Spuren einer besonderen Beziehung
Der Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Uwe Johnson
Von Roman Kern
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Als ob einer mit geschlossenen Lippen spricht", betitelte unlängst Rolf Michaelis seine Besprechung diverser Bücher, die in mehr oder minder direktem Zusammenhang mit Uwe Johnson stehen. Eines davon soll hier ebenfalls besprochen werden, und so scheint es angebracht, die Verwendung dieser Sentenz genauer zu betrachten.
Es handelt sich um ein Zitat aus dem letzten Brief von Hannah Arendt an Uwe Johnson, das vollständig lautet: "Ihr Brief - sehr entzückend, sehr charmant, aber dann doch als ob einer mit geschlossenen Lippen spricht."
Es ist nachvollziehbar, warum man der Versuchung erliegen kann, sich dieser griffigen, bildhaften Aussage als Überschrift zu bedienen, scheint sie doch als Beschreibung für den bereits zu Lebzeiten als schwierigen Charakter und verschlossenen Menschen bekannten Uwe Johnson ungemein gut zu passen.
Allerdings wird hier ein falscher Eindruck erzeugt, denn es sind vor allem die Briefwechsel Johnsons, in denen sich seine außerordentliche Befähigung zu Freundschaft und Nähe immer wieder auf neue und eigene Art offenbart. Gerade der Briefwechsel mit Hannah Arendt ist von großer Offenheit, starker gegenseitiger Zuneigung und beidseitiger Bewunderung gekennzeichnet.
Einer der Herausgeber des vorliegenden Bandes versucht im Nachwort, die Zeit vor dem Einsetzen des Briefwechsels zu rekonstruieren. Uwe Johnson, der in Deutschland mit seinen beiden ersten großen Werken "Mutmaßungen über Jakob" und "Das dritte Buch über Achim" große Erfolge gefeiert hatte, war von Günter Grass zu einer Reise in die Vereinigten Staaten eingeladen worden. Grass war im Gegensatz zu ihm durch seine "Blechtrommel" bereits international bekannt. So kam es, dass Johnson, obwohl er am 21. Mai 1965 im New Yorker Goethe Haus selbst las, häufig gefragt wurde, wer er denn sei. In einem Gespräch erinnert sich Grass, Johnson habe auf solche Fragen immer mit einem Blick auf seine Kamera entgegnet, er sei der Fotograf.
Die Bekanntschaft mit Hannah Arendt geht auf eben jenen Aufenthalt in den USA zurück. Das zeigt sich an Johnsons Eintragung ihrer Adresse in seinem Kalender für den Tag der Lesung in New York. Zeitzeugen haben bestätigt, dass Arendt damals noch keines der Bücher von Johnson kannte. Der Schriftsteller hingegen wusste bereits genau, um welche Person es sich bei seinem Gegenüber handelte. Zum einen hatte Grass sie bereits ein Jahr zuvor in den USA getroffen und seine Eindrücke Johnson gegenüber mitgeteilt. Zum anderen jedoch war Hannah Arendt vor allem seit 1963 in Deutschland verstärkt im Gespräch gewesen. Anlass hierfür war ihre Berichterstattung über den Eichmann-Prozess in Jerusalem, zunächst in "The New Yorker" und etwas später in Deutschland im "Merkur" veröffentlicht. Ihr "Bericht von der Banalität des Bösen" sorgte für Bestürzung in Deutschland, ließ Wellen der Empörung aufbranden und entfachte eine intensive öffentliche Diskussion. Uwe Johnson dürfte das Spektakel aufmerksam beobachtet haben.
Als Johnson von 1966 bis 1968 in New York lebte, wohnte er, wie Hannah Arendt, am Riverside Drive. In dieser Zeit der Nachbarschaft entwickelte sich eine Freundschaft, die der nun erstmals veröffentlichte Briefwechsel zwischen beiden dokumentiert.
