Bilde, Künstler, und rede darüber!
Eine umfassende Darstellung von Wassily Kandinskys Kunsttheorie
Von Rainer Zuch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBraucht man heutzutage noch eine dickleibige Publikation zu Kandinsky? Kann man aus einem der bekanntesten und einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts, der bereits kubikmeterweise Literatur nach sich zog, noch etwas herausholen?
Man kann, wie Reinhard Zimmermanns umfangreiche Analyse und Dokumentation der Kunsttheorie Kandinskys zeigt. In der Einleitung beklagt er zu Recht, dass es zwar zahllose Analysen von Einzelaspekten gebe sowie eine ganze Reihe von Untersuchungen, denen man ihr jeweiliges spezifisches Erkenntnisinteresse nur allzu deutlich anmerke, eine systematische und möglichst unvoreingenommene Darstellung seiner Kunsttheorie aber bislang fehle. Diese Lücke will Zimmermann schließen helfen, und 1200 Seiten und zwei Bände lang kann man sich davon überzeugen, dass ihm dies rundum gelungen ist.
Das ist vor allem der sachlichen Zurückhaltung und dem klaren analytischen Blick zu verdanken, den Zimmermann in der Einleitung fordert und im Folgenden auch an den Tag legt. Es gereicht ihm eindeutig zum Vorteil, dass er nichts Spezielles beweisen will und deshalb nicht in Versuchung gerät, das hochkomplexe Gedankengebäude Kandinskys auf eine bestimmte Fragestellung zurechtstutzen zu wollen.
Zimmermann kann Kandinskys Theoriegeflecht in seiner Vielschichtigkeit und ohne Vernachlässigung der inneren Widersprüche erfassen und darlegen, weil er es in eine Art methodisches Koordinatensystem einspannt. Er verortet ihn auf drei Achsen mit je zwei Polen: Individuum und Umwelt, spezifische und nachweisbare Bezüge auf anderes Gedankengut und die Verankerung in einem nur allgemein fassbaren geistesgeschichtlichen Umfeld, sowie historisch "horizontale" (zeitgenössische Rezeptionen) und "vertikale" Bezüge (Teilhabe an geistesgeschichtlichen Traditionen). Somit präsentiert der Autor Kandinskys Theorien als ein komplexes Feld, statt es auf bestimmte Punkte oder scheinbar klare Linien zu reduzieren.
Zimmermann wertet dafür eine Unzahl von Quellen aus, wobei er sich nicht auf die zugänglichen und schon umfassend rezipierten Schriften beschränkt (die bekanntesten dürften sein "Über das Geistige in der Kunst", 1912, die Texte aus dem Almanach "Der Blaue Reiter", 1912 und "Punkt und Linie zur Fläche", 1926), sondern zahlreiche nur schwer zugängliche russische Quellen sowie nur partiell publizierte Briefe mit einbezieht. Als zusätzlicher Lohn springt für den geneigten Leser eine der ausführlichsten heute greifbaren Kandinsky-Bibliografien heraus.
Zimmermann versteht sein Opus als Arbeitsbuch und lexikalisches Kompendium, welches die Lektüre der Originaltexte nicht ersetzen kann und will. Der Autor ist sich dabei durchaus bewusst, dass jede Systematisierung die Gefahren einschränkender Sinnfestlegungen und der Vereindeutigung birgt.
Das Buch gliedert sich in zwei Bände. Der erste Band enthält eine umfang- und kenntnisreiche Darstellung der Kunsttheorie Kandinskys. Der zweite besteht aus einer opulenten Dokumentation der kunsttheoretischen Äußerungen des Künstlers. Der erste Band wiederum ist in fünf Teile gegliedert. Der erste Teil, darin "Die Künstlertheorie als Quelle und Untersuchungsgegenstand", reflektiert die Problematik des dialektischen Selbstverständnisses Kandinskys als bildender Künstler und Theoretiker. In seinen Texten manifestiert sich dies in Wechselwirkungen und Widersprüchen von künstlerischer Theorie und bildnerischer Praxis. Zimmermann schließt daran eine umfassendere Analyse des bei den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts verbreiteten Phänomens des Künstler-Theoretikers an.
