Modernismus, Katakomben, Tauwetter - und Gegenwart

Endlich liegt eine lesbare und zugleich kundige Geschichte der modernen tschechischen Literatur vor

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es vorweg zu sagen: Jirí Holý ist es gelungen, die ungewöhnlich vielseitige Literatur der Tschechen im zwanzigsten Jahrhundert in einem handlichen Band übersichtlich zu beschreiben und ihre Entwicklungslinien zusammenzufassen.

Vier große Kapitel liegen vor, die komplexe Zusammenfassungen anbieten. Der "Zeit des Modernismus (1895-1918)" schließen sich die "Die glücklichen Jahrzehnte der tschechischen Literatur (1918-1938)" an, welche von einem gewaltigen Einschnitt abgelöst wurden: "Die Literatur unter dem nationalsozialistischen und stalinistischen Totalitarismus (1939-1960)". Das letzte Kapitel beschreibt die abschließende Phase: "Tauwetter, Prager Frühling und die Folgen. Von 1960 bis zur Gegenwart". Es liegt somit eine mitteleuropäische Einteilung vor, die west- oder osteuropäische Leser überraschen könnte. Der kalte Hauch totalitärer Eingriffe in das literarische Schaffen eines kleinen Landes zog sich aus dieser Sicht von 1939, dem Einmarsch der deutschen Truppen, bis zum Jahr 1960 hin, einer von Jirí Holý festgelegten Zäsur, welche den berühmten XX. Parteitag der KPdSU des Jahres 1956 ebenso hinter sich gelassen hatte wie den niedergeschlagenen Ungarn-Aufstand von 1956. Damit wird keinem Aufrechnen zwischen nazistischer oder stalinistischer Diktatur das Wort geredet. Holý betont zu Beginn dieses Kapitels sogar eindringlich, dass die kommunistische Gewaltherrschaft, von den Jahren 1945-1948 abgesehen, bis zum Ende der 80er Jahre angehalten hatte, allerdings auch von liberaleren Phasen und sogar einem Reformeinschnitt, dem Prager Frühling von 1968, unterbrochen worden war. Entscheidend bleibt der Hinweis für diesen geschichtlichen Abschnitt, dass sich die tschechische Literatur fortan in mehreren Erscheinungsformen präsentierte: der offiziellen Literatur, der Literatur der exilierten Schriftsteller sowie den Schriften der im Untergrund, im Samisdat verlegten Autoren - und das sollte bis zum Niedergang des real existierenden Sozialismus im Dezember 1989 so bleiben.

Aufschlussreich für deutsche Leser ist, dass Holý differenziert genug schreibt, um auch der offiziellen Literatur der 70er und 80er Jahre gerecht zu werden. Was angesichts der seinerzeit vorgelegten Werke nicht gerade einfach ist. Einen polemischen Hieb gegen die Poetik damaliger junger 'Star-Autoren' wie Karel Sýs, Jirí Žacek und Michal Cerník vermag sich Jirí Holý allerdings nicht zu verkneifen: "ihr bürgerlicher Konformismus war nicht haltbar". Es hatte sich immerhin um gefeierte junge kommunistische Nachwuchsdichter gehandelt!

Wer eine zusammenfassende Übersicht über Literatur herausgibt, muss unausweichlich mit Mahnungen an übersehene Autoren leben. Oft genug zeugt derlei Vorwurf mehr von der Eitelkeit der Rezensenten als von der Nachlässigkeit der Autoren. Insofern könnten auch hier Namen mit bemerkenswerten Schicksalen aufgezählt werden: Irma Geisslová, Karel Klostermann, Vít Obrtel oder der 1978 viel zu früh verstorbene Vítezslav Gardavský, der Philosoph, Offizier und Dichter zugleich war. Jirí Holý, der promovierte Literaturhistoriker und Poetologe macht gewissenhaft auf poetische Solitäre wie Jakub Deml aufmerksam, dessen Rezeption innerhalb und außerhalb seiner Heimat immer wieder beeinträchtigt wurde. Auch der deutschsprachigen Literatur in den böhmischen Ländern widmet Jirí Holý ein Unterkapitel, das sich durch bemerkenswerte Sachlichkeit auszeichnet. Ein besonderer Knotenpunkt dieser Entwicklung liegt in den sich überlappenden und dennoch auseinander strebenden kulturellen Milieus deutscher, jüdischer und tschechischer Autoren - eine spezifisch mitteleuropäische Erscheinung, der etappenweise durch ideologischen Größenwahn ein unwiederbringliches Ende bereitet wurde. Besonders eindrucksvoll sind die Schicksale der so genannten 'Kriegsgeneration'. Den Schwierigkeiten während der Nazizeit folgten die Probleme nach der Ausrufung der sozialistischen Republik 1948 auf dem Fuße. Texte von Dichtern wie Jan Zahradnícek, Bohumil Hrabal oder des 1941 auf tragische Weise ums Leben gekommenen Jirí Orten wurden oft erst nach Jahrzehnten oder gar posthum veröffentlicht.

Die Übersetzerinnen Dominique Fliegler und Hanna Vintr sind für professionelle Übersetzungen tschechischer Romanciers und Dichter bekannt. Ihr Wissensstand kam der Übersetzung des vorliegenden wissenschaftlichen Werkes spürbar zugute. Eine umfangreiche Bibliografie bohemistischer Literatur sowie ein ausführliches Register unterstreichen den Wert dieses Buches, das als Nachschlagewerk für alle Interessierten an der tschechischen Literatur unentbehrlich ist. Dieses Handbuch füllt eine seit Langem bestehende Lücke!

Kein Bild

Jirí Holý: Geschichte der tschechischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Hanna Vintr und Dominique Fliegler.
Edition Praesens, Wien 2003.
434 Seiten, 53,50 EUR.
ISBN-10: 3706901455

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch