Leben ohne Grenzen

Gernot Wolframs Erzähldebüt gibt sich international

Von Ralf SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Fremdländer" bevölkern in Gernot Wolframs beachtlichem Debüt nicht nur die Titelgeschichte: Durch fast alle Erzählungen weht ganz selbstverständlich ein für die deutsche Gegenwartsliteratur eher ungewöhnlicher Hauch von Internationalität. So begegnet uns in der preisgekrönten Erzählung "Am Radio" ein schriftstellernder Exil-Chinese, dem in seiner Berliner Wohnung nur noch ein Weltempfänger geblieben ist. Oder eine Dresdnerin, die aus vagem Fernweh beschließt, in Prag einen Massagesalon zu eröffnen. Und natürlich der titelgebende Fremdländer, ein Deutscher, der sich in Poznan regelmäßig mit einer Polin trifft.

Ihnen allen ist ihre existenzielle Unsicherheit gemein. Sie bewegen sich bloß instinktiv in einer entgrenzten Welt, angetrieben von unbestimmten Wünschen und Vorstellungen, deren Scheitern immer wieder unausweichlich scheint.

Wolframs wohltuend sachlicher Erzählstil verschweigt dabei die Unruhe und Ratlosigkeit der Figuren weitgehend, nur als Subtext sind sie ständig präsent. Vor allem macht er den Band zu einem wahren Lesevergnügen: Die meisten Geschichten sind auf souveräne Weise schnörkellos und klar erzählt, verfallen aber nicht in Lakonie. Sie unterwandern jede Kategorisierung, ohne dabei rätselhaft zu wirken.

In der Erzählung "Die Fresken" zum Beispiel reist ein israelisch-deutsches Konservatorenteam in die Ukraine, um Wandfresken des jüdischen Malers und Dichters Zimt (alias Bruno Schulz, der Autor der "Zimtläden"; Wolfram bezieht sich hier auf eine wahre Begebenheit) abzunehmen und nach Israel zu schmuggeln. Rosenberg, einer der selbsterklärten Kunstretter, beginnt im Laufe der Reise immer mehr an der Rechtmäßigkeit ihrer "Heimholung" der Werke eines vor über 60 Jahren von einem deutschen Offizier auf offener Straße erschossenen polnischen Juden zu zweifeln. Wer hat heute ein Eigentumsrecht an diesen Fresken? Und wer hat Schuld? Diese sich aufdrängenden Fragen unterdrückt Rosenberg, denn wie fast alle Hauptfiguren in Wolframs Erzählungen ist er sicher, dass sein Nachdenken der Wirklichkeit nicht beikommen kann: Er fühlt sich für die Beantwortung der großen Fragen nicht berufen. Daher weckt die maßlose Selbstsicherheit seiner Kollegin Lydia ("Es ist richtig so. Wir holen Zimt nach Hause".) zunehmend seinen Argwohn, aber auch eine milde Bewunderung für ihre Sorglosigkeit und Unbeirrbarkeit.

Eine solche Zurückhaltung in Deutungsfragen zeichnet die meisten Figuren dieses Bandes aus. Ihre Unsicherheit erscheint aber nicht als Schwäche, sondern - angesichts der ständigen Gefahr der Selbsttäuschung - eher als eine Art Lebensklugheit. Diese bewusste oder unbewusste Sensibilität und die an Demut grenzende Selbstzurücknahme sind ihr einziges Kapital in einer entgrenzten Welt. Und bei aller Individualität ist das die Gemeinsamkeit dieser so introspektiven wie internationalen Erzählungen. Von Gernot Wolfram wird hoffentlich noch zu lesen sein.

Titelbild

Gernot Wolfram: Der Fremdländer. Erzählungen.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3421057591

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