Triumph eines geschichtlichen Phantoms

Schillers "Wilhelm Tell" und seine Funktion im seelischen Haushalt einer Nation

Von Peter von MattRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter von Matt

Die Woche hat Europa verändert. Am 17. März 1804 ging in Weimar Schillers "Wilhelm Tell" zum ersten Mal über die Bühne. Vier Tage später wurde in Paris der Code Napoléon veröffentlicht. Die Gleichzeitigkeit hat ihre Logik. "Wilhelm Tell" inszenierte die Menschenrechte als Sprachoper und Bühnenspektakel. Der Code Napoléon übersetzte sie erstmals in ein einheitliches Gesetzbuch. Das wuchernde Chaos der französischen und europäischen Gesetzgebung begann sich durch diesen "Code civil" in eine klare Ordnung zu verwandeln. Damit war ein Mass gesetzt. Bis heute ist die Gesetzgebung auf dem Kontinent von ihm geprägt. Als 1907 das Schweizerische Zivilgesetzbuch vom Parlament angenommen wurde, unter Namensaufruf, war dies für das Bewusstsein der Eidgenossenschaft ein so feierlicher Akt wie einst die Verfassung von 1848. Dahinter stand, als bestimmendes Modell, der Code Napoléon.

Schillers "Tell" und der Code Napoléon waren europäische Ereignisse. Auch stilistisch sind sie "Empire", das heisst in eine Sprache gefasst, die das römische Vorbild nie verleugnet. Der Wille zur antiken Lapidarität wirkt in beiden Werken. Valéry hat den Code Napoléon zu den Spitzentexten der französischen Literatur gezählt. Stendhal hat täglich darin gelesen, um den Ton im Ohr zu behalten. Hinter Schillers Sentenzen, über die sich heute jeder Theaterkritiker reflexhaft lustig macht, steht das Vertrauen, dass die geformte Sprache die Wahrheit unzweideutig transportieren könne und dass die Arbeit an der Form auch Arbeit an der Wahrheit selber sei. Wer das komisch findet, schreibe doch mal einen Satz, der zum geflügelten Wort wird.

Die Figur des Tyrannentöters Tell war eine Ikone der revolutionären Bewegungen in Europa, lange bevor Schiller den Plan zu seinem Stück fasste. Sie gehörte auch zum Bilderarsenal des revolutionären Paris. Im Klub der Jakobiner stand eine Tell-Büste. Was wir heute als exemplarischen Durchbruch der modernen Geschichtsforschung in der Schweiz feiern, die Liquidierung Tells als historischer Wirklichkeit durch die quellenkritische Arbeit von Joseph Eutych Kopp um 1830, war nicht nur den fortschrittlichen Wissenschaftlern willkommen, sondern auch den rückschrittlichen Politikern. Den Konservativen der Metternich-Zeit starb der historische Tell sehr gelegen. 1835 schrieb der Fürst Lichnowsky aus Wien an Kopp: "Also ist doch endlich ein Schweizer aufgetreten, der dem Hause Habsburg Gerechtigkeit widerfahren lässt und Tschudi's und seines pittoresken Nachschreibers Parteywuth aufdeckt!"

"Dänisches Mährgen"

Es war allerdings nicht der Luzerner Kopp, der als Erster die Axt an die Wurzel der patriotischen Legende legte und der Schweiz einen ausländischen Zimmermann ersparte. Schon 1760 hatte der Berner Pfarrer Uriel Freudenberger eine anonyme Schrift herausgegeben: "Wilhelm Tell, ein dänisches Mährgen". Darin zeigte er, dass die Apfelschussgeschichte mitsamt dem zweiten Pfeil im Köcher hundert Jahre vor dem Rütlischwur bereits vom dänischen Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus in elegantem Latein erzählt worden war. Die Regierung von Uri liess das Büchlein durch den Henker öffentlich verbrennen. Ein Stück Schweizer Wissenschaftsgeschichte auch dies.