Der Austausch lässt Details des geistigen Lebens von Johnson und Arendt erahnen, macht deutlich, mit welchen Büchern sie sich beschäftigten und legt offen, welche Ereignisse ihr Leben in der Zeit zwischen Juni 1967 und August 1975 maßgeblich beeinflussten. Es ist ein anhaltend herzliches Gespräch, das bei aller Nähe in geistigen, politischen und sozialen Fragen die Ehrlichkeit in der Auseinandersetzung nicht scheut und stets bereit ist zur "Tapferkeit vor dem Freund", wie Uwe Johnson in seinem Nachruf auf Hannah Arendt mit Hilfe eines Zitates von Ingeborg Bachmann bemerkt.
Man kann einen liebenswerten Johnson in diesen Briefen findenn, deutlich ist ihm anzumerken, wie sehr er Hannah Arendt bewundert und welches Glück der Kontakt für ihn bedeutet. Man sieht ihn mit schlechtem Gewissen in einem Brief Ende Juni 1970: "... nun ist das Ei kaputt, und ich habe mich verhalten, als wünschte ich kein anderes als das schlechte Gewissen, das ich ja nun einmal habe." Hannah Arendt hatte ihn eingeladen in ihr Domizil am Lago Maggiore, worauf Johnson ihr lange Teit nicht antwortete: "Nun hat Ihre sehr willkommene Karte aus der 'Casa Barbatè' tatsächlich vier ganze Wochen auf unserem Küchentisch gestanden, so dass wir bei zwei Mahlzeiten am Tag hätten auf eine Antwort kommen sollen ...". Möglicherweise hinderte ihn die Fertigstellung des ersten Bandes seiner "Jahrestage", an der er damals mit Hochdruck arbeitete, an 'einem Besuch bei der alten Dame'. Im selben Brief fragt er an, ob es ihr recht sei, dass sich seine Protagonistin Gesine Cresspahl im Geiste in ein Gespräch begäbe mit der Person Hannah Arendt. Er betont, es sei deutlich, dass dieses nur imaginiert wird. Er würde ihr also die Worte, die Gesine Cresspahl durch den Kopf gehen, nicht in den Mund legen wollen. Die Antwort kommt bereits am 30. Juni und ist eindeutig: "Im Uebrigen erlaube ich Ihnen sehr gern alles, was Sie gern anstellen mögen. Nur nicht Namen nennen. Dagegen bin ich allergisch."
Ihre eindeutige Aussage, von Johnson ohne Widerworte akzeptiert, verzögert den Prozess der Drucklegung. In einem Brief vom Anfang Juli 1970 erfahren wir, dass Johnson mit der Arbeitsweise des Verlags unzufrieden ist. Er schimpft über Siegfried Unseld: "... der Kerl spart, der lässt meinen ganzen dicken Schinken auf Umbruch setzen! So dass ich zeilengleich korrigieren muss." Im Brief an seinen Verleger vom selben Tag liest sich sein Unmut wie folgt: "Als ich zugestimmt hatte, dass die gewöhnlichen Absätze nicht mehr durch eine ganze Leerzeile angedeutet werden, wurde mir versprochen, dass ein Teil des gewonnenen Raumes einem größeren Abstand zwischen den Kapiteln zugute kommen soll. Wenn dann der Umbruch kommt, ist der Abstand unverändert."
Neben solchem, praktische Verfahrensweisen betreffendem Austausch finden sich zahlreiche Passagen, aus denen hervorgeht, wie sehr Johnson darauf bedacht war, sein Gegenüber zum Lachen zu bringen. Sie verfehlen auch heute nicht ihre Wirkung. Es ist ein Johnson, der mit Worten und in anekdotischer Weise wieder gut zu machen versucht, was er mit denselben Mitteln verbockt hat. Hannah Arendt schätzte es durchaus nicht, wenn sie ins Licht der Öffentlichkeit geriet und reagierte sehr empfindlich, wenn sie selbst die Art und Weise, in der es geschah, nicht beeinflussen konnte. Dass sie zwar bestimmt, aber freundlich und auch nachsichtig im Fall Uwe Johnson agiert, ist als Zeichen tiefer Zuneigung zu ihm zu werten. Johnson revanchierte sich für das, was sie vielleicht als eine Art 'Gesichtsverlust' empfunden haben könnte, indem er dafür sorgt, dass sie ihr Antlitz in lachender Weise wiederfindet.
