Triumph der Oligarchie

Siva Vaidhyanathans Überlegungen zum Informationsökosystem

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war das New Yorker Greenwich Village das Hauptquartier der Avantgarde und Moderne, der Inbegriff des Neuen und der kulturellen Revolution. Anarchische joie de vivre und künstlerische Innovation gingen einher mit radikaler Politik und anarchistischer Revolte, und bis in die fünfziger Jahre blieb das Village Anziehungspunkt für Bohemiens und Intellektuelle. Doch mit dem Aufkommen einer zunehmend stromlinienförmigen Kulturindustrie verschwand die Lust an der Innovation, und der intellektuelle Nachwuchs war zunehmend bestrebt, sich auf dem Markt mit leicht absetzbaren Produkten zu präsentieren. Während sie sich selbst als Unikate der intellektuellen Gattung begriffen, waren sie bloßes Material in der Maschinerie. Auf den Parties im Village arbeiteten sie geflissentlich am eigenen Fortkommen, indem sie Kontakte zu Redakteuren, Lektoren und Agenten knüpften und Beziehungen aufbauten.

Ein halbes Jahrhundert später ist die Werbung und Promotion in eigener Sache professioneller geworden. Längst muss man als intellektueller Shootingstar keine langweiligen Parties mit schalen Drinks und gestanzten Gesprächsfetzen mehr durchstehen, um den eigenen Marktwert zu steigern. Nun bieten sich neue Medien wie die "Weblogs" im Internet an, um als "Blogonaut" permanent an einem "text in progress" zu schreiben und selbst ständig "im Gespräch" zu bleiben. Siva Vaidhyanathan - ein ehemaliger Journalist, der jetzt als Assistenzprofessor am Institut für Kultur und Kommunikation der New York University lehrt - ist ein solcher Typus des postmodernen New Yorker Intellektuellen aus dem Greenwich Village, der selbst vom Äußeren her nicht mehr viel mit den eher schmächtigen oder hageren Vertretern der alten New Yorker Zunft zu tun hat. Massig, bullig, mit kahlem Schädel ähnelt er eher einem Nachgeborenen des etwas undurchsichtigen Sydney "Fat Man" Greenstreet als Irving Howe in Woody Allens "Zelig" und blickt dem Leser aus seinem Weblog (sivacracy.net) wie ein Türsteher entgegen. Allein die unscharfe Regalwand mit den Büchern im Hintergrund stellt den vertrauten intellektuellen Kontext her.

Vaidhyanathans Weblog ist nicht nur eine aufdringliche Personality-Werbung ("Bio and Contact"), die autoritäre Aufforderung, die Kolumnen und Texte des Autors in Internet-Magazinen wie "salon.com" oder "openDemocracy.net" zu lesen (wobei die Texte häufig lediglich "appetizer" sind, um Subskribenten zu fangen), sondern auch eine multimediale Signalanlage für Vaidhyanathans Buch "The Anarchist in the Library", für das mit einem Probekapitel, einem Video und kritischem Lob von anderen Kollegen geworben wird. Es ist ein enervierendes Trommelfeuer des "Read & Praise", das die Intention des Buches, eine kritische Sicht des Internets, des "globalen Informationsökosystems" offen zu legen, unterminiert: Information, Meinung, Reklame und Wichtigtuerei verschmelzen zu einer Vielstimmigkeit in einer virtuellen Intellektuellen-Kaschemme. Vor Jahren konstatierte Lothar Baier, dass die pluralistische Welt der Medien einem elektronischen Stammtisch von planetarischen Dimensionen gleiche. Es herrschen Meinungen vor, die nicht durch Fakten, exakte Recherche und genaue Überprüfung belegt werden müssen, und die Herrschaft selbst ist indifferent.

Abseits des "digitalen Stammtisches" seines Weblogs geht Vaidhyanathan in seinem Buch Problemen bezüglich des Internets und seiner Handhabung sowohl durch seine alltäglichen "Normalbenutzer" als auch durch die Rackets nach. Die Bibliothek im Titel ist für ihn eine Metapher für das globale Informationsökosystem, das in der Perfektion das gesamte Wissen der Menschheit und alle Information über die Welt allen Menschen kostenfrei zugänglich machen würde. Zugleich böte die ideale Bibliothek alle Formen der Kommunikation, um mit weit entfernten Nutzern in Kontakt treten zu können. Auf der anderen Seite schwirrt der Anarchist als systemfeindliches Phantom, als Symbol einer imaginierten Bedrohung durch die Informationssäle. Mit dem ungehinderten und unkontrollierten Zugang zum Internet in den Bibliotheken könnten auch "Todes-Netzwerker" in aller Welt untereinander kommunizieren und Attentate weltweit koordinieren. Daher versuchte die Bush-Administration nach den Anschlägen am 11. September 2001 mittels des "Patriot Acts" den Zugang zu Informationen zu kontrollieren und einzuschränken sowie das Internet selbst unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit unter Kontrolle zu bringen, indem es einem Redesign und einer neuen Lizenzierung zu unterwerfen wäre.

In den Augen Vaidhyanathans stellt das Internet ein verteiltes Informationssystem dar, das "ohne Kontrollen, aber mit Protokollen" geschaffen wurde und auf Offenheit, Gleichrangigkeit, individueller Autonomie, gemeinsamer Verantwortung und einer antielitistischen, egalitären Kommunikation beruhte. Zu Beginn schien das Internet, führt er aus, ein Instrument der Anarchie im positiven Sinne, ein Medium der radikalen Demokratie und Gegenkultur zu sein, obgleich es alles Negative, das erst später offenkundig wurde, bereits von Beginn an in sich trug. Im Juli 2000 pries Vaidhyanathan in einem Artikel für die linksliberale Wochenzeitung "The Nation" die Musikbörse "Napster" als Revolte gegen die oligarchische Musikindustrie und deren starren Preisstrukturen und technisches Oligopol und sah in ihr eine aufkeimende Gegenkultur in der Tradition des Punk und des Hip-Hop. Nunmehr erscheint ihm diese Position als zu naiv, und er revidiert sie in einer kritischeren Sicht auf das Internet als Warenumschlagplatz. "Napster" war der Ausdruck der Kommerzialisierung des Internets, wo emanzipatorische und libertäre Worthülsen eine plumpe, egoistische Geschäftemacherei kaschieren sollten. Anarchie herrschte nie in den virtuellen Welten, sondern die Rackets jeglicher Couleur griffen, sobald sich die Massenwirksamkeit des Internets erwies, nach den neuen Territorien, um ihre Herrschaft fortzusetzen und zu erweitern und alle zu bloßen Konsumenten und Empfängern der Pop-Up-Botschaften zu degradieren. "Die Konsumenten werden", heißt es in der "Dialektik der Aufklärung", "als statistisches Material auf der Landkarte der Forschungsstellen, die von denen der Propaganda nicht mehr zu unterscheiden sind, in Einkommensgruppen, in rote, grüne und blaue Felder aufgeteilt." Daher muss man sich auf jeder zweiten Seite registrieren lassen und Formulare ausfüllen, damit es irgendwie weitergeht. Die positiven Aspekte des Internets wie der Zugriff auf viele Informationen oder die verhältnismäßig leichte Form der Publikation sind Abfallprodukte, die auf dem virtuellen Warenumschlagplatz kaum wahrgenommen werden.

Letztlich hat die Oligarchie auch im Internet triumphiert - sowohl politisch als auch ökonomisch. Der Trend zu immer mehr Zentralisierung, Überwachung, Kommerzialisierung und Herrschaft ist offenkundig, während nur wenige miniaturhafte Refugien einer auf Information und Reflexion ausgerichteten antielitistischen, kritischen "Gegenkultur" geblieben sind, die im Laufe der Zeit zunehmend verschwinden werden. Am Ende plädiert Vaidhyanathan - gegen Anarchie und Oligarchie - für einen moderaten Mittelweg - einen vagen "bürgerlichen Republikanismus", als ließe sich das "Modell der ökonomischen Riesenmaschinerie" (Horkheimer / Adorno) mit "Geduld und Bescheidenheit" zivilisieren. Letztendlich nährt Vaidhyanathan die Illusion, die Gestaltung des globalen Informationssystems beruhe auf dem Wettbewerb der überzeugendsten Ideen, was jedoch kaum den Realitäten entspricht. Schließlich bestimmen jene die Strukturen, welche über die gesellschaftliche und ökonomische Macht verfügen, ihre Interessen durchzusetzen.

So verfällt Vaidhyanathan dem typischen Intellektuellenfehler, die eigene Bedeutung und die eigenen Einflussmöglichkeiten zu überschätzen, während kapitalistische Rahmenbedingungen vernachlässigt werden. Eine angemessene Analyse hätte die kritische Selbstreflexion über die Rolle des Intellektuellen im "globalen Informationsökosystem" einzubeziehen, anstatt dem Ehrgeiz und der Eitelkeit zu frönen, vor dem Publikum als eloquenter, beschlagener "Scholar/Activist" zu brillieren und gegenüber den anderen Konkurrenten auf dem Markt hervorzustechen. Der Untertitel "How the Clash between Freedom and Control is Hacking the Real World and Crashing the System" erweckt den Eindruck, als lieferte der intellektuelle Durchblicker und Bescheidwisser eine umfassende Erklärung zu Phänomenen in der digitalen Welt, doch erweist er sich als großsprecherische Ankündigung, die das Buch nicht einzulösen vermag. Ihm mangelt es an argumentativer Stringenz, und so ähnelt es eher einer Sammlung einzelner Texte, die um ein Thema kreisen, jedoch nicht aufeinander aufbauen. So ist denn auch die Verlagswerbung, das Buch sei ein erstrangiger Führer durch die Internet-Territorien, nicht mehr als ein plakativer Wandspruch. Am Ende überwiegt die Enttäuschung über vergebene Möglichkeiten.

Titelbild

Siva Vaidhyanathan: The Anarchist in the Library. How the Clash Between Freedom and Control Is Leaving Cyberspace and Entering the Real World.
Basic Books, New York 2004.
304 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-10: 0465089844

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