Für die helleren Köpfe war die Frage der historischen Tatsächlichkeit also schon im 18. Jahrhundert klar. Auch Schiller sprach ganz selbstverständlich von einem Märchen. Dennoch hat sein Stück den "Schützen und Befreier" in Köpfen und Herzen befestigt wie nichts anderes und dessen historische Realität für das spontane Empfinden bestätigt. Man glaubt bekanntlich nur, was man auch glauben will, und wahr, ganz und gar wahr, kann nur sein, was auch wahr sein soll. Für die politische Schweiz war die Befreiungstradition so lebensnotwendig wie die Krippe von Bethlehem für das Christentum. Der politische Wille der Schweiz hielt den Tell am Leben. Dieser politische Wille verlangte, dass die Geschichte wahr sei, und also war sie es. Die unbestreitbare Wirklichkeit Tells ist seine Funktion im seelischen Haushalt der Nation.

Das Wunder der Form

Das hat seine komischen Züge. Mit dem Nachweis, er sei ein geschichtliches Phantom, begann Tells strahlendster Triumphzug. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens musste er nun mit ganz anderer Gewalt gewollt werden, und zweitens war mit Schillers Stück die ganze, zum Teil widersprüchliche Tradition in eine zwingende Form gebracht. Die Bildtradition hinkte weit hinterher. Ikonographisch fand Tell seine gültige Erscheinung erst mit Kisslings Altdorfer Denkmal und Hodlers fast gleichzeitigem Bild aus den 1890er Jahren. Seither ist er der Bergler im Hirthemd, mit Kniehosen und Holzschuhen. Schiller selbst hatte ihn sich noch wie einen heutigen Schweizergardisten gedacht. Er forderte nachdrücklich "das mittelalterliche Costüme" und dabei insbesondere "die schweizerischen weiten Pumphosen".

Das Wunder ist die Form. Wer nicht imstande ist, durch die patriotischen Kuriositäten des Tell- Kultes hindurch die künstlerische Leistung Schillers zu sehen, hat sich als Kritiker schon desavouiert. Auch die Wirkung wäre ohne die unerhörte ästhetische Setzung nicht eingetreten. Kleist - immerhin! - wollte mit der "Hermannsschlacht" der deutschen Bühne ebenfalls einen Nationalhelden geben, vier Jahre nach dem "Tell". Das Stück wurde zu Lebzeiten des Autors weder gedruckt noch aufgeführt, und hätte nicht Claus Peymann 1984 daraus eine Theatersensation gemacht, man würde es heute noch für untauglich halten.

Das Wunder ist die Form. Obwohl bereits von der Todeskrankheit gezeichnet, schafft Schiller mit dem "Tell" die grossartigste szenische Komposition der deutschen Literatur. Wie er die einzelnen Handlungsstränge trennt und verflicht, sie frei laufen lässt und wieder zusammenführt, das hat keiner neben und nach ihm je erreicht. Nur bei Shakespeare gibt es das, aber auf einer leeren Bühne, während Schiller mit Maschinen und Kulissen im grössten Stil operiert und auch dies koordinieren muss. Die Verschwörungsgeschichte, gipfelnd im weltlichen Hochamt der Rütliszene; die Tell-Handlung mit Apfelschuss, Tyrannenmord und Parricida-Begegnung; die Liebesgeschichte zwischen Rudenz und Berta, wo dem europäischen Adel mit dem Zaunpfahl gezeigt wird, wie man sich freiwillig seiner Privilegien begibt - das ruht alles in einer schwebenden Balance, als machte es sich mit der linken Hand. Nur die Briefe aus der Entstehungsgeschichte belegen Schillers märterliche Mühe Tag für Tag.