Doch in dem Briefwechsel wird auch deutlich, dass selbst Menschen, die derart beredt sind wie Hannah Arendt und Uwe Johnson, manchmal die Worte fehlen. So ergeben sich, bedingt durch äußere Umstände, längere Kontaktpausen.
Am 8. November 1970 erfährt Uwe Johnson vom Tod Heinrich Blüchers, des Ehemanns von Hannah Arendt, mit den folgenden Worten: "Blücher ist am 31. Oktober an einem massiven Herzinfarkt plötzlich und schnell gestorben." Die Kürze der Nachricht deutet die Schwere des Verlusts an, die der Tod des Ehemannes für Hannah Arendt bedeutete. Uwe Johnson reagiert spät auf ihr Schreiben. Erst am 27. Januar 1971 kann er sich zu einigen Zeilen durchringen, die ihn als sonst gewandten Beherrscher von Wort und Satz wie einen Stolpernden erscheinen lassen: "... es ist kein Versuch, Distanz herzustellen. Ich finde, Achtung möchte ich ausdrücken." Es ist das Unvermögen, angesichts des konkret gewordenen Todes zu einer Sprache zu finden, es scheint, als sei dem mit Erinnerung als Hauptinstrument arbeitenden Johnson in der Gegenwart des Todes der Mund verschlossen, als müsse er warten, bis sich das Präsens genügend in der Vergangenheit abgesetzt hat. Und so bleibt dem ungelenk um Sprache Ringenden nur, Hannah Arendt seiner Freundschaft zu versichern: "Verzeihen Sie, dass wir nichts zu sagen haben. Hilfe, das setzen Sie voraus: wenn wir welche leisten könnten, Sie würden sie abrufen."
Wie sehr sie verstanden haben muss, welche Schwierigkeiten es Johnson bereitete, adäquat zu reagieren, lässt sich an ihrem starken Bedürfnis erkennen, Johnson wieder um sich zu haben. In einem Brief von Helen Wolff datiert auf den 16. Juni 1971 erfährt er: "Hannah gerade zurück aus Europa - ist sehr angeschlagen, doch bricht das Urtemperament [...] wieder durch die Trauer. Auch für H. wäre es gut, Sie hier zu haben."
Johnson kommt, sobald es ihm möglich ist. Er nutzt die Gelegenheit der anstehenden Arbeit für den dritten Band der "Jahrestage" zu weiteren Recherchen in New York und wird von Hannah Arendt eingeladen, für die Dauer seines Aufenthaltes als Gast in ihrer Wohnung am Riverside Drive zu verweilen. Es ist etwas über einen Monat, den die beiden zur Verfügung haben. In seinem Nachruf wird sich Johnson erinnern: "Ich danke ihr. Drei Jahre später war ich einige Wochen lang ihr Gast in der Wohnung hoch über dem Hudson, in Heinrich Blüchers Zimmer ...". Einige Zeilen später kann man sich vorstellen, wie wichtig ihm das Gespräch mit ihr gewesen sein muss, neben seinen Exkursionen in New York, um Örtlichkeiten für seine "Jahrestage" in Augenschein zu nehmen: "Ich bekam Seminare in Philosophiegeschichte, zeitgenössischer Politik, Zeitgeschichte, je nach Wunsch."
Auf die gemeinsame Zeit in New York geht auch ein 'running gag' zurück, der sich seitdem in Johnsons Briefen findet; es scheint eine kleine Episode mit Blumen und einer unpassenden Vase gegeben zu haben: "Aber bei Ihnen in Tegna zu Besuch zu kommen, die falsche Vase schwenkend (brandishing) und nach geeigneten Blumen umspähend und dann von Ihnen ausgeschimpft zu werden, philosophisch bis ethnologisch, es hätte mir sehr wohl der Sinn danach gestanden."
