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Dieter Wolf und das Elend der Marx-Exegese

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Marx'schen Wertformanalyse wurde im Marxismus bekanntlich keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Im Zuge der so genannten 'Neuen Marx-Lektüre' ab dem Ende der 1960er Jahre, die von Helmut Reichelt ("Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx", 1970, Neuauflage 1999) und Hans-Georg Backhaus (gesammelt in "Dialektik der Wertform", 1997) eingeleitet wurde, änderte sich dies. Maßgeblich von der Kritischen Theorie inspiriert, wandte man sich anderen Fragestellungen zu:

- Wert wurde nicht bloß als quantitatives Problem (Wie entsteht Wert? Wer stellt ihn her? Wo geht er hin?), sondern als qualitatives aufgefasst. Als Gegenstand der Marx'schen Werttheorie galt nicht mehr, dass Wert von den einen produziert und von den anderen weggenommen wird, sondern das Problem lag fortan im Wert selbst, nicht im Modus seiner Verteilung.

- Es entstand ein Bewusstsein für Methodenfragen: Was macht Marx tatsächlich im "Kapital"? Wie ist das "Kapital" aufgebaut, und wieso ist es auf diese Weise aufgebaut und nicht auf eine andere? Die "dialektische Entwicklungsmethode" (Marx) galt nicht mehr als Nacherzählung bestimmter historischer Entwicklungen, die nach quasi-naturgesetzlichem Reglement abliefen, sondern als eine bestimmte Art der Darstellung.

- Die Bedeutung des Wortes "Kritik" im Untertitel des "Kapital" wurde ernst genommen. Marx' Kritik der politischen Ökonomie wurde als Kritik der Nationalökonomie und der durch sie sich mitteilenden Wirklichkeit wahrgenommen. Sie galt nicht mehr als alternative Soziologie oder Wirtschaftswissenschaft von einem anderen "Standpunkt" aus, der unreflektiert gesetzt wurde. (Gleichwohl wurde sie dann in der Folge als eine begründende Theorie zu diversen alternativen Wissenschaftsdisziplinen verstanden.)

In den 1970er Jahren gab es einen kleinen Boom der Literatur zur Rekonstruktion des Marx'schen Werkes, die sich vorrangig um die Wertformanalyse und den Fetischcharakter der Ware drehte. Zwischen Stefan Breuers "Krise der Revolutionstheorie" (1978) und Jürgen Habermas' "Theorie des kommunikativen Handelns" (1981) hörte dies auf; mit Marx konnte man fortan akademisch nicht mehr reüssieren. Die Esoterik der Beschäftigung mit solchen Themen verstärkte sich. Die Schriften von Dieter Wolf kamen da zu spät: 1985 erst erschien "Ware und Geld. Der dialektische Widerspruch im 'Kapital'" (Neuauflage, 2002). Doch die Ungleichzeitigkeit kann die Missachtung, die seinen Büchern widerfuhr, nicht erklären. Seine beiden Hegel-Bücher "Hegel und Marx. Zur Bewegungsstruktur des absoluten Geistes und des Kapitals" (1979) und "Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. Eine materialistische Kritik" (1980) erschienen exakt in der Zeit, als Nicht-Marxisten und Hegel-Forscher wie Dieter Henrich, Michael Theunissen und Hans Friedrich Fulda die Marx'sche Methode und deren Verhältnis zu Hegel erkundeten. Selbst in den Kreisen der esoterischen Marxisten blieb Wolf unbeachtet, in ihren Literaturverzeichnissen sucht man ihn meist vergebens.

Wenige beschäftigen sich mit Marx, noch weniger mit dessen Werttheorie, noch weniger verstehen sie; und für sehr viele von diesen wenigen gilt, dass sie zur Wunderlichkeit neigen. Es geht hier nicht um persönliche Eigenschaften, es geht um die Texte. Die von Wolf stellen einen merkwürdigen Grenzfall dar. Es gibt Texte, an denen gleitet man ab; man bleibt draußen und tastet sich die Fassade entlang. So ist es auch bei denen von Wolf, was schade ist. Denn er gibt eine konzentrierte Beschreibung, bemüht sich um eine eigenständige Darstellung. Anstatt ewig dieselben Marx-Zitate abzumischen, bemüht er sich, ihren Inhalt aufzuschließen, indem er sie in immer neuen Formulierungen umschreibend abfasst, mit denen er das Thema von immer wieder anderen Seiten beleuchtet. Er schreibt klar und selbstständig wie sonst nur Michael Heinrich ("Die Wissenschaft vom Wert" (1991/2000) oder, mit Abstrichen, Helmut Brentel ("Soziale Form und ökonomisches Objekt", 1989). Wo andere ahnungsvolle Andeutungen machen oder vielversprechende Ankündigungen für noch zu Erarbeitendes (Reichelt, Backhaus), wo andere die eigene Erkenntnisleistung durch Marx-Zitate und deren korrekte Aneinanderreihung ersetzen und somit Kenntnis in Philologie beweisen, wo andere immer wieder den Gegenstand umkreisen, - da geht Dieter Wolf geradewegs auf das Problem zu, benennt, erklärt, beschreibt und löst es. Aber ihm dorthin zu folgen, ist nicht einfach.