In den weiteren Teilen, "Evolution", "Der innere Wert", "Dematerialisation", "Sprache" und einigen abschließenden Exkursen, analysiert und systematisiert Zimmermann die theoretischen Leitlinien Kandinskys und ihrer Quellen. Die genannten Titel markieren für ihn Begriffe, die sich in Kandinskys Theoriengebäude nicht weiter reduzieren lassen und denen alle anderen Begriffe und Rezeptionen zugeordnet werden können.
Der zweite Band ist vielleicht der wertvollste Teil der Arbeit. In acht Kapiteln mit zahlreichen Unterkapiteln erstellt Zimmermann gleichsam ein kommentiertes Lexikon von Äußerungen Kandinskys. Die Kapitel sind im Einzelnen: "Kunst und Künstlertum allgemein", "Form und Inhalt", "Sprache", "Äußeres und Inneres", "Materie und Geist", "Energie, Bewegung, Leben", "Farbe, Linie, Komposition", "Evolution" und "Abstraktion/Realistik". Um angesichts der gewaltigen Materialfülle das Kompendium benutzbar zu gestalten, entwickelt er mehrere hilfreiche Strategien: Jedes der 72 Unterkapitel wird von zusammenfassenden Thesen eingeleitet, die Textstellen selbst sind chronologisch geordnet, so dass ein gleichsam lexikografischer Zugriff ermöglicht und das Buch für Forschungs- und Studienzwecke in hohem Maße benutzbar wird. Die einleitenden Thesen erhellen zudem die detaillierte Systematisierung. Sehr nützlich sind auch inhaltliche Querverweise auf andere Teilkapitel, wodurch einige innere Zusammenhänge verdeutlicht werden.
Wer mit Kandinsky ein wenig vertraut ist, mag darüber staunen, dass in der Systematik weder die Abstraktion noch die viel zitierten Bezüge auf Okkultismus und Theosophie eine große Rolle spielen. Dennoch oder gerade deswegen sind sie außerordentlich präsent, und man kann Zimmermanns analytisches Vorgehen an diesen Beispielen prägnant herausarbeiten. Kandinskys Konzept der Abstraktion ist nämlich keineswegs eindeutig und mehrfachen Wandlungen unterworfen, so dass es unter wechselnden Begriffen subsumiert werden kann. Die Abstraktion fungiert sozusagen als ein Grundprinzip, welches in verschiedenen Zusammenhängen und in unterschiedlicher Gestalt immer wieder auftritt.
Bezüglich des Okkultismus kann Zimmermann klarstellen, dass dieser - und hier vor allem Theosophie und Anthroposophie - für Kandinsky zwar zeitweilig eine außerordentlich anregende Quelle war, die jedoch künstlerischen, kunsttheoretischen und kunstsemiotischen Fragestellungen untergeordnet war. Seine Frage nach dem Transzendenten und Geistigen in der Kunst galt nicht der Schaffung einer esoterischen Konzeption von Kunst, sondern ging von der Kunst selbst aus: Dachten sich die Theosophen Farben und Formen als Äußerungen metaphysischer Wesenheiten, deren Materialisierung (etwa als Bild) lediglich unvollkommene mimetische Abbilder produzieren könne, ist es für Kandinsky die Kunst und die künstlerische Tätigkeit selbst, die zum "Großen Geistigen" führe.
Reinhard Zimmermann hat hier mit der Druckfassung seiner Habilitationsschrift eine Arbeit vorgelegt, die für die weitere Kandinsky-Forschung zu einem Standardwerk werden dürfte. Es ist ihm gelungen, Kandinskys Kunsttheorie in einer noch nicht da gewesenen Breite darzustellen und sie zugleich in ihren zeitgenössischen und geistesgeschichtlichen Bezügen zu verorten.