Integration mit Folgen
Die NS-Funktionselite in der Bundesrepublik
Von Kai Köhler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Kapitulation des Deutschen Reiches im Mai 1945 markierte keine Niederlage wie viele andere auch. Ausmaß und Ziel der deutschen Verbrechen überschritten das im Krieg Übliche um kaum Vorstellbares; und unübersehbar war, dass nicht nur ein kleiner Zirkel fanatischer Nazis diese Verbrechen geplant und durchgeführt hatte. Funktionseliten aus Wirtschaft und Militär, aus Beamtenschaft, Medizin und Kultur hatten sich an Angriffskrieg und Massenmord beteiligt.
Die Sieger standen damit 1945 vor der Frage, wie mit den Schuldigen umzugehen sei. Erste Antworten waren Internierung und Entnazifizierung. Prozesse, solange sie von den Alliierten geführt wurden, führten zu zahlreichen Urteilen, und selbst wer in Freiheit blieb, musste doch häufig einige Jahre um seine Karriere bangen. Spätestens mit der Übertragung der Justizgewalt auf die 1949 neugegründeten beiden deutschen Staaten begann jedoch eine Zeit der Milde. In der DDR hatten die Regierenden eine klare Vorstellung davon, wie schmal ihre Machtbasis war. So suchten sie, gerade im Bereich der Technik, in dem wegen zahlreicher Fluchten in den Westen Fachkräfte fehlten, die Täter von gestern zu integrieren; die zentralen staatlichen Machtinstrumente Polizei und Justiz hielten sie hingegen von Nazis weitgehend frei. In der Bundesrepublik, der vorliegender Band gewidmet ist, hatten die "Ehemaligen" weitaus größere Karrierechancen.
Das ist exemplarisch an fünf Bereichen untersucht worden. Die Autoren konzentrieren sich auf die Lebensläufe belasteter Personen, ohne dass es ihnen um die Skandalisierung dessen ginge, was durch bloße Nennung schon Skandal genug ist. Stets verweisen sie auf historische Einschnitte, die die "Karrieren im Zwielicht" behinderten oder beförderten, auf Bemühungen, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen, und auf die lange Zeit erfolgreichen Versuche, eben dies zu verhindern. So entsteht nebenbei eine Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik.
Dabei gestaltete sich die Entwicklung in einzelnen Sektoren durchaus unterschiedlich. So fehlt ein Kapitel zum Bereich der Politik deshalb, weil, wie der für den ganzen Band verantwortlich zeichnende Norbert Frei in seiner Schlussbemerkung hervorhebt, die politische Führungsschicht des "Dritten Reichs" keine zweite Chance bekam. Niemandem aus dieser Gruppe gelang ein Neuanfang in der Politik. Das trifft für die weiteren fünf untersuchten Gebiete nicht zu. Tobias Freimüller kann nachzeichnen, wie auch durch Menschenversuche und Euthanasiemorde belastete Ärzte bald wieder praktizieren konnten und in kaum einem Fall eine Verurteilung gelang. Die organisierte Ärzteschaft, die, solange es nur ging, die Kollegen deckte, und Ärztekammern, die bis in die achtziger Jahre gegen Kritiker vorgingen, trugen das ihre dazu bei.
Für die Unternehmer, die Tim Schanetzky untersucht, gilt wie für die Mediziner: Sie waren nach 1945 unverzichtbar, wollte man sich nicht gegen den Kapitalismus überhaupt wenden. Gleichwohl strengten die kommunistischer Umtriebe gewiss unverdächtigen Westalliierten eine Reihe von Prozessen gegen Wirtschaftsverantwortliche an, die sich als Rüstungsindustrielle oder durch die Ausbeutung von Zwangsarbeitern an Verbrechen beteiligt hatten. Zwar kam es zu Verurteilungen, doch profitierten die Schuldigen in der Anfangsphase der Bundesrepublik von allzu großzügigen Amnestien. Die Wirtschaftselite der frühen BRD war dann auch gekennzeichnet durch ein Nebeneinander von Personen, die bereits vor 1945 vom Regime profitiert hatten, wie Josef Neckermann oder Hermann Josef Abs, und jüngeren, gleichwohl vom "Dritten Reich" geprägten Managern, die auf nach 1945 frei gewordene Posten nachgerückt waren. Exemplarisch für diese Gruppe steht der 1915 geborene Hanns Martin Schleyer, den seine Karriere von der SS bis zur Präsidentschaft des BDI und BDA führte, und der gerade darum von der RAF, die ihn als Symbol solcher Verknüpfung von Faschismus und modernem Kapitalismus sah, entführt und getötet wurde.
Kein Land ohne Mediziner, keine Marktwirtschaft ohne Unternehmer; doch ist ein Staat ohne Armee denkbar. Bis 1956 war die Bundesrepublik ein solcher Staat. Für die von Jens Scholten vorgestellte militärische Elite bedeutete die Niederlage also eine weitaus größere Ungewissheit. Scholten hatte sich mit drei Gruppen zu beschäftigen: erstens mit jener obersten und ältesten Schicht der Nazi-Generalität, die, wenn nicht durch politische Belastung, so doch durch Alter von einer Wiederverwendung ausgeschlossen war. Viele dieser Offiziere blieben unbehelligt, und wen nicht, wie die Oberkommandeure von Heer und Wehrmacht, Jodl und Keitel, die Alliierten rechtzeitig zum Tode brachten, der wurde zu Beginn der fünfziger Jahre begnadigt. Ein Kriegsverbrecher wie Erich von Manstein konnte dann mit seinen Erinnerungen zum Star auf dem deutschen Buchmarkt aufsteigen. In die Praxis kehrten dagegen jene 1945 jüngeren Soldaten zurück, die sich am Aufbau der Bundeswehr beteiligen konnten. Offiziere wie Wolf Graf von Baudissin, die eine demokratische Armee wollten, blieben dabei mit ihrem Konzept der Inneren Führung gegenüber autoritären "Praktikern" lange im Hintertreffen; bei wechselnder politischer Unterstützung, nicht natürlich durch Franz-Josef Strauss (CSU), kaum durch Helmut Schmidt (SPD), doch entschiedener durch Kai-Uwe von Hassel (CDU). Der heftige Widerstand, auf den noch in den neunziger Jahren die Umbenennung von Kasernen stieß, deren Namen Kriegsverbrecher ehrten; die Prosteste gegen die Wehrmachtsausstellung, die nur benannte, was in seriöser militärgeschichtlicher Forschung seit Jahrzehnten Konsens ist: das zeigt, dem optimistischen Fazit Scholtens entgegen, dass die Verteidiger einer unguten Tradition immer noch stark sind.
Im Bereich der Presse, den Matthias Weiß untersucht, gab es durchaus einen personellen Bruch: Bis 1949 konnten die Alliierten mit ihrer Lizenzvergabe dafür sorgen konnten, dass nur unbelastete Personen eine Zeitung herausgeben durften. Wenn auch unterhalb dieser Leitungsebene sehr bald wieder viele Journalisten tätig wurden, die früher NS-Propaganda betrieben hatten, und von der Gründung der Bundesrepublik an viele neue Zeitungen wie die FAZ sich explizit auf Vorgängerorgane aus der Zeit vor der Kapitulation bezogen, so blieben die neuen Verleger doch eine Macht. Auch waren zahlreiche der Journalisten einsichtig oder wendig genug, um sich bis hin zum Linksliberalen zu entwickeln; während freilich andererseits "Ehemalige" in Blättern etwa des Neueigentümers Axel Springer ihr nur taktisch angepasstes Weltbild verbreiten konnten.
Weitaus prekärer war die Lage der Justiz. Marc von Miquel zeigt, wie schwer es 1945 war, überhaupt wenig belastete Richter zu finden, und wie im Westen darum, scheinbar pragmatisch, schon sehr früh die Täter wieder richten durften. Ebenso wie bei der Ärzteschaft funktionierte hier der Korpsgeist. Nachdem die Bestrafung von NS-Verbrechen in deutsche Zuständigkeit übergegangen war, fungierten die Juristen, wie Miquel pointiert und zutreffend formuliert, als "Richter in eigener Sache". Entsprechend großzügig waren die Urteile; statt bestraft zu werden, konnten die Schuldigen weiter Karriere machen. Erst in den sechziger Jahren wurden einige besonders fragwürdige Richter dazu gedrängt, ihre Ämter zugunsten einer luxuriösen Pension aufzugeben. Miquels Darstellung schließt etwas zu optimistisch mit dem erzwungenen Rücktritt Hans Filbingers, bis 1945 Marinerichter, vom Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten 1978. Filbinger beharrte darauf, dass das, was früher Recht gewesen sei, heute nicht Unrecht sein könne; und sein Rücktritt wirkt wie ein Scheitern dieser Parole. Doch noch 26 Jahre später wurde der hochgeehrte Greis von der CDU in die Bundesversammlung entsandt, die den neuen Bundespräsidenten zu wählen hatte - während ehemalige Zwangsarbeiter, sofern sie das Glück hatten, ein paar Jahrzehnte zu überleben, mit einem Almosen abgespeist werden, das unter einer Monatspension des Täters liegt. Die Karrieren der "Ehemaligen" fanden ein glückliches Ende.
