Schicksale light

Tahar Ben Jellouns Roman "Der letzte Freund" beginnt dramatisch, dann flaut die Spannung ab

Von Phillipp SaureRSS-Newsfeed neuer Artikel von Phillipp Saure

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von einem geheimnisvollen, unheilbringenden Brief handeln sie: Die Eingangssätze des Romans "Der letzte Freund" von Tahar Ben Jelloun, die zusammen eine Art Prolog bilden. Uns bleibt der Briefinhalt bis zum Schluss des Buches verborgen, doch Ali, der Empfänger und Erzähler, wird von ihm stark mitgenommen. Kurzatmig liefert er zunächst nicht mehr als einen Rapport der Äußerlichkeiten. Der Briefumschlag "Umweltpapier", Datum und Ort "schwer entzifferbar", innen "ein gelbliches Blatt". Ohne wahrhaben zu wollen, urteilt Ali schließlich so bestürzend wie rätselhaft: "Der Brief soll den Empfänger zerstören." Sein Absender ist nicht irgendjemand: "Die Unterschrift ist wirklich die meines Freundes Mamed. Da gibt es keinen Zweifel. Mamed, der letzte Freund."

Ein spannender Auftakt, doch leider bleibt das Folgende hinter ihm zurück. Der Telegrammstil, der das Atembenehmende des zerstörerischen Schriftstücks so gut ausdrückte, macht zwar keinem behäbigeren Duktus Platz. Die Sätze bleiben kurz, die Sprache sparsam. Aber während dieser Stil auf der ersten Seite ob der inhaltlichen Gedrängtheit Rasanz vermittelte, transportiert er bald vorwiegend Langweiliges oder Belangloses. Das Thema des Romans ist die Freundschaft zwischen Ali und Mamed, und zwar in ihrer Kindheit, Jugend und Erwachsenenzeit, in Straßen, Cafes und Straflagern, in Marokko und Schweden, in sexuellen, politischen und moralischen Nöten. Die beiden sind Schüler, Pubertierende, Studenten, Demonstranten, Ehemänner und Fremdgänger, berauscht und nüchtern, gesund und krank. Vor allem sind sie Freunde, "fürs Leben miteinander verbunden", ihre Freundschaft wird von anderen "als beispielhaft angesehen", sie ist "zu kostbar", "so schön" und "ein schönes Abenteuer".

Nur ist die Freundschaft in dem Maße wunderbar, dass sie dem Uneingeweihten, zumindest dem Rezenten, den geistigen Zugang zu ihr verwehrt. Sie wird häufig beschworen, aber die Beschwörungen stehen merkwürdig neben dem Geschehen. Jelloun scheint die Freundschaft nur angerissen, skizziert zu haben. Es ist, als würden jedem Absatz ein paar Sätze fehlen. Lediglich das Gerüst ist aufgerichtet, jetzt müsste der Raum mit Schilderungen und Dialogen gefüllt, müsste erzählt werden. Zwar gibt es eine Menge Lokalkolorit und eine Reihe deftiger Sexgeschichten- und geschichtchen. Die beiden sind viel zusammen, teilen Schlüsselerlebnisse, machen gute und schlechte Zeiten durch, die sie zusammenschweißen. Aber was den Kern dieser Freundschaft ausmacht, was bewirkt, dass Bekannte und Ehefrauen eifersüchtig und die beiden trotz allem ein Herz und eine Seele sind, entzieht sich dem Leser; gerade die häufigen Beteuerungen der Freundschaft lassen ihn sein Außen-Vor spüren.

Dabei thront der Erzähler keineswegs über dem Geschehen. Die erste Romanhälfte ist aus Mameds, die zweite aus Alis Perspektive geschrieben. (In einem kurzen dritten Teil kommt der gemeinsame Bekannte Ramon zu Wort, der vierte Teil gibt Mameds Brief wieder.) Dennoch will keine Nähe aufkommen, noch viel weniger wird man mitgerissen, wie es ganz zu Beginn scheinen wollte. Häufiger drängen sich Fragen auf und macht sich Irritation breit. Etwa als Mamed, Arzt geworden, nach Schweden zieht, um dort zu arbeiten. Die Freundschaft, berichtet Ali, "erlebte eine fünf Jahre währende Sonnenfinsternis." Nur wenige Seiten später ist diese Finsternis nicht mehr auszumachen: "Wenn Mamed mich anrief, um Neuigkeiten zu erfahren, redete er mit mir, als hätten wir uns erst am Vortag gesehen." Nach weiteren vier Seiten hat sich die Situation völlig umgekehrt: Durch die Trennung ist die Freundschaft nun plötzlich "wesentlicher und weniger alltäglich geworden". Entweder ist das eine Ungereimtheit, die der Text einer bis zur Unaufmerksamkeit reichenden Lässigkeit schuldet. Oder Feinheiten des Gedankens haben sich hier dem Rezensenten so verborgen, wie sich ihm das Können des schon längst mit Frankreichs wichtigstem Literaturpreis (dem Prix Goncourt) Ausgezeichneten in diesem Werk insgesamt nur wenig entdeckt hat.

Anderes ist eindeutig - banal. Von der Stadt Fes heißt es einmal, sie sei "die Wiege unserer Zivilisation, zumindest was die Städtekultur betrifft. In Fes haben unsere von Isabella der Katholischen aus Spanien ausgewiesenen jüdischen und muslimischen Vorväter Zuflucht gefunden. Dort wurde die erste erstklassige islamische Universität, die Karaouiyne, gegründet". Ohne Veranschaulichung klingen derartige Sätze hohl. Sicher könnten sie in einem Roman eine Funktion erfüllen, könnten sie gedacht sein als die ihren Sprecher bloßstellende Rede. Ein müder Reiseführer etwa wäre in dem Fall vorstellbar, der am Abend eines anstrengenden Tages zum zweiundzwanzigsten Mal sein Standardprogramm herunterspult. Denkbar auch ein oberflächlich gebildeter glühender Lokalpatriot. Doch solch eine Lesart trifft nicht zu. Die Phrasen von der "Wiege unserer Zivilisation" legt Jelloun im Gegenteil einem "feinsinnigen eleganten Mann" in den Mund. Von ihm, so der Erzähler - der in vielem mit dem Autor eins ist - habe er damals viele Bücher entliehen. Na dann.

Titelbild

Tahar Ben Jelloun: Der letzte Freund. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Christiane Kayser.
Berlin Verlag, Berlin 2004.
157 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3827005566

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