Die Zeichen der Zeit

Peter Borscheids Versuch, die Geschichte des "Tempo-Virus" zu enträtseln

Von Jörg von BilavskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Bilavsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom Automobil bis zur Zigarette gibt es wohl kaum einen Bereich der Sachkultur, den mittlerweile nicht irgendein Autor oder Verlag mit dem verkaufsfördernden Etikett "Kulturgeschichte" versehen und bearbeitet hat. Kulturgeschichtliche Darstellungen über zunächst abstrakt anmutende Phänomene hingegen erscheinen seltener oder geben sich ehrlicherweise im Titel nicht als solche zu erkennen. Francois Jullien bekennt sich in den Betrachtungen "Über die Zeit" zu seinen philosophischen Leisten und Hartmut Rosa in dem von ihm herausgegebenen Sammelband "fast forward. Essays zur Zeit und Beschleunigung" zu seinen interdisziplinären. Peter Borscheid hat die Bezeichnung "Kulturgeschichte" nicht gescheut und wagt sich als Sozial- und Wirtschaftshistoriker an das ebenso faszinierende wie komplexe Thema Beschleunigung.

Der Marburger Ordinarius hat sich in der Fachwissenschaft mit seinen Arbeiten zum Verhältnis von Staat und Industrie und zur Lage der Textilarbeiterschaft im 19. Jahrhundert früh einen Namen gemacht. Einem etwas breiteren Publikum sind vielleicht seine Untersuchungen zu Werbung und Konsum oder zum Wandel der Familien-, Geschlechter- und Generationenbeziehungen in der Neuzeit ein Begriff. Jüngere Veröffentlichungen zur Geschichte der Versicherungswirtschaft oder zum Alter runden sein akademisches Profil ab. Man sieht: Peter Borscheid fährt thematisch und methodisch mehrgleisig. Mit dem vorliegenden, eher populärwissenschaftlichen Sachbuch versucht er zum wiederholten Male neues Terrain zu erobern und unter kulturhistorischer Perspektive alle Gleise miteinander zu verbinden.

Das Buch versteht sich "als eine moderne Kulturgeschichte, die als Kultur nicht allein den schmalen Raum zwischen der Bücherwand mit Goethe und Schiller und der Opernbühne gelten lässt, sondern die technische und wirtschaftliche Kultur ebenso einbezieht wie die gebaute Welt, also Werbung und Architektur. Es nimmt das für unser aller Leben so entscheidende Wirken von Unternehmern, Technikern und Politikern ebenso in den Blick wie die Tätigkeit von Sportlern, Hausfrauen und Künstlern." Ob allein die Betrachtung einer Vielzahl von Gegenständen und Lebensformen unter dem Aspekt der Beschleunigung den Anforderungen einer "modernen Kulturgeschichte" gerecht wird, ist vielleicht die entscheidende Frage.

Nach den ersten Kapiteln wird erkennbar, auf welche Gebiete sich Borscheid in seiner Kulturgeschichte im Grunde fixiert. Es dominieren wirtschaftliche und technische Gesichtspunkte, die zweifelsohne das Phänomen der Beschleunigung am ehesten anschaulich werden lassen. Mit harten Fakten und interessanten Vergleichszahlen, wie z. B. zur Briefbeförderungs- oder Reisedauer, konzentriert sich Borscheid allzu sehr auf das materiell Greif- und statistisch Messbare. Er erkundet und durchleuchtet sehr oft im Detail technisch innovative Entwicklungen, die zur Beschleunigung der Produktion, des Verkehrs oder der Kommunikation beigetragen haben (Schifffahrt, Straßenbau, Waffentechnik, Mikroelektronik etc.). Die mentalen wie sozialen Dispositionen der Beschleunigungsproduzenten und -konsumenten werden meist nur am Rande behandelt, nämlich dann, wenn die wirtschafts- und technikhistorische Bestandsaufnahme abgeschlossen ist.

Allzu oft münden die Kapitel deshalb in einer sehr oberflächlichen Zusammenfassung wie dieser zum Abschnitt "Zeit des Dampfes": "Jede geglückte Beschleunigung enthält die Aufforderung zu einer noch rationelleren Nutzung der Zeit, sie verlangt, noch mehr Tätigkeiten in derselben Zeit zu erledigen, zumal sich parallel zur Beschleunigung von Transport und Produktion in der Psyche der Menschen eine stille Revolution des Zeitbewusstseins vollzieht." Man hätte gern Näheres über diese "Revolution" erfahren. Doch hier lässt uns die Darstellung im Stich. In seinem Buch verlegt sich Borscheid auf eine meist deskriptive und kaum die unterschiedlichen Einzeldisziplinen miteinander verknüpfende Geschichtsschreibung. Allerdings passt sie sich stilistisch ihrem Gegenstand hervorragend an. Nur wenige Historiker vermögen, ohne an wissenschaftlicher Gründlichkeit einzubüßen, so "flott" zu schreiben, wie es in solchen Formulierungen erkennbar wird: "Die Stapel- und Niederschlagerechte lassen die großen Flüsse, diese Schnellstraßen des Mittelalters, zu Schleichwegen verkommen."