Denn es fehlt seinen Texten an Stringenz, sie sind redundant und voller Wiederholungen. Wolfs zahlreiche Variationen der hermeneutischen Arbeit sind ein manisches Umkreisen des Immerselben. Immer wieder versucht er, jetzt aber endlich die letztgültige Rekonstruktion vorzulegen und andere Interpreten endgültig aus dem Rennen zu werfen. Woher diese Fixierung? Ist dies ein Zeichen für Unsicherheit? Für ein Unvermögen, mit etwas fertig zu werden? Seit circa 25 Jahren kümmert Wolf sich um dasselbe: Er bemüht sich um die adäquate Darstellung des Marx'schen Werkes. Wie besessen arbeitet er daran, die eigene Interpretation gegen andere durchzusetzen. "Ware und Geld" fast 20 Jahre später unverändert wieder aufzulegen, stellt kein Problem dar, denn Wolf macht auch in der Gegenwart exakt da weiter, wo er in der Vergangenheit abbrach. Kritisierte er früher Backhaus, Ernst Michael Lange, Lucio Colletti, Gerhard Göhler, Fulda und Theunissen für ihre Marx-Interpretation, so hat er in seiner neuesten Veröffentlichung nur noch Backhaus und Reichelt als Objekt. Hielten sich früher eigene Darstellung und Kritik anderer Autoren noch ungefähr die Waage, so ist ersteres gegenwärtig auf ca. ein Drittel des Gesamttextes geschrumpft. Das, was im Kritik-Teil noch und noch wiederholt wird, wurde im Darstellungs-Teil bereits mehr als einmal gesagt. Damit man nichts missverstehe: Wolfs eigene Darstellung gehört mit zum Erhellendsten, was es an Literatur zu Marx gibt. Wenig von dem, was er schreibt, ist falsch, und seine Kritik fast immer treffend. Aber nicht nur angesichts des unverhältnismäßigen schreiberischen Aufwands fragt man sich, ob der Zweck, der Wolf antreibt, ein rationaler ist. Auch bei manchem, was Wolf kritisiert, melden sich solche Zweifel.

Gegen Backhaus beispielsweise versucht Wolf zu beweisen, dass es keinen Bruch im Darstellungsgang des "Kapital" gebe. Aber wen interessiert, ob das Marx'sche Werk als Einheit erwiesen werden kann oder nicht? Was ist daran wichtig? Wem kann dies wichtig sein? Und warum? Ist der Nachweis Marx'scher Makellosigkeit wichtig oder das, was für eine adäquate Analyse des Kapitalverhältnisses falsch und was richtig wäre?

Wolf zeigt richtig, dass Reichelts variierte neue Marx-Interpretation jenen schließlich dahin bringt, die von Marx diagnostizierte Gesellschaftlichkeit der Sachen auf eine Gedankenleistung des menschlichen Kopfes zu reduzieren, oder, wie Wolf ganz traditionell vulgärmarxistisch sagt, "idealistisch" umzudeuten. Sein Einwand, dass die Eigentümlichkeiten des Gegenstandes der Marx'schen Wertformanalyse "Eigentümlichkeiten des Gegenstandes" seien und "nicht erst im Kopf des gedanklich diesen Gegenstand reproduzierenden Wissenschaftlers [entstehen]", aber ist falsche Demut des Theoretikers, der von sich behauptet, er 'fixiere' lediglich 'gedankliche Reproduktionen' der gesellschaftlichen Wirklichkeit "schriftlich". Wolf gelangt hier zu einer beliebten Abart der Abbildtheorie.

Die Bemühung um die möglichst korrekte Abbildung des Textes tritt an die Stelle der Kritik der Wirklichkeit, von der jener Text handelt. Äußert man sich bei Gelegenheit doch zu anderen Sujets, so ist die Gesellschaftskritik der verdienten Marx-Exegeten erschreckend häufig bestenfalls mehr oder minder (links-)sozialdemokratisch. Auch wenn sie von der Kritischen Theorie inspiriert wurden, möchten sie beispielsweise vom Antisemitismus nichts wissen, und schon gar nicht treibt sie die Kritik der politischen Ökonomie zu einem Begriff diesem. So wichtig eine korrekte Rekonstruktion oder Zusammenfassung des Marx'schen Werkes für sein Verständnis und für eine von ihm ausgehende Gesellschaftskritik ist, so sehr neigt die Rekonstruktion als Exegese, als Philologie und als Kritik konkurrierender Interpretationen dazu, zur Ersatzhandlung zu werden: Es geht nicht mehr um die Herstellung gesellschaftlicher Wahrheit, sondern um die der Richtigkeit der Werkinterpretation. Durch diese errichtet man sein eigenes System, welches das Außen abblendet und innerhalb dessen man sein eigenes Spiel installiert. Die Bemühung um die korrekte Abbildung verschafft die Wissenschaftlichkeit und die Methode, nach der die Marx-Exegeten sich sehnen, die sie zur Legitimation brauchen und deren Anerkenntnis ihnen vom übrigen akademischen Betrieb verweigert wird. Wissenschaftlichkeit und Methode werden innerhalb des eigenen Diskurses in der Beschäftigung mit den Texten zu Surrogaten; wie im Positivismus ist innertheoretische Richtigkeit und Kohärenz Kriterium für Wissenschaftlichkeit und Wahrheit.

Titelbild

Dieter Wolf: Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie.
VSA Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung, Hamburg 2002.
473 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3879758891

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Titelbild

Dieter Wolf / Heinz Paragenings (Hg.): Zur Konfusion des Wertbegriffs. Beiträge zur "Kapital"-Diskussion.
Argument Verlag, Hamburg 2004.
240 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-10: 3886196518

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