Im Huren-Himmel

In Elmar Fabers Anthologie melden sich Romanfiguren aus Irmgard Keuns Novelle "Das kunstseidene Mädchen" zu Wort

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Therese, Hella, Tilli Scherer, den Zuhälter Rannowsky und all die anderen Nebenfiguren aus Irmgard Keuns Novelle "Das kunstseidene Mädchen" über die titelstiftende Protagonistin Doris nachdenken zu lassen, ist eine nette Idee. Wenngleich es durchaus nicht zutrifft, dass aufgrund der Perspektive der Ich-Erzählerin "das übrige 'Personal'" des "Entwicklungsromans" "zu kurz" kommt, wie Elmar Ferber im Vorwort des Büchleins "Mutmaßungen über Doris" meint, in dem 29 AutorInnen die Idee in meist fünf oder sechs Seiten langen literarischen Texten verwirklicht haben. Leider nicht immer zur Freude der Lesenden. Denn das Lob, das Kurt Tucholsky Keun für "Gilgi, eine von uns" gezollt hatte - "hier arbeitet ein Talent" -, gilt durchaus nicht für alle Beitragenden des hier vorliegenden Bandes.

Evert Everts beispielsweise, der versucht, dem Rechtsanwalt, bei dem Doris zu Beginn des Romans arbeitet, eine Stimme zu verleihen, hält sich meist sklavisch an die von Keun vorgegebenen Metaphern. Heißt es bei der Erfolgsautorin der ausgehenden Weimarer Republik, Doris gucke "wie Marlene Dietrich so mit Klappaugen", formuliert Everts im Namen des Rechtsanwalts, sie zwinkere "mit den Augen wie die Dietrich". Lässt Keun den geilen Arbeitgeber atmen "wie eine Lokomotive kurz vor der Abfahrt", erzählt dieser bei Everts, sein Atem gehe "wie eine Dampflok". Greift Everts aber ausnahmsweise einmal selbst zu einem Begriff, langt er prompt daneben, nämlich nach einem Modewort nicht der frühen 30er, sondern der späten 90er Jahre und lässt seinen Protagonisten Doris ein "junge[s] Luder" nennen. Das Wort "Luder" kommt bei Keun gegen Ende der Novelle zwar tatsächlich vor, jedoch in einem durchaus anderen Sinne als dem heute gebräuchlichen: Doris nennt Ernst, das "grüne Moos", ein "dämliches Luder".

Doch auch andere AutorInnen sind in der Wortwelt des ausgehenden 20. Jahrhunderts so befangen, dass sie deren Jargon gedankenlos in Doris' Zeit versetzen. Wobei sich gerade das nicht zuletzt durch die Boulevard- und Softporno-Presse gehypte Modewort "Luder" einer derartigen Beliebtheit erfreut, dass es auch Dorothea Rogowskis "weiße[r] Onyx" und Mike Bartels Regisseur Klinkenfeld im Munde führen. Bartel ist darüber hinaus den üblichen grammatikalischen Entgleisungen des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts verhaftet, sodass er den Regisseur Klinkenfeld darüber sinnieren lässt, Doris habe den "Erlkönig" wohl deshalb vorgetragen, "weil sie konnte doch sonst nichts". Bei Margarete Schmitz wiederum ist Doris, die am Ende der Novelle kein "Glanz" mehr sein mag, ganz im Stil der 90er Jahre "voll darauf abgefahren", von nun an "gut und edel" zu sein.

Nach so viel Kritik gilt es aber auch, ein paar der gelungenen Kurzgeschichten zu loben. Gerade das Wort vom "Glanz" verstehen einige der AutorInnen geschickt aufzugreifen und zu variieren, wie etwa Marianne Bruns oder schöner noch Helga Rost, die sich allerdings auch schon mal eines Klischees bedient. "Mein Blut drängt", rechtfertigt sich der Literat dafür, dass er "nicht gegen [s]eine Natur an[kann]" und über Doris herfallen will. Oder sollte diese abgegriffene Metaphorik den Erfolgsliteraten etwa desavouieren?

Witzig ist Gabriele Wötzels Schilderung der Rache des Adels am Proletariat, originell Waltraud Rohrmosers Idee, den ständigen Begleiter von Doris berichten zu lassen. Von Verena Hesse erfährt man, dass die Freier im Huren-Himmel 30 Mark zahlen und von Christiane Hartmann, für wen Doris ein "seidenes Mädchen" und ein "Glanz" ist. Womit die etwas helleren Glanzlichter dieses in weiten Teilen doch eher trüben Bändchens auch schon so ziemlich aufgezählt wären.

Titelbild

Elmar Ferber (Hg.): Mutmaßungen über Doris. Romanfiguren aus "Das kunstseidene Mädchen" von Irmgard Keun melden sich zu Wort.
Ferber und Partner, Köln 2003.
131 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3931918106

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