Es ist eben dieser Brief, auf den sich jenes eingangs erwähnte Zitat von Hannah Arendt bezieht. Uwe Johnson entschuldigt sich in seiner Antwort und erklärt, er habe sich nach einem Herzinfarkt im Krankenhaus befunden und hätte den Brief diktieren müssen. In ihrem Antwortbrief vom 23. August 1975 spricht sie leicht ironisch von seinem Krankenhausaufenthalt; aus einer Fußnote kann man erfahren, dass sie Zweifel hegte an der Richtigkeit von Johnsons Aussage über seinen Herzinfarkt. In einem Brief an Mary McCarthy heißt es: "Ich bin nicht einmal sicher, ob es stimmt; er trinkt sehr stark und will wahrscheinlich nicht zugeben, dass er einen Zusammenbruch hatte." Abgesehen davon spricht sie über das Alter: "Mir geht es gut und ich geniesse, im Unterschied zu den meisten meiner Freunde, nach wie vor das Alt-sein. Dass es endlich, wie ich Ihnen vielleicht schon mitteilte, ein Ende mit dem Werden (Werde der Du bist) hat und man ruhig sein kann, der man geworden ist."
Es sollte ihr letzter Brief an ihn werden. Am 4. Dezember 1975 stirbt Hannah Arendt.
In seinem Nachruf wirkt Johnson tatsächlich so, wie sie ihn beschrieben hat in ihrem letzten Brief. Einerseits ist der Nachruf anrührend in seiner Art, viel Raum zwischen den Zeilen zu lassen, der den einfühlsamen Leser ahnen lässt, wie viel Wertschätzung, ja Liebe er dieser Frau gegenüber empfunden haben muss. Andererseits bleibt der Nachruf unbeholfen in einer Aneinanderreihung von Anekdotischem. Bereits in der Eröffnung wird klar, wie sehr der Nachruf seiner Bezeichnung gerecht wird: "Es ist noch Post an sie unterwegs, ein englisches Buch zum Gedenken W. H. Audens, es wird sie verfehlen." Am Ende des Nachrufs sieht man den nunmehr 41-jährigen Johnson angesichts des Unfasslichen vollkommen hilflos: "So war sie einverstanden mit ihrem Tod, wie jeder von uns einverstanden sein soll mit dem eigenen und den des anderen sich hinzunehmen weigert."
Neben der Fülle an wichtigen Informationen, die allein die Publikation des Briefwechsels in Verbindung mit den ausgezeichnet recherchierten und ausführlichen Fußnoten zugänglich macht, finden sich in dem vorliegenden Band noch eine Reihe weiterer Schriften. Zunächst sind da mehrere Texte von Johnson zu nennen: "Beschreibung der Upper West Side" entspricht dem in Hannah Arendts Nachlass befindlichen Typoskript Johnsons, das 1969 in der Zeitschrift "Neue Rundschau" veröffentlicht wurde. Es stellt eine wesentliche Vorarbeit für die "Jahrestage" dar und wurde zu weiten Teilen in den ersten Band eingearbeitet. In dieser konzentrierten Vorform kann man bereits Grundtendenzen ablesen. Für Literaturwissenschaftler ist dies ein unverzichtbares Dokument; für den interessierten Leser ein spannendes Stück Prosa, das sich durch scharfe Beobachtung und eine starke Sprache auszeichnet.
Daneben gibt es mehrere Fassungen von Johnsons Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner Preises sowie das Typoskript der "Skizze eines Verunglückten".
Die beiden Herausgeber haben zwei umfangreiche Texte beigesteuert, die über Hintergründe informieren, außerdem findet sich in dem Band je ein Lebenslauf in tabellarischer Form nebst einer Auswahlbibliografie, und eine sorgfältige Auflistung aller Briefe und Anlagen rundet die mehr als zufriedenstellende Publikation ab.
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