Auf tönernen Füßen

DDR-Alltag zwischen Apathie und Aufbruch

Von Jörg von BilavskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Bilavsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Damals in der DDR" lautet der nostalgische Gefühle heraufbeschwörende Titel einer vierteiligen Dokumentarreihe, die im Herbst letzten Jahres von der ARD ausgestrahlt wurde und zu der begleitend ein Buch aus der Feder zweier Zeithistoriker erschienen ist. Im Gegensatz zu den bislang produzierten DDR-Shows und populären Sachbüchern ("Lexikon des DDR-Alltags" oder "Das große DDR-Buch") schreiben die beiden Wissenschaftler gegen den oberflächlichen und wehmütigen Rückblick auf die "gute alte Zeit" an, in der nach Meinung vieler "Ostalgiker" soziale Sicherheit und Geborgenheit geherrscht haben sollen.

Das Buch konzentriert sich auf die zentralen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche während der 40-jährigen SED-Herrschaft, die - so der prinzipielle Befund - zu fast jeder Zeit auf tönernen Füßen gestanden hat. Machtdemonstration und Machterhalt bestimmten dabei den Alltag der Herrschenden, Machtlosigkeit und Machtverlust den der Beherrschten. Diese beiden Pole prägten das Lebensgefühl und die Lebensentwürfe der Bevölkerung im Arbeiter- und Bauernstaat. "Das Streben nach Eintracht mit der Obrigkeit war riesengroß, die Furcht davor, negativ aufzufallen, regierte den Alltag", so das Fazit eines der Autoren.

Demonstriert wird dieses Spannungsverhältnis an politisch oder wirtschaftlich einschneidenden Zäsuren: Die Gründung der DDR im Oktober 1949, der Aufstand am 17. Juni 1953, der Mauerbau im August 1961, Honeckers Wirtschafts- und Sozialpolitik in den 1970er Jahren und ihr Scheitern ein Jahrzehnt danach werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln und am Beispiel diverser, zuweilen recht disparater Themenkomplexe betrachtet.

Diesen Ereignissen und deren Einfluss auf den Alltag und das historische Gedächtnis der Bevölkerung schenken die Historiker oft eine große Aufmerksamkeit. Dem Aufstand im Juni 1953, heute wie damals für viele Deutsche in Ost und West gewiss ein elementarer Schock, wird bis auf die Minute genau und in die letzte Protestversammlung hinein nachgespürt. Solch detaillierte Informationen tragen nicht immer zum besseren Verständnis oder zur größeren Anschaulichkeit des Geschehens bei. Weder das in West- noch das in Ostdeutschland anvisierte Publikum erwartet von einer allgemein verständlichen Überblicksdarstellung, über die Anzahl der Beschwerdeführer oder die genauen Marschrouten aufgeklärt zu werden. Diesen Details fallen oft andere interessante Aspekte zum Opfer. Wo hielten sich beispielsweise die SED-Funktionäre am 17. Juni auf, und wie stellte sich in ihren Augen der Protest dar?

Auch in anderen Kapiteln kommt es bisweilen zu einer Verengung des Blickfeldes. So dürfte der ökonomisch ungeschulte Leser mit dem Kapitel "Wunderwirtschaft - Konsumsozialismus" an einigen Stellen seine Schwierigkeiten haben. Übrigens dem einzigen Kapitel, das der Mitarbeiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, Hans-Hermann Hertle, zu diesem ansonsten von Stefan Wolle verfassten Buch beigesteuert hat. Es hebt sich nicht nur durch seinen sachlicheren Ton vom sonst eher lockeren Erzählstil ab, sondern auch durch die fundierte wirtschaftshistorische und mit Fachbegriffen gespickte Analyse. Die harten Fakten zum Außenhandelsdefizit oder Devisenmangel und zur Preispolitik werden ebenso gründlich wie ausgewogen interpretiert und mit den teils grotesk anmutenden Positionen und Maßnahmen der verantwortlichen Politbüro-Mitglieder kontrastiert. Ein Kapitel, das den Alltag der DDR in den 70er und 80er-Jahre allerdings auf den wirtschaftlichen Niedergang reduziert und ihn ebenso wenig veranschaulichen kann wie die zum Teil sehr einfallslos und spärlich ausgewählten Fotodokumente.

Zur Illustration des DDR-Alltags greift das Autorenduo vielmehr auf Rückblicke von Zeitzeugen zurück, die am Ende einiger Unterkapitel zu finden sind. Hinter ihnen verbirgt sich die auf dem Klappentext angekündigte "Geschichte von unten", die im darstellenden Text leider meist unkommentiert bleibt. Die unglaublichen Erlebnisse einer republikflüchtigen DDR-Heimkehrerin oder die Erinnerungen eines Hoteldirektors, der auf abenteuerliche Weise in Warnemünde eine Luxusherberge unterhielt, dürften sich wohl kaum mit den Alltagserfahrungen der Bevölkerungsmehrheit decken. Einen realistischeren Einblick in die Mentalität und Lebenswelt der DDR-Bürger vermittelt hingegen die filmische Langzeitstudie "Die Kinder von Golzow". Von 1961 bis 2002 begleitete die Kamera generationenübergreifend und unaufdringlich ganz unterschiedliche Charaktere und Lebenswege.

Spuren eines Mentalitätswandels in der DDR liefert uns der für den Forschungsverbund "SED-Staat" an der FU Berlin arbeitende Stefan Wolle am ehesten in seinen drei "Porträts einer Generation" und im letzten Abschnitt des Buchs "Allmacht und Ohnmacht in der Diktatur". Wenngleich er hierin seinen poetischen Ambitionen etwas zu freien Lauf lässt und Stasi-Mitarbeiter als "Kobolde" und "Poltergeister" beschreibt, die in "schmutzigen Ecken der dunklen Behausungen" lauern, wird die Darstellung hier systematischer und eindrücklicher. Vor allem dank der in diesem Kapitel geglückten Verknüpfung von Zeitzeugenbericht und interpretatorischer Zusammenfassung. Ob auch die hierfür von ihm herangezogenen literarischen Zeugnisse die Stimmungslage in der DDR wirklich abbilden können, sei dahingestellt. Anreiz zur Diskussion bilden sie allemal.

Eine durchweg konzise und zusammenhängende DDR-Alltagsgeschichte steht also noch aus. Als wichtiges Medium des Multimedia-Projekts (DVD, CD, Hörbuch, Ausstellung, Internet) zum gleichen Thema hat es nur bedingt die vom Verlag erkannten Wissensdefizite über den "real existierenden Sozialismus" in Ost und West beseitigen können. Anstelle eines klar strukturierten und inhaltlich ausgewogenen Kompendiums hält der interessierte Laie einen bunten Flickenteppich in den Händen, der an einigen Stellen zu grell, an anderen aschgrau ausgefallen ist.

Titelbild

Hans-Hermann Hertle / Stefan Wolle: Damals in der DDR. Der Alltag im Arbeiter- und Bauernstaat.
C. Bertelsmann Verlag, München 2004.
319 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3570008320

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