Dass das Leben mancher Juristen wenigstens eingetrübt wurde, verdankt sich der DDR. Gewiss eigennützig, stellten die Kommunisten zuverlässige Dossiers zu belasteten Personen zusammen, die belegten, in welchem Maße braune Juristen im Westen in Rechtssprechung und Ministerialbürokratie bis hin zur Staatssekretärsebene Machtstellungen besetzt hielten. Kritische Westdeutsche, mit Unterstützung auch von Teilen der westlichen Auslandspresse, konnten sich dieses Materials bedienen und tatsächlich einzelne Erfolge erzielen: nicht nur (zu wenige) Karrieren behindern, sondern auch ein Bewusstsein dafür schaffen, in welchem Maße die Entnazifizierung gescheitert war. Miquel und, in seiner Zusammenfassung, Norbert Frei weisen zwar darauf hin, schreiben jedoch stets wie im gleichen Atemzug von Agitation oder Propaganda - als wäre das Eingeständnis peinlich, dass DDR-Politiker auch mal etwas Brauchbares taten.
In einem Punkt freilich simplifizierte die Darstellung der DDR tatsächlich: wo sie suggerierte, die Bundesrepublik sei in der Hand von Nazis. Von kommunistischer Seite war diese Wahrnehmung nahe liegend, zumal im Westen nach dem Verbot der KPD tatsächlich häufig dieselben Richter Kommunisten ins Gefängnis brachten, die auch schon bis 1945 Linke abgeurteilt hatten. Insgesamt aber waren die Täter anpassungsbereiter als es in dieser Optik erschien. Pragmatisch an der Macht orientiert, wurden sie eben Demokraten; in jenem eingeschränkten Sinne, in dem während der Restaurationsphase von Demokratie die Rede sein konnte, und immer vorausgesetzt, dass die kapitalistische Ordnung politische Wandlungen übersteht. Blendet man nur die Wertung von Verbrechen und Strafe aus, so ist dies ein Beispiel gelungener Integration. Norbert Frei entwickelt ganz am Ende seiner Zusammenfassung ein Generationsmodell: Die "Funktionseliten der Hitler-Zeit", der auf politischer Ebene die reaktivierte Generation der alten "Weimaraner" gegenüberstand und die auf der anderen Seite durch eine ",skeptische Generation' der entschlossenen Reformer" bedrängt wurden. Derart eingeklemmt sei eine Mehrheit "im Laufe der Zeit zu passablen Demokraten" geworden und eine Minderheit "zu wahrer Liberalität" herangewachsen.
Wahr daran ist, dass in der Politik das gesamtgesellschaftliche Ergebnis vor individueller Gerechtigkeit steht. Fraglich bleibt, ob die Täter wirklich so folgenlos integriert wurden. Die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht, die wegen marginaler Fehler neu konzipiert wurde, endete unentschieden: Neben den historischen Fakten, die sie zum ersten Mal einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht hat, steht die in vielen Diskussionen dokumentierte Bereitschaft von Besuchern, sich in die Gefühle der Täter als die wirklicher oder vermeintlicher Verwandter einzufühlen, also deren Perspektive einzunehmen. Kaum ins Gewicht dagegen fällt die Tatsache, dass Denkmäler mittlerweile bereitwillig gebaut werden (und bestehende in KZs am liebsten so manipuliert, dass sie sich auch gegen Kommunisten richten). Wo es um Geld geht, dienen Entschädigungsverhandlungen immer noch dazu, Überlebende mit Hinweis auf ihren ohnehin nahen Tod zur Annahme von Almosen zu zwingen und im Gegenzug Rechtssicherheit vor weiteren Forderungen zu erhalten. Im Konfliktfall haben sich der deutsche Staat und große Teile seiner Bevölkerung noch nicht vollständig von der Tradition gelöst, die durch die Nachkriegskarrieren der nazistischen Funktionselite markiert ist.
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