Die vier Komponenten der kulturellen Geschlechterordnung
Eveline Kilian untersucht theoretische und literarische Perspektiven des gender-bending
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNicht die für Gender Studies und Cultural Studies obligate Trias sex, class und race steht im Mittelpunkt von Eveline Kilians lesenswerter Habilitationsschrift zur theoretischen und literarischen Perspektiven des gender-bending, sondern die andere Trias sex, gender und sexuelle Orientierung, anhand deren "Zusammenspiel" die Autorin die Herausbildung der Geschlechtsidentität von Personen untersucht.
Auch die Untersuchungsfelder der vorliegenden Arbeit bilden eine Trias: der "alltagsrelevante kulturell-gesellschaftliche Geschlechterdiskurs", die gegenwärtige theoretische Gender-Debatte und die "Konstruktion und 'Bearbeitung'" von Geschlecht und Geschlechtsidentitäten in literarischen Texten. Eigentliches Forschungsobjekt aber sind Letztere, genauer gesagt, das gender-bending, also das Überschreiten von Geschlechtergrenzen bzw. das "Spiel mit ambivalenten Geschlechtszuordnungen" in der Literatur. Kilian wählt beispielhaft einige literarische Texte, die Figuren zeichnen, deren Geschlecht "indefinit" ist oder - sei es durch ein "verändertes Erscheinungsbild der geschlechtsrelevanten Selbstrepräsentation" oder durch operative oder hormonelle Eingriffe - wechselt. Aufgrund ihrer "extreme[n] Formen der Transgression" können Kilian zufolge an ihnen Fragen der Konstruktion von Geschlecht(sidentität) und der hierzu notwendigen Parameter besonders klar herausgearbeitet werden. Hierbei nimmt die Autorin insbesondere die "Basiskategorie" der kulturellen Zweigeschlechtlichkeit in den kritischen Blick.
Zu den von Kilian herangezogenen Texten gehören Brigid Brophys "In Transit", der die "Verquickung von Sprache und Geschlecht als Sprach- und Geschlechtskorrosion" zeige, Angela Carters "The Passion of New Eve", der die "unmittelbare Abhängigkeit der weiblichen Subjektkonstitution von den kulturellen Repräsentationen von Weiblichkeit" deutlich werden lasse, Jeanette Wintersons "Written on the Body", der die "Zuverlässigkeit des Geschlechtercodes" der Lesenden auf den Prüfstand stelle und sie auffordere, "aus widersprüchlichen Geschlechtshinweisen im Text das nicht spezifizierte Geschlecht der autodiegetischen Erzählinstanz auszumachen", sowie Maureen Duffys "The Microcosm", an dem sich die Wirkungsweise der von Theresa de Lauretis entworfenen eccentric discursive position rekonstruieren lasse.
Interessanter noch als die durchaus erhellende Untersuchung dieser Texte ist Kilians luzider "Entwurf eines neuen Modells der Konstitution von Geschlecht", den die Autorin an den untersuchten Texten nicht nur erprobt, sondern erweist. Allerdings entwickelt sie ihn - zumindest in wesentlichen Teilen - versteckt in einem der hinteren Kapitel.
Ungeachtet jüngster Theorieansätze, die sex und gender "fusionieren" und die Binarität der Geschlechter als "latente[n] Biologismus der Gesamtkonstruktion 'sex-gender'" (Regine Gildemeister und Angelika Wetterer) analysieren, hält die Autorin daran fest, dass es sinnvoll sei, "für die Bestimmung der Geschlechtsidentität beide Komponenten beizubehalten". Zur Begründung führt sie ein erkenntnistheoretisches und ein pragmatisches Argument an. Ersteres besagt, dass beide Kategorien notwendig seien, "[u]m die spezifische Beziehung zwischen gender und der prädiskursiven Situierung einer biologischen Komponente durch den Geschlechterdiskurs beschreiben zu können", da die Negation des Gegensatzes zwischen sex und gender eben diese voraussetze. Dem zweiten, pragmatischen Argument zufolge habe die 'Entlarvung' des sex / gender-Systems als diskursives Konstrukt zwar Konsequenzen für die "theoretische Konzeptualisierung von möglichen Veränderungen der Geschlechterordnung", doch behalte der zwischen sex und gender in herkömmlicher Weise unterscheidende "gesellschaftlich-kulturelle Geschlechterdiskurs" für die "lebensweltliche Praxis" weithin Gültigkeit und werde somit auch in literarischen Texten thematisiert.
In kritischem Anschluss an Cornelia Klinger fasst Kilian daher den Begriff der Konstruktion neu. So übernimmt sie die von Klinger vorgeschlagene Dreiheit des symbolischen, des sozialen und des individuellen Körpergeschlechts, wobei sich Ersteres zu den beiden letzteren "auffächert". Klingers Modell erlaube, "die Trennung zwischen dem Körper, in den die kulturelle Geschlechterordnung" in dem Sinne eingeschrieben sei, "daß sie diesen in seiner intelligiblen Form hervorbringt", und dem sozialen Geschlecht beizubehalten, "ohne dabei gleichzeitig essