selbstständiger Betreiber einer Privatbank tätigt er alle finanziellen Geschäfte nach dieser Konstellation zwischen der ihm wohlgesonnenen 34 und der ihm feindseligen 43. Der russische Finanzsektor erscheint in diesem ironisch-gefärbten Licht als ein unüberschaubares, der Rationalität und Planung unzugängliches Terrain, auf dem man sich am besten bewährt, wenn man das eigene Schicksal abgibt und in die Hände zweier Zahlen legt: "Die Zeiten, ja, das Leben an sich waren letztlich so absurd, Ökonomie und Business dermaßen verstrickt in wer weiß was, dass jeder, der seine Entscheidungen aufgrund nüchterner Analyse fällte, sich ausnahm wie ein Idiot, der bei Windstärke neun Schlittschuh zu fahren versuchte."

Mit zunehmendem Erfolg im Geschäft wächst in Stepan die Ahnung, dass dieser auf tönernen Füßen steht, wenn es ihm nicht gelingt, seine Zahl 34 zu stärken. Darin bestätigt wird er durch die Wahrsagerin Binga, die ihm für das Jahr seiner "Mondzahl", also für sein 43. Lebensjahr, schwerwiegende Veränderungen ankündigt. Alarmiert versucht Stepan die verbleibende Zeit optimal zahlenstrategisch zu nutzen. Sein 34. Lebensjahr entwickelt sich dementsprechend prächtig: Stepans Privatbank expandiert und auch sein Privatleben gestaltet sich durch die Beziehung zu Meowth erfüllend. So verläuft alles bis zum 42. Lebensjahr in geregelten Bahnen, doch Stepans Geburtstag rückt näher: Er versucht den Trick, von der 34 auf die 29 zu wechseln, weil deren Gegenzahl 92 noch in weiter Ferne liegt, muss sich aber nach einigen bösen Omen dieses Unterfangen als Fehler eingestehen. Um die 34 nach seiner Untreue wieder gnädig zu stimmen, unternimmt Stepan allerlei Bußübungen, die seinen Alltag völlig in Anspruch nehmen. Zusammen mit seinem neuen Vertrauten, dem fernöstlich-angehauchten Wahrsager Prostislaw, ruft Stepan einen "Marshall-Plan für die Zahl 34" ins Leben. Er lässt sich einen Zen-Garten gestalten, als dessen Schlüssel, zumindest ist das Stepans Ansicht, sich drei "Lingams" (Plastikdildos) erweisen. Mit ihrer Hilfe wird Stepan den Kampf gegen das sich am Horizont abzeichnende Böse aufnehmen: Dieses in Gestalt der 43 immer deutlicher werdende Übel realisiert sich in der Bank "DeltaCredit" mit ihrem Leiter Mark Firkin, auch "Eselchen Siebencent" genannt.

Als Stepan Informationsmaterial zur DeltaCredit und ihrem Präsidenten Firkin durchblättert, kristallisiert sich unter seinen Augen der zukünftige Feind, die verkörperte 43: "Der Präsident dieser Bank hieß Mark Firkin. Man musste kein indianischer Fährtenleser sein, um dieselbe Zahl, die einem aus dem Slogan "DeltaCredit. Eng am Markt" entgegengrinste, auch im Namen des Präsidenten zu erkennen: schon im Vornamen Mark (vier Buchstaben, davon drei Konsonanten - noch Fragen?), erst recht im Nachnamen Firkin. (Stepan hatte es sofort gespürt, begriffen aber erst nach langwierigem Brüten über dem Multilingual Dictionary: eine deutsche Vier! Und mit dem Rest, -kin, drei Buchstaben, war die Sache klar.) Das Böse in doppelter Etikettierung: unverhohlen und dreist, selbstgefällig, der Gesetzlosigkeit frönend und darum an Tarnung nicht denkend."

Stepan, dem mit der DeltaCredit im imaginären Zahlenreich ein gefährlicher Gegner erwächst, unterliegt dem manischen Zwang, seine Zahl 34 zu stärken. Dieses Ziel durchzieht selbst noch die feinsten Äderchen seines ästhetischen Empfindens: ",Das Radio nervt', sagte Stepan zum Chauffeur. 'Schieb Bon Jovi rein'. Das war eine Gruppe, die er oft hörte - nicht, weil er deren Musik besonders gemocht hätte, die Gründe waren schwerwiegender." Nach reiflicher Überlegung kommt Stepan die Erleuchtung, wie es möglich ist, seiner 34 den Rücken zu stärken: Zusammen mit Maljuta, einem Werbefachmann, entwickelt er das Konzept für eine Fernsehsendung, deren Ziel darin besteht, auf subversive Weise die 34 überall im Televisionsäther zu verbreiten. Der Name der Sendung "Sjusja und Tschubaika" stellt eine verschlüsselte, aber klare 34 dar. Der große Coup Stepans wird aber durch Manipulation seines Konkurrenten "Eselchen Siebencent" durchkreuzt, der finanziell in das Fernsehprojekt einsteigt und die Umkehrung der Namen im Titel der Sendung erreichen kann, so dass diese jetzt eine ebenso deutliche 43 symbolisieren. Auf falschem Fuß erwischt, fasst Stepan den Plan, seinen Gegner Firkin mit Gewalt aus dem Weg zu räumen. Auf James Bond-Manier, à la 0034, präpariert Stepan einen der "Lingams" mit einem schussfähigen Füllfederhalter. Stepan folgt "Eselchen Siebencent" nach St. Petersburg, dringt bewaffnet mit dem schussbereiten Plastikdildo bis zu ihm ins Separée einer Szene-Disco vor, sieht sich aber unerquicklichen Missverständnissen ausgesetzt, als der Schuss sich nicht lösen will. In der anschließenden Szene kommen sich die beiden Widersacher näher, wobei der seinem ursprünglichen Zweck zugeführte "Lingam" die verbindende Funktion erfüllt. Nach dieser Geschichte hat Stepan nicht nur unfreiwilligerweise einen neuen Freund gewonnen, sondern ebenfalls ein zusätzliches Problem, weil seine Vertraute Meowth in der Zwischenzeit mit einer Summe von 35 Millionen das Weite gesucht hat.

Sein Kontrahent und neu gewonnener Busenfreund Firkin ist die einzige Instanz in der Finanzwelt, die ihm das auf den Bahamas wieder aufgetauchte Geld "zurückerobern" kann. Der zu diesem Zweck in Firkins Büro bestellte Stepan findet aber nur noch ein in Vorfreude auf eine Wiederaufnahme Petersburger Freuden durch einen Schuss aus dem "Lingam" getötetes "Eselchen Siebencent" vor. Der jähe Verlust seines zum Freund gewordenen Feindes bringt Stepan zur Raison: Das Ende der verkörperten 43 lässt auch die Wirkkraft der 34 verblassen, zieht diese Zahl mit in die Bedeutungslosigkeit all der übrigen Zahlen. Als am Horizont eine neue Sonne, diesmal die 60, aufgeht, ist für Stepan aus der todernsten Angelegenheit ein Spiel geworden.

Was dem Roman an Geschichten folgt ("Die mazedonische Kritik der französischen Philosophie", "Ein Vogue", "Akiko" und "Focus-Group"), steht in lockerer Verbindung zum Haupttext. Beispielsweise wird in "Die mazedonische Kritik der französischen Philosophie" wie nebenbei erklärt, dass Jacques Derrida einfach nur den russischen Begriff "Perestroika" in "Dekonstruktion" übersetzt hätte, was zwar realiter nicht zutrifft, aber auch nicht völlig abwegig ist, da dieser Ausdruck wörtlich übersetzt "Umbau" heißt. Elegant werden in dieser kurzen Referenz zwei Eigenschaften des gegenwärtigen Klimas in Russland ironisiert: Zum einen, wie die neuesten kulturellen Tendenzen aus dem Westen unmittelbar adaptiert werden; zum anderen das Bestreben, im selben Atemzug zu belegen, dass diese westlichen Ideen ihren "eigentlichen Ursprung" in Russland haben. Ähnlich gelingt es Pelewin immer wieder auf indirekte Weise, die postkommunistischen Zustände in Russland auszuleuchten.

Damit setzt Viktor Pelewin fort, was er mit "Buddhas Kleiner Finger" und "Generation P" begonnen hat. Es gelingt dem Autor erneut, in ironisch verzerrter Form die aktuelle Situation in Russland zu veranschaulichen, so dass es nicht verwundern kann, dass dieses Buch in seiner Heimat schon vor dem Erscheinen mit Spannung erwartet wurde und schließlich ein großer Erfolg geworden ist. Insbesondere die Unübersichtlichkeit der Epoche des Umbruchs mit den ihr verbundenen Momenten der Unsicherheit, der Suche nach Sinn, des Aufkommens esoterischer oder fernöstlicher Lebenshilfe und der zunehmenden Verquickung von ehemalis staatlichen Einrichtungen mit expandierender Ökonomie und Finanzwelt werden auf grotesk-übertriebene, doch amüsante Weise zur Schau gestellt. Insbesondere Pelewins Idee, die reinste Kontingenz in Form einer kabbalistischen Zahlenmagie mit einer aus dieser resultierenden Ordnung zu konfrontieren, zeigt die ganze Absurdität eines Denkens, das versucht, den Zerfall der russischen Gesellschaft durch den Rückgriff auf mythisch-okkulte Sinnkonstruktionen aufzuhalten. Die Zahlenmagie wird auf den Sockel eines philosophischen Systems gehoben, um sie dann nur umso besser stürzen zu können. Dergestalt demonstriert Pelewin, dass zwischen "Wahrheit und Methode" und "Wahnsinn mit Methode" nur ein kleiner Schritt liegt. Neben diesen inhaltlichen Stärken ist der Roman witzig geschrieben, und die sehr gute Übersetzung von Andreas Tretner tut das Ihrige, um die stilistischen Feinheiten und humorvollen Anspielungen ins Deutsche hinüberzuretten. Pelewin bietet eine kurzweilige Zeitdiagnose, die dabei zu keiner Zeit das Lesevergnügen aus dem Blick verliert. Er hat mit diesem Roman also wiederum bewiesen, dass er zusammen mit Vladimir Sorokin einer der vielversprechendsten Autoren der jüngeren Generation Russlands ist.

Titelbild

Viktor Pelewin: Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Andreas Tretner.
Luchterhand Literaturverlag, München 2004.
348 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3630871720

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