"Der Gedankensprung als geistige Fortbewegungsweise"

Zu Richard Anders' "Marihuana Hypnagogica"

Von Stephan ReschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Resch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Gedankensprung als geistige Fortbewegungsweise" - so hat einmal Peter Rühmkorf recht passend seine Denkvorgänge unter der Einwirkung von Cannabis beschrieben. Wie dies konkret aussehen kann, ist in Richard Anders' Buch "Marihuana Hypnagogica" nachzulesen. Anders hat mit Hilfe von Marihuana hypnagoge Halluzinationen provoziert, die ihn bereits seit seiner Kindheit heimsuchten und sich seitdem als roter Faden durch sein dichterisches Werk ziehen.

Anders' Protokolle sind nach der surrealistischen Schreibmethode der écriture automatique erstellt - die vom Autor erfahrenen Visionen wurden auf einem Diktiergerät bei ihrer Entstehung festgehalten und später - unverändert - auf Papier übertragen. Anders nennt diese Bilder "fremd, als kämen sie aus einer anderen Welt, während sie doch nur durch Übereinanderkopieren verfremdete Erinnerungen sind. Man könnte auch moderne Begriffe wie Collage und Überblendung nennen." Ein solches Unterfangen, gleichzeitig als Protagonist der eigenen Traumwelt und als deren objektiver Beobachter zu fungieren, ist nicht unproblematisch. Das Resultat ist eine höchst private, aber dennoch faszinierende Reise in das Unterbewusstsein des Autors, die keinen Anfang und kein Ende kennt, die sich von assoziativen Gedankenverknüpfungen nährt und scheinbar willkürlich ihre als Stichwort gelieferten Visionen aufgreift und verwirft. Ganz nach dem Rimbaud'schen Motto "Ich ist ein Anderer" überlässt er sich seinen traumähnlichen Eindrücken und liefert Schnappschüsse aus einer überfließenden Symbolwelt, die eben noch von Realitätsfetzen durchsetzt, im nächsten Moment schon wieder in der Subjektivität versunken ist: "Leute knallbunt wie Wachspuppen / kommen mir entgegen / Ich könnte sie für tot halten / aber sie sind lebendig behendig / werfen wilde Blicke / Gleichzeitig kann man sie in Brusthöhe öffnen / Meistens öffnen sie sich mit beiden Händen selber / und man kann einen Blick in ihr Inneres tun / sieht Gewölbe und Wendeltreppen." Nichts in Anders' Visionswelt ist permanent, die Transformationsfähigkeit von Dingen und Menschen ist ein entscheidendes Element seiner Halluzinationen.

In seinem Buch "Verscherzte Trümpfe" hat Anders darauf hingewiesen, dass der rationale Diskurs dem irrationalen Gestus nicht beikäme. Mit einem rationalen Ansatz wird man auch den Protokollen in "Marihuana Hypnagogica" kaum gerecht werden, denn Anders hypnagoge Visionen sind "suspiria de profundis". Erst die Gesamtheit der Motive und die Autobiografie des Autors verdichten die zahllosen, scheinbar zusammenhangslosen Gedankengänge zu einem tiefenpsychologischen Muster, welches Deutungen erlauben könnte. Immer wieder verlässt der Erzähler seinen menschlichen Körper, um zu fliegen, zu tauchen, schwerelos zu schweben oder - auffallend oft - zu fallen. Ständig werden, durch Tore und Tunnel, andere Welten betreten, Metamorphosen durchziehen jedes Protokoll. Der Käfig, das Theater, Spiegel und Maskenhaftigkeit sind immer wiederkehrende Motive, die sich, so oder ähnlich, auch schon in den Gedanken des jungen, von der Mutter zur Abhängigkeit erzogenen und vom Vater kaum beachteten Richard Anders finden: "Ich riss mich los, verwarf die Gedanken an Bücher, Kameraden, verwarf die krampfhafte Sucht, jemandem zu gefallen, ließ mich den Hügel hinabrollen, willenlos wie ein Toter, wie die Haut einer Schlange, aus der ein leichtes, seidiges Wesen entschlüpft" ("Ein Lieblingssohn"). Wer die Lebensgeschichte des Autors kennt, kann in die Gedankenlabyrinthe der Protokolle ein wenig Ordnung bringen, mehr als Annäherungen (im Sinne Ernst Jüngers) werden aber auch damit kaum möglich sein, denn gerade das Aufbrechen gewohnter Sprach- und Denkmuster konstituiert ja das befreiende Element der surrealistischen Schreibweise.

Macht die Tatsache, dass "Marihuana Hypnagogica" unter Einwirkung eines künstlichen Stimulans entstanden ist, das Werk zur Drogenliteratur? Der genüssliche Selbstbezug des Berauschten, die scheinbare Willkür der Handlungsentwicklung und die erlebten Synästhesien sind zweifellos charakteristisch für Literatur, die den künstlichen Paradiesen entsprungen ist. Bei Anders jedoch scheint ein Sonderfall vorzuliegen, denn schon als Kind bewegte er sich in den Parallelwelten von Realität und Traum. Als Opfer einer als Dressur empfundenen Erziehung sah er die im Dämmerzustand eintretenden Visionen erst als Fluch, dann aber als befreiende Möglichkeit, daraus künstlerische Inspiration zu schöpfen. Seine Experimente mit halluzinogenen Drogen hatten dabei wohl eher eine katalytische Wirkung. Sie ließen den Fahrstuhl seiner Erinnerungen in die Tiefe schnellen, das dort Vorgefundene jedoch offenbarte sich als Palimpsest aus jenen Ängsten, Wunschträumen und Erfahrungen, die über die Jahre vergessen oder verdrängt wurden, nie aber vollkommen erloschen sind. An den eigentlichen Halluzinationen hat die Droge, wie Anders selbst bestätigt, wenig geändert.

Viel Detailliebe ist in die Gestaltung des Bandes eingegangen. Ähnlich wie bei Cocteau und Michaux geben die surrealistischen Collagen des Autors einen visuellen Eindruck jener in den Protokollen beschriebenen Visionswelten, denen Worte immer nur bedingt gerecht werden können. Die drucktechnische Hervorhebung des hypnagogen bzw. berauschten Zustands mithilfe grüner Schattierungen des Textes erinnert an filmische Überblendungstechniken und ist ein origineller Versuch, das Problem der verbalen Darstellung des Imaginierten zu verdeutlichen.

Titelbild

Richard Anders: Marihuana Hypnagogica. Protokolle.
Galrev Druck- u. Verlagsgesellschaft, Berlin 2002.
147 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3933149304

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