Dabei hat sogar dies seine komische Seite. Der künstlerische Rang machte das Stück zum unbestrittenen Nationaldrama. Aber Schillers Umgang mit den Überlieferungen war für die Schweiz nicht nur angenehm. Tell ist bei ihm auf dem Rütli nicht dabei. Er kümmert sich keinen Deut um das politische Hochamt. Dabei war er schon im ersten überlieferten Tell-Stück, dem Urner Tellenspiel um 1511, die Seele der Verschwörung, und noch im 20. Jahrhundert reden Volkssagen von den "drei Tellen" auf dem Rütli. Die populäre Rezeption des Schiller-Stücks musste also, gegen den Wortlaut des Textes, Rütli, Apfelschuss und Hohle Gasse wieder zu einer Einheit machen. Und sie musste überdies Berta und Rudenz, an denen wenig wacker Eidgenössisches zu erkennen war, diskret aus dem patriotischen Personal verabschieden. Von der Bühne war das seltsame Liebespaar zwar nicht zu vertreiben; da hatte Schiller die Handlungen zu raffiniert verknüpft. Aber man konnte die beiden wenigstens von der vaterländischen Bildwelt und Rhetorik fernhalten. Das Gleiche gilt für die Gestalt des Parricida, die für Schiller von eminenter Bedeutung war. Sie liess sich ohne Mühe aus dem Textbuch streichen, was man bald auch sehr gerne tat.

Die Verarbeitung des Stücks im Gefühlshaushalt der Nation lief also auf tendenziöse Vereinfachungen hinaus. Dadurch zerstörte man wesentliche Teile seiner intellektuellen Substanz. Schiller hatte die Diskussion über das Recht der Unterdrückten zu Gewalt und Attentat - die Aktualität des Themas ist weiterhin gegeben - tief in die Gesamtanlage des Werks eingesenkt und argumentativ umsichtig entwickelt.

Die populäre Rezeption hingegen hielt es mit dem alten Urner Tellenspiel: "Tyrannen und ein Hund, der tobt, / Wer die erschlägt, der wird gelobt." Was Schiller, das Trauma des guillotinierten Louis XVI. im Nacken, als schwierige Frage aufrollte, was er über das szenische Bild und über die scharfe Reflexion gleichermassen zu beantworten suchte, das wurde auf einen pathetischen Widerstandsgestus reduziert. Ebenso eingeebnet wurden die Widersprüche zwischen Tells vorpolitischem Einzelgängertum und der Disziplinierung des Einzelwillens im demokratischen Beschluss auf dem Rütli.

Vereinfachungen

Es gehört zu den vielen Seltsamkeiten um dieses Werk, dass die Vereinfachungen der populären Rezeption auch von der Kritik, der Theaterregie und der literarischen Kollegenschaft vielfach übernommen und gegen das Original ausgespielt wurden. Kein anderes Stück wurde so oft parodiert und verdümmlicht. Ihm gegenüber regredieren auch heute noch erwachsene, intelligente, künstlerisch erfahrene Leute zu kichernden Gymnasiasten, die sich auf dem Niveau von Maturazeitungen bewegen und darüber begeistert sind. Die berechtigte Kritik an der innenpolitischen Funktionalisierung des Stücks hat die gewaltsamen Vereinfachungen, statt sie der Analyse zu unterziehen, weitergeführt.

Als "Wilhelm Tell" erstmals gegeben wurde, stand es schlecht mit der alten Freiheit der Schweiz. Das Land war ein Protektorat Napoleons. Diesem verdankte es allerdings auch das Ende der Patrizierherrschaft und, seit einem Jahr, eine vernünftige Verfassung. Dafür mussten wieder Soldaten geliefert werden. Der Gedanke, Napoleon mit Gessler gleichzusetzen, lag nahe. Als sich die Stadt Madrid wenig später gegen die französischen Besetzer erhob, malte Goya den Aufstand und den Gegenterror. Man muss Schillers Stück neben diese Bilder stellen und neben den Code Napoléon, um zu erkennen, wie viel von der Substanz und den Widersprüchen der Epoche darin verkörpert ist.

Der Artikel erschien zuerst am 3. Januar 2004 in der Neuen Zürcher Zeitung. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.