Die "Kulturgeschichte der Beschleunigung" von Borscheid ist eine Zusammenschau des wirtschaftlichen und technischen Fortschritts mit seinen Licht- und Schattenseiten. Eine moderne Kulturgeschichte, die "Bedeutungen, Wahrnehmungsweisen und Sinnstiftungen der zeitgenössischen Menschen in das Verstehen, Beschreiben und Erklären" einbezieht (Ute Daniel im Vorwort ihres 2000 erschienenen Buchs "Kompendium Kulturgeschichte"), ist sie nicht. Bei ihm kommen diese Momente trotz oder gerade wegen der beeindruckenden Fülle anderer Erscheinungen entweder zu kurz oder nur als illustrative Zitate zum Zuge. Erst eine diskursive Betrachtung der zeitgenössischen Quellen zu diesem Thema im Kontext der von ihm herausgefilterten Beschleunigungsfaktoren, die sich in neuen Verkehrsmitteln, Fabrikations- und Kommunikationstechnologien materialisieren, hätte auch methodisch einem modernen kulturgeschichtlichen Ansatz genügt.

Diese Lücke können einige der literaturwissenschaftlichen Beiträge in dem von Ralf Schnell vor drei Jahren herausgegebenen LiLi-Themenheft "Beschleunigung" schließen. Sie beantworten zum Teil die von Borscheid offen gelassenen respektive unbefriedigend beantworteten Fragen, die sich nicht nur aus diskursanalytischer Sicht stellen. Drei der sieben Aufsätze widmen sich der historischen Betrachtung und Rezeption des Phänomens, während sich die anderen eher mit den aktuellen Folgen und Spiegelungen der Beschleunigung in der literarischen Avantgarde, dem Fernsehen oder in der Medientheorie auseinander setzen.

Der erste Beitrag von Rolf H. Krauss über die Eisenbahn-Prosa des nur wenig bekannten Schriftstellers Friedrich Wilhelm Hackländer (1816-1877) bestätigt die von Borscheid konstatierte "Revolution des Zeitbewusstseins" in der Psyche des Menschen, weiß sie aber konkreter zu fassen und ihr neue Einsichten zu entlocken. Krauss zeigt, wie schwer die Veränderungen von den Zeitgenossen sprachlich, also auch gedanklich zu verarbeiten waren, und welche Strategien entwickelt wurden, um Skeptiker von den Neuerungen zu überzeugen. Interessanter jedoch ist die in seinen Texten erkennbare Veränderung von Wahrnehmungsmustern. So "rahmte jedes der Eisenbahnfenster immer ein niedliches Stück Gegend ein, und bot eine Reihe der abwechslungsreichsten und niedlichsten Winterlandschaften; oftmals ganz fertige Bilder", schreibt er 1861. Kino, Fernsehen und Fotografie lassen wahrnehmungspsychologisch grüßen.

Einen weiteren wesentlichen Punkt beleuchtet der in Dortmund lehrende Professor für Journalistik Helmut Pöttker in seinem Artikel zur Beschleunigung und Verlangsamung als Faktoren historischer Wahrnehmung. In Zeiten der Beschleunigung werden nach Ansicht und Erfahrung des Autors die historischen Fakten progressiver interpretiert als in Zeiten der Verlangsamung, wo sie kritischer unter die Lupe genommen werden. Die Zeitgebundenheit historischer Interpretationen sagt ebenso etwas über die Haltung des Autors wie über seine eigene Zeit aus. Borscheids Interesse an dem existenziellen Thema Beschleunigung und sein Wille, sich ihm von einer möglichst neutralen Warte aus zu nähern, kann demnach auch als ein Zeichen der Zeit interpretiert werden: Einer Zeit, die das Zeichen der Unsicherheit trägt und in der niemand den Teufelskreis der Beschleunigung mit eindeutigen Positionen zu durchbrechen vermag.

Dieser Unsicherheit können wir uns nur durch das "zeitverlorene Lesen" von Literatur entziehen. Denn in "ihr gibt es keinen direkten Vergleich oder Abgleich ihrer 'Bewegungen' mit denen der realen Körper, der Materien in der äußeren Welt", wie Peter Gendolla in seinem interessanten LiLi-Beitrag zur Zeitwahrnehmung durch Literatur schreibt. Literatur trägt also mehr denn je zur Entschleunigung unseres Lebens bei, dessen von außen diktiertem Tempo wir vielleicht mit größerer Gelassenheit gegenüberstehen können. Borscheid würde diese Meinung sicher teilen und wie in seinem Buch mit den Worten schließen: "Ein Großteil der schönsten Stunden des Lebens benötigt ohnehin keine Uhr."

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Ralf Schnell (Hg.): Beschleunigung. LiLi - Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Jahrgang 31. Heft 123. September 2001.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2001.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISSN: 00498653

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Titelbild

Peter Borscheid: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
409 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3593374889

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