Kann sich Kunst schuldig machen?

Ein neuer Sammelband über das Verhältnis von Ethik und Ästhetik und die Möglichkeit einer "Literaturethik"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anregende, fundierte Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik und Ethik, von Literatur und Moral finden sich in einem von Christof Mandry herausgegebenen Sammelband. Die darin enthaltenen Beiträge gehen auf eine Tagung an der Universität Tübingen im Jahr 2002 zurück, auf der in sehr vielfältiger Weise die Möglichkeit einer "Literaturethik" diskutiert wurde, wobei die Autonomie beider Bereiche stets vorausgesetzt wurde. "Denn Anerkennung der Autonomie von Kunst und Moral oder Literatur und Ethik kann ja nicht bedeuten, dass die vielfachen gegenseitigen Bezugnahmen ausgeblendet würden", so der Herausgeber in seiner Einführung. In dem Band finden sich erhellende Versuche zur Systematisierung von Modellen, klassischen Fragestellungen und Aspekten zum Thema, vor allem in den Aufsätzen von Josef Früchtl und Marion Schmaus, die zeigen, dass die prinzipielle Amoralität der Kunst, worin sich eben ihre Autonomie manifestiert, ethische Motivationen nicht ausschließt, sondern eigentlich erst ermöglicht.

Die meisten der Aufsätze präferieren ein "kasuistisches", am literarischen Einzelfall gewonnenes Vorgehen, wobei die Arbeiten Hille Hakers und Eva Kimminichs herausragen. Haker erprobt mit einigem Erfolg am Beispiel von John Coetzees Erzählung "Das Problem des Bösen" die Möglichkeit einer "Literaturethik", die Literatur als Medium der ethischen Reflexion begreift. "Literatur spielt mit der Welt der ethischen Werte. Sie kann Personen und Handlungen darstellen, die in der moralischen Welt geächtet bzw. missbilligt werden müssten. Die Literatur überschreitet häufig bewusst die Grenzen der Moral, um die ethische Frage indirekt zum Vorschein zu bringen. Die Inversion der ethischen Frage lautet dann, ob wir so leben wollen, wie es denkbar und erzählbar ist. Die Literatur zeigt nicht nur den Innenraum des ethisch Richtigen, sondern führt die ethischen Subjekte versuchsweise an ihre Grenzen oder über sie hinaus. Literatur tut dies jedoch hinter dem Schleier des ästhetischen Scheins. Die Ethik dagegen hat diese Freiheit nicht, wird jedoch von der imaginativen Rationalität dann profitieren können, wenn sie das Licht zu erkennen vermag, das vom spielerischen Umgang mit der ethischen Orientierung auf den Ernst der existentiellen Verwirklichung fällt." Coetzees Erzählung versteht Haker als metaliterarische Reflexion über die Frage, ob und inwiefern sich Literatur durch die Darstellung des Bösen selbst schuldig machen kann, ob es, Autonomie der Kunst hin oder her, eine Grenze im Respekt vor dem anderen gibt, vor der auch die Literatur Halt machen muss, mithin ob Literatur moralisch verantwortbar sein muss.

An einem ganz anders gearteten Beispiel verdeutlicht Eva Kimminich die Zusammenhänge von Ethik und Ästhetik, nämlich an der Ghettokultur der Hip-Hop-Bewegung, der Rapper und MCs (Master of Ceremony). Kimminich plädiert für eine Ausweitung des Literaturbegriffs im Zeitalter der Pluralität und Globalität; man sollte "auch jenen Teil der Text- oder Sprachproduktion miteinbeziehen, der nicht auf dem Olymp kultureller Selbstdarstellung plaziert wurde", darunter die oralen Sprachkünste wie Slamming, Oral poetry und Rapping. Am Beispiel französischer Rap-lyrics zeigt die Freiburger Romanistin, wie der aggressive, körperbetonte Wettbewerb um sprachliche Fähigkeiten der Bildung kultureller und sozialer Identitäten dient und reale Gewalt durch sprachliche Gewalt ersetzt.

Das Wort dient den MCs als Waffe: gegen konkurrierende Rapper und Banden genauso wie gegen die herrschende Kultur bzw. Gesellschaft und ihre Sprache. Rapper sind "Meister des gesprochenen Wortes. Sie sind Sprachakrobaten, die über eine Macht über die Wörter verfügen. Sie nehmen sie auseinander, setzen sie wieder neu zusammen und bringen sie in alte und neue Kontexte ein. Sie erzählen Geschichten über sich und die Welt. MC wie Rapper bedienen sich virtuos der Technik; sie verkörpern technisch potenziertes Sprechen". Sie "praktizieren das, was man Refraiming oder Neurolinguistisches Programmieren nennt. D.h. sie geben ihren Geschichten einen neuen Rahmen, experimentieren und ahnen voraus. Sie sprechen aber auch sich und ihresgleichen Mut zu, dissen ihre Feinde, machen sie verbal fertig, denn Mcing und Rapping sind immer auch Streitkultur."

Titelbild

Christof Mandry (Hg.): Literatur ohne Moral. Literaturwissenschaften und Ethik im Gespräch.
LIT Verlag, Münster 2003.
152 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3825864502

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