Kalter Hauch und warme Dusche

Weiß nicht, was sie will: Ingrid Nolls neue Geschichtensammlung "Falsche Zungen"

Von Dorothee ReinhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothee Reinhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichten im neuen Buch von Ingrid Noll bilden einen kleinen Chor: Jeder Text hat eine eigene Stimme, einen eigenen Erzähler - nur wird hier nicht mit Engelszungen gesungen, sondern eben mit "falschen Zungen". So ist der Titel der Sammlung auch Programm, wenn man "falsch" nicht lediglich als lügnerisch, sondern etwas weiter gefasst auch als gemein oder boshaft versteht. Denn es gibt nicht nur unehrliche Stimmen in dem kleinen Chor; andere erzählen ganz offen über die in ihrer literarischen Wirklichkeit wahren, aber mörderischen und boshaften Vorkommnisse.

Insgesamt wird auf vier verschiedene Arten erzählt, meistens völlig emotionslos aus der Sicht der Protagonisten. So bringen in den Mordgeschichten Ehefrauen ohne mit der Wimper zu zucken ihre Männer um oder umgekehrt Ehemänner ihre Frauen. Kleine skurrile Erzählungen handeln von einem Kind, das mit seltsamen Beinen geboren wird, von der bärtigen Frau, die im 17. Jahrhundert von Jusepe de Ribera gemalt wurde oder einer Stickleidenschaft, die zur Sucht geworden ist. Kleine, harmlose, ein wenig boshafte Scherzgeschichten sind zwischen die anderen gestreut und schließen die Sammlung an Stimmen ab: Mit der Weihnachtsgeschichte und ihrer etwas frechen Protagonistin Maria endet der Band. Natürlich lässt sich nicht jeder Text so eindeutig zuweisen - manche sind sowohl skurril als auch witzig und behandeln zudem einen Mord. Wie etwa "Ein milder Stern herniederlacht", in der eine Ex-Domina und ihr neuer Ehemann Weihnachten feiern und sich nebenbei ehemaliger Freier entledigen. Ein besonderer Teil des Buches ist mit "Nolls Nähkästchen" überschrieben. Hier kommt die Autorin selbst zu Wort: Sie erzählt von Lesereisen, früheren Weihnachtsfesten und spricht auf eine sehr persönliche Weise ihre Enkelin an.

Das Besondere am Erzählstil Nolls ist sicher vor allem der Umgang mit dem Bösen im Menschen. Mord ist hier eine alltägliche Handlungsalternative und wird skrupellos ausgeführt. Ähnlich funktionieren die hintergründigen Geschichten, in denen die Eigentümlichkeiten wie etwas Gewöhnliches behandelt werden. Aus diesem Kontrast zwischen der Erwartungshaltung des Lesers, dass ein Mord oder ein Kind, das zur Hälfte ein Tier ist, außergewöhnliche Extreme darstellen und der leichten, oft heiteren Erzählweise, ziehen die meisten Geschichten ihre Spannung und ihren Witz.

Leider erzeugt die Sprache selbst kaum Spannung, weshalb sich die längeren Texte ein wenig langweilig ausnehmen. Und auch der Humor ist, wie man bei der Thematik vielleicht erwartet hätte, nicht sehr bissig. So entsteht eine seltsame Mischung aus mildem, zuweilen faden Witz auf der einen und den boshaften, mörderischen Plots auf der anderen Seite. Besonders stark ist der Gegensatz zwischen den Geschichten mit fiktiven Erzählern und dem Teil "Nolls Nähkästchen".

War die Stimmung zuvor, was Handlung und Protagonisten betraf, äußerst (gefühls)kalt, wird der Leser in diesem Teil im übertragenem Sinne warm abgeduscht. Ingrid Noll ist nämlich gar nicht so gemein, wie es ihre Literatur vermuten lässt. Ein Blick hinter die Kulissen zeigt, dass auch bei Nolls gerne den Enkeln vorgelesen und jedes Jahr zu Weihnachten die aktuelle Gans als die Köstlichste angesehen wird. Für Leser, die nicht gerade große Noll-Liebhaber sind, ist dieser Teil schlicht eine Zumutung. Das Noll'sche Idyll macht das ganze Konzept der Geschichtensammlung zunichte. Der teuflische Chor der "falschen Zungen", der angenehm verstörend hätte wirken können, wird durch die Autorin selbst in eine unpassend weichgespülte Stimmlage versetzt; der zu harmlose Humor tut sein Übriges, um das Buch in eine halbe Sache zu verwandeln. "Falsche Zungen" ist nicht Fisch, nicht Fleisch, nicht böse, nicht lieb oder anders gesagt: Kalt und warm zusammen ergibt lau.

Titelbild

Ingrid Noll: Falsche Zungen. Gesammelte Geschichten.
Diogenes Verlag, Zürich 2004.
208 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3257064632
ISBN-13: 9783257064636

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