"Mit Bleimänteln auf den Kalvarienberg"

Frank-Rutger Hausmann hat ein Rudiment nationalsozialistischer Kulturpolitik ausgegraben: die Europäische Schriftsteller-Vereinigung in Weimar

Von Laura WilfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Wilfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Dichte, Dichter, tage nicht!", rief Hans Carossa einst. Doch als sein Reichspropagandaminister Goebbels einen Präsidenten für die Europäische Schriftsteller-Vereinigung (ESV) braucht, erkennt er in Carossa "zweifellos die bestgeeignete Persönlichkeit". "Ein Ablehnen kam nicht in Frage", so der erwählte Dichter-Arzt nach seinem Freispruch im Entnazifizierungsverfahren.

Die deutsche Eroberungsmaschinerie läuft noch auf Hochtouren, als im Oktober 1941 eine etwa dreißigköpfige Reisegruppe in Weimar eintrifft. Für diese Stadt kaum etwas Ungewöhnliches. Auch nicht, dass es sich um Schriftsteller handelt, die ein Stab von Offiziellen durch die Klassikerstadt geleitet. Solche Dichtertreffen finden seit 1938 regelmäßig statt. Nur ist man diesmal besonders präpariert: Zahlreiche Gäste aus dem Ausland sind angereist, einigen hat man zuvor in zwei Wochen und fünfzehn Stationen bedeutende Stätten deutscher Kultur und Lebensart vorgeführt, um sie nun mit einem ausgewählten Kreis deutscher Kollegen gemeinsam tagen zu lassen. Alle für Schrifttum und Kultur zuständigen regierenden Organe, Kammern, Abteilungen sind vertreten. Goebbels spricht vom Schriftsteller als dem "geistigen Bahnbrecher seiner Zeit", Moritz Jahn rühmt die "europäische Sendung der deutschen Dichtung" und als Hanns Johst mit einer verbrüdernden Geste die Franzosen zu Tränen rührt, kann die Europäische Schriftsteller-Vereinigung als gegründet betrachtet werden.

"Schaurig" findet Thomas Mann die "gespenstische Kultur-Woche in Weimar", die mit dem Londoner PEN-Club den zweifellos bedeutenderen Teil der europäischen Literatur auszulöschen und durch das Programm einer "völkischen Weltliteratur" ersetzen sollte. Frank-Rutger Hausmann, durch verschiedene Arbeiten zum nationalsozialistischen Kulturwesen auf diesem nicht sehr populären Gebiet kundig, hat sich dieses Versuchs der Literaturerneuerung angenommen. Herausgekommen ist ein enorm materialreiches Buch, das seinem Titel alle Ehre macht: "Dichte, Dichter, tage nicht!", wünscht sich der Leser so manches Mal angesichts der aufwendigen Inszenierung dieser "spontanen Gründung", der "kaum verhüllten Instrumentalisierung", der kiloschweren Büchergeschenke oder der sichtlich mühevollen Suche nach Teilnehmern für die drei Weimarer Treffen, die weder zu große Skepsis vor einer Kollaboration noch, wie der Franzose Pierre Benoit, "eine kranke Cousine" hatten und in das Kriegsland reisen wollten. Hierzu beschert uns Hausmanns zweifellos beachtenswerte Recherchetätigkeit in über vierzig zum Teil entlegenen Archiven eine Vielzahl von Namenslisten, Formschreiben und Vermutungen, die lückenhafte - weil nachträglich "entnazifizierte" - Bestände ausfüllen sollen. Wer nun wann und wo mit wem zusammentraf, ist hier schwerlich zu überblicken. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil sich unter der dort ausgewählten "Corona" der literarischen Welt nur sehr wenige bekannte Namen finden. Hausmann hat viele Persönlichkeiten dennoch identifizieren und, was vielfach besonders aufschlussreich ist, die Konsequenzen ihrer Teilnahme nachzeichnen können. Leider ist diese oft zu detaillierte Information in einem unübersichtlichen Gewirr von Fußnoten, wiederholenden Paraphrasen und Verweisen verborgen.

