Perspektivenreich, nicht neu
"Rilke-Perspektiven": Ein weiterer Sammelband zu Rainer Maria Rilke
Von Jörg Schuster
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Veröffentlichung von Rilkes Monografie über die Künstlerkolonie Worpswede jährte sich 2003 zum hundertsten Mal. Dass aus einem solch scheinbar geringfügigen Anlass eine internationale literaturwissenschaftliche Tagung stattfinden konnte, ist in Zeiten allgemeiner Sparzwänge ein kleines Wunder - ein erklärliches Wunder allerdings, das von der ungebrochenen Aktualität und Popularität Rainer Maria Rilkes zeugt. Der aus der Tagung hervorgegangene, von Hans-Albrecht Koch und Alberto Destro herausgegebene Band "Rilke-Perspektiven" hat zwar wenig mit dem Jubiläum zu tun, denn Worpswede, oder allgemeiner: Rilkes Beziehung zur Bildenden Kunst, wird nur vereinzelt thematisiert. Doch immerhin versammelt der Band durchweg solide philologische Beiträge, die in angenehmer Weise auf modisches Methoden-Design verzichten.
Die größten Entdeckungen dürften für deutschsprachige Leser in den Berichten über die Rilke-Rezeption im europäischen Ausland zu machen sein. Besonders im ebenso detaillierten wie brillanten Beitrag von Gabriella Rovagnati zur Rilke-Rezeption in Italien, aber auch in den Beiträgen zu Rilke in Russland und Polen, wird Rezeptionsgeschichte zu einem Stück lebendiger Zeit- und Kulturgeschichte. Neben den Bemerkungen zum Briefwechsel mit Baladine Klossowska und den im Band publizierten Briefen an Edgar von Spiegl, neben den Aufsätzen zu Rilke und Valéry sowie zu Rilkes Übertragung des Tagelieds "Slâfst du, friedel ziere?" illustrieren diese rezeptionsgeschichtlichen Aufsätze wohl am eindringlichsten das - mit Rilke'schem Schmelz behaftete - Motto des Bandes: "aus einem Wesen hinüberwandelnd in ein nächstes". Durch ähnliche Exaktheit zeichnet sich Alberto Destros Analyse "Der Gott des jungen Rilke" aus. Destro charakterisiert den Gottesbezug Rilkes als eine Form "atheistischer Religiosität", die sich bei näherem Hinsehen als "Selbstfindung [im] religiöse[n] Gewand" entpuppt. Christoph Michel belegt, dass sich Rilkes Goethe-Rezeption weniger ablehnend gestaltete als gemeinhin angenommen, und Walter Salmen weist auf überraschende Bezüge zwischen Rilke, Paula Modersohn-Becker, Gustav Mahler und Leoš Janácek auf ihrer "Suche nach dem verlorenen Heimatlied" hin.
So marginal einige dieser Themen auch scheinen mögen, es entsteht durch ihre Behandlung doch ein facettenreiches und genaues Bild von Rilkes Person und Werk. Erkenntnisstiftend wirken allein schon einzelne ins Schwarze treffende Formulierungen wie die von "Rilkes dichter Sprachakrobatik" (Alberto Destro) oder von der "inszenatorischen Kraft des Briefschreibers Rilke" (Christoph Michel).
Anderen Beiträgern dient der Band dagegen nur zur Wiederverwertung andernorts bereits erschienener oder noch erscheinender Veröffentlichungen. Der wiederholte Abdruck steigert dabei keineswegs die Qualität der Beiträge, im Gegenteil, er verschlechtert sie, wenn etwa in einem Aufsatz von Hansgeorg Schmidt-Bergmann in einer Fußnote auf "im Anhang dieser Arbeit dokumentierte" Manifeste des Futurismus verwiesen wird. Bei "dieser Arbeit" handelt es sich offensichtlich um eine bereits vor 13 Jahren erschienene Publikation, aus der die Fußnote beim Wiederabdruck leider unbemerkt stehen blieb.
Dies ist nur ein Beispiel für die beiden schwerwiegendsten Mängel des Bandes. Mehr als ärgerlich ist erstens, dass das Buch miserabel redigiert ist - da wird aus dem Hôtel Biron in Paris, nicht gerade dem unbedeutendsten Ort innerhalb von Rilkes Itinerar, ein "Hôtel Diron", aus "rhetorisch" wird "rethorisch", aus dem "Widerspruch" ein "Wiederspruch"; in französischen Zitaten fehlen über Seiten hinweg auf sinnentstellende Weise die Apostrophe, und der Beitrag von Rüdiger Görner wird durch eine Fülle von sprachlichen Fehlern ungenießbar.
Zweitens stellt sich bei einigen Beiträgen die Frage nach ihrer Aktualität. Es herrscht streckenweise ein etwas altväterischer Duktus, der so heute nur noch in der Rilke-Literatur zu finden sein dürfte. Wo sonst liest man noch von "Erquickung" oder von "Gesellungen", wo sonst zeugt etwas "am innigsten" von einem Liebesverhältnis oder fängt der Autor "beglückt [...] Erlebnisse ein"? Auch inhaltlich fühlt sich der Leser teilweise gespenstisch in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückversetzt. Die Analyse von Rilkes Lyrik oder seinem poetologischen Konzept der "Verwandlung" ignoriert großzügig neuere Forschungspositionen, die Orientierungspunkte sind immer noch Käte Hamburger oder Jacob Steiner. Paul de Man wird im gesamten Band nur ein einziges Mal erwähnt - mit dem Hinweis, dass sein Rilke-Aufsatz aus den "Allegorien des Lesens" ins Russische übersetzt worden sei.
Der Titel des Bandes, "Rilke-Perspektiven", ist demnach gut gewählt. Perspektivenreich ist das Buch durch einige überaus lesenswerte Beiträge, Rilke in grundlegend "neuer Sicht" präsentiert es aber nicht.
|
||