Wissen als Macht

Ein gewichtiger Sammelband zur Kulturgeschichte des Wissens in der Frühen Neuzeit

Von Nikola RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikola Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Böhlau Verlag ist ein gewichtiges Buch erschienen, gewichtig in doppelter Hinsicht. Nicht nur wiegt es mehr als drei Kilogramm, es hat auch und vor allem den Anspruch, eine umfassende Kulturgeschichte des Wissens von der Mitte des 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert, konzentriert auf die christliche Kultur West- und Mitteleuropas, zu präsentieren. Gewagt wurde dieses monumentale Projekt von Richard van Dülmen, bis zu seinem Tod im Januar 2004 Professor für Neuere Geschichte an der Universität des Saarlandes, und Sina Rauschenbach, wissenschaftliche Mitarbeiterin am dortigen Historischen Institut. Van Dülmens Schriften zur Frühen Neuzeit ("Entstehung des frühneuzeitlichen Europa", 1982; "Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit", 1990-1994) sind Standardwerke - die "Macht des Wissens" kann als Vermächtnis eines herausragenden Kulturhistorikers gewürdigt werden. Seine Mitherausgeberin hat das Unternehmen in Kooperation mit den Beiträgern und dem Verlag zu einem bravourösen Abschluss gebracht.

Entstanden ist eine Geschichte des Wissens, die dem Umfang und der Komplexität ihres Gegenstandes durchaus gerecht wird. Mitgewirkt haben an ihr kulturwissenschaftlich arbeitende Vertreter verschiedener Disziplinen: Historiker, Philosophen, Kunsthistoriker, Musikwissenschaftler und, was die einleitende Aufzählung unterschlägt, Germanisten.

Eine informative und konzise Einleitung führt in das Buch ein und lässt wenig zu wünschen übrig. Lediglich zwei Desiderata sind anzumerken: Man vermisst zum einen eine Definition des verwendeten Begriffs 'Frühe Neuzeit'. Zwar bezeichnet jener hinsichtlich seiner Datierung nicht unumstrittene Terminus in der Geschichtswissenschaft gängigerweise den hier relevanten Zeitraum 1450-1820 - einem interdisziplinär angelegten und explizit "nicht nur für ein Fachpublikum" geschriebenen Buch hätte an dieser Stelle jedoch mehr selbstreflexive Schärfe gut getan. Zum anderen irritiert der stark harmonisierende Schreibgestus, mit dem ohne präzise Datierungen die frühneuzeitliche "Einheit", das "Miteinander" der verschiedenen Wissenskulturen - gelehrte und materiale Kultur, Theorie und Praxis, Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft - sowie eine paradiesisch anmutende "geschlossene Wissenschaftslandschaft" beschworen werden. Die folgenden Artikel beleuchten dann, wesentlich angemessener, gerade die Brüche und Spaltungen (etwa zwischen erfahrenem und gelehrtem Wissen, die doch erst im 18. und 19. Jahrhundert mit der Herausbildung technischer Wissenschaften eine institutionalisierte 'Einheit' bilden konnten).

Die Beiträge des Bandes sind chronologisch in fünf Abschnitte unterteilt: I. Aufbruch in die Renaissance (1450-1580), II. Wissenschaftliche Revolution und neues Wissen (1580-1660), III. Repräsentation und Ordnung des neuen Wissens (1660-1730), IV. Wissenschaft, praktische Aufklärung, Popularisierung (1730-1780), V. Wissenschaft im Revolutionszeitalter (1780-1820). Jeder Abschnitt wird von einer typografisch abgesetzten Vorschau eröffnet, die nicht nur die Zeit, sondern auch die ihr zugeordneten Beiträge abstractartig vorstellt: eine Einladung zur Lektüre generell, zugleich aber auch zur selektiven Lektüre.

Thematisiert werden Wissen und Wissenschaft, Wissensdiskurse und Wissenskulturen in ihren sozialen, politischen und kulturellen Kontexten, wobei jeweils das Verhältnis zu Macht, Mächten und Machtverteilung ausgelotet wird. Heterogene Forschungsansätze und Methoden kommen zum Einsatz, vielfältige Probleme und Darstellungsaspekte werden berücksichtigt.

Es ist unmöglich, in diesem Rahmen auf alle Beiträge einzugehen. Sie besitzen durchweg eine hohe Qualität und es erscheint beinahe ungerecht, einzelne herauszugreifen. Lediglich eine skizzenhafte Überschau sei versucht.

Fokussiert werden alte und neue Wissensmodelle und Wissensideale: Hans-Jürgen Goertz spürt die (Um-)Brüche zwischen Glauben und Wissen, zwischen sakralem und profanem Wissen in der Reformationszeit auf. Eberhard Knobloch diskutiert den Begriff der 'copernicanischen Wende' im Spannungsfeld von Astronomie, Mathematik und Kosmologie. Wolfgang Behringer lotet die Beziehung von Irrationalismus und Rationalismus einerseits, von Naturwissenschaft und Religion andererseits am Beispiel der Hexendebatten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts aus. Ulrich Troitzsch geht dem zeitgenössischen Verhältnis von wissenschaftlicher Theorie und Praxis nach, das als zunehmende Annäherung beschreibbar ist. Den Theorie-Praxis-Konflikt verhandelt auch Wolfhard Weber, der die großen technischen Errungenschaften und die Institutionalisierung des technischen Wissens im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert darstellt.

Weitere Schwerpunktthemen sind Methoden und Instrumente des Erwerbs und der Produktion von Wissen. Klaus Fischer behandelt die so genannte 'wissenschaftliche Revolution' (etwa 1580-1660) und arbeitet Experiment und Messung als Kategorien der neuen Erfahrungswissenschaften heraus; Gudrun Wolfschmidt beschreibt die dafür notwendigen Messgeräte am Beispiel der ersten Sternwarten.

Macht des Wissens kann nur entstehen, wenn sich erfolgreiche Formen der Wissensrepräsentation, -speicherung und -verbreitung etablieren. Eine differenzierte Darstellung der Einführung des Buchdrucks bietet Wolfgang E. J. Weber, der auch die Abhängigkeit des Wissens von seiner medialen Form problematisiert. Die entscheidende Bedeutung von öffentlichen Bibliotheken und enzyklopädischen Großprojekten für die Wissensspeicherung und -verbreitung im 17. Jahrhundert weisen Uwe Jochum und Ulrich Johannes Schneider/Helmut Zedelmeier nach. Eine besondere Konstellation von Wissen und Macht thematisiert Sina Rauschenbach am Ideal des gelehrten Herrschers und des Herrscherwissens, wie es vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nicht nur in Fürstenspiegeln konzipiert wurde.

Institutionen, Medien und andere Aspekte der Wissensvermittlung sind die Themen zahlreicher Beiträge; Schule und Universität kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu. Hanspeter Marti gibt einen Überblick über akademischen Unterricht und akademisches Wissen im 17. und 18. Jahrhundert; Martin Gierl diskutiert die zeitgenössische akademische Wissensvermittlung am Beispiel von Disputation, gelehrter Korrespondenz und wissenschaftlichem Journal. Die aufklärerische Intention der Popularisierung gelehrten Wissens in den Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts stellt Silvia Serena Tschopp dar; das Thema Alphabetisierung bearbeitet Ernst Hinrichs, dessen besonderes Interesse der Volksschule und der Lehrerausbildung gilt. Holger Böning schließlich diskutiert zahlreiche Medien und Einrichtungen der Wissensvermittlung, die im 18. Jahrhundert dem Ziel der Volksaufklärung dienten.

Wissen und Wissenschaft hängen unauflöslich zusammen. Macht des Wissens bedeutet auch Macht neu entstehender Wissenschaften, wissenschaftlicher Disziplinen und damit verbundener Berufsbilder. Richard van Dülmen profiliert den Alchemisten, der oft als Konkurrent des Arztes auftritt, als Heilkundigen, Naturforscher und Naturphilosophen, bei dem sich die Utopie einer Welterneuerung durch Wissenschaft finden lässt. Um seinen 'professionellen' Gegenpart, um die Herausbildung des gelehrten Arztes und die Etablierung machtvoller medizinischer Lehrmeinungen im 16. Jahrhundert kreist der Beitrag von Michael Stolberg. Bettina Wahrig geht der Position des Arztes zwischen Macht und Wissenschaft, seiner institutionellen Organisation und machtbewussten Inszenierung im Zeitraum 1750-1850 nach. Ein differenziertes Bild des frühneuzeitlichen Architekten jenseits von Handwerk und Ingenieurskunst zeichnet Meinrad von Engelberg. Stefan Müller-Wille skizziert die Entstehung der modernen Biologie, Hans-Jürgen Lüsebrink die Entstehung von Disziplinen wie Anthropologie und Ethnologie.

Der Band wird durch eine Auswahlbibliografie und ein Autorenverzeichnis sowie ein Personenregister und ein Ortsregister abgeschlossen; letzteres bietet sich wegen des auch geografisch ausgedehnten Untersuchungsfeldes an.

Zuletzt bleiben Äußerlichkeiten zu erwähnen: Der knapp 750 Seiten umfassende, opulent bebilderte Band besticht durch angenehmes Layout und Schriftbild. So wird die Kulturgeschichte des Wissens nicht nur zum intellektuellen, sondern auch zum optischen Vergnügen.

Titelbild

Sina Rauschenbach / Richard van Dülmen (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft.
Böhlau Verlag, Köln 2004.
742 Seiten, 64,90 EUR.
ISBN-10: 3412133035

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