Deutschlands "Offerte", im Rahmen der streng völkischen Orientierung der Kulturpolitik einen europäischen Dichteraustausch zu organisieren, stieß in den vierzehn beteiligten Ländern - von Belgien bis Ungarn - auf sehr unterschiedliche Resonanz: Hausmann portraitiert die einzelnen Landesgruppen der ESV sowie ihre Vertreter und konstatiert diverse eigenwillige Ansprüche, die die Versprechungen "kultureller Eigenständigkeit" beim Wort nahmen. So plädierten beispielsweise Schweizer und Ungarn für die Aufnahme jüdischer Autoren, die Spanier wollten die lateinamerikanische Literatur ins Boot holen, Flamen und Kroaten bestanden auf der katholischen, Franzosen und Italiener obendrein auf einer humanistischen Fundierung ihres Schreibens. Für die beiden "ehrenamtlichen" Leiter der Organisation ein Spagat zwischen einer Satzung, die an die "gemeinsamen Wurzeln der geistigen Werte unserer Völker" zu glauben vorgibt, und den hintergründigen Kommentaren ihrer deutschen Repräsentanten wie Börries Freiherr von Münchhausen, der freimütig versichert: "An sich glaube ich an eine europäische Literatur so wenig wie an eine europäische Haarfarbe".

Fast verständlich erscheint es da, dass der "arme Carossa" diesem von Thomas Mann geprägten Prädikat für den "abgefallenen" Kollegen später recht geben, dass sein Generalsekretär Carl Rothe sich nach Kriegsende mit einem "Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" hervortun wird. Wie zitierte doch der eine den andern? "Stellen Sie sich vor, was geschehen könnte, wenn ehrgeizige Eiferer unsere Stelle einnähmen! Von Ihnen und mir wird niemand ein unwürdiges Wort vernehmen." Tatsächlich kommt Hausmann in seinem Portrait der beiden führenden Köpfe der Vereinigung zu dem vielleicht überraschenden Schluss, "dem Präsidenten und seinem Generalsekretär [könnten] insgesamt ein untadeliges Verhalten und Eintreten für Liberalität und Völkerfreundschaft attestiert werden" - eine m. E. etwas euphemistische Formulierung, die dennoch das umfasst, was die Geschichte des Unternehmens "Europäische Schriftsteller-Vereinigung" interessant und Hausmanns Buch so aufschlussreich macht. Die Auswertung zahlreicher deutscher und ausländischer Nachlässe und Dokumente sowie vor allem der erstaunlich ergiebigen finnischen Quellen lässt ein facettenreiches Bild entstehen, das auch der Gefahr nachträglicher Beschönigung kritisch entgegnet. Eine beigegebene CD-Rom ergänzt mit zusätzlichen Bilddokumente dieses außergewöhnlich umfassende Werk.

Leider lässt die endgültige Redaktion des Buches die auf die Recherche verwandte Sorgfalt etwas vermissen: So erscheint die Wiedergabe der Nazi- und anderer Reden in indirektem Stil oft ungeschickt bis unsachlich, die Redundanz mancher Fußnote wäre durch besseres Einarbeiten in den Haupttext mitsamt der diesbezüglichen Bitte um Nachsicht zu vermeiden gewesen. Ebenso unschön ist, dass man sich zuweilen an aus der Luft gegriffenen Deutungen und persönlichen Kommentaren stören muss, die die Wissenschaftlichkeit der Untersuchung etwas ins Wanken bringen.

Irreführend ist zuletzt, dass der Titel des Buches der ESV eine Lebensdauer von sieben Jahren zuschreibt, denn die endgültige Tilgung aus dem Weimarer Vereinsregister im Mai 1948 vollzieht eine Auflösung, die schon wesentlich früher Realität zu werden begann. Das "Neu-Europa" unter deutscher Leitung, dessen Vorbereitung die europäischen Dichtertreffen dienen sollten, verlor mit nachlassendem Kriegsglück der deutschen Streitkräfte sukzessive an Substanz. So hatte der italienische Kritiker Arturo Farinelli bereits im Herbst 1942 zum letzten Mal mit seinen ausländischen Kollegen in Weimar "mit Bleimänteln bedeckt den Kalvarienberg bestiegen".

Titelbild

Frank-Rutger Hausmann: Dichte, Dichter, tage nicht! Die Europäische Schriftsteller-Vereinigung in Weimar 1941-1948.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2004.
409 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3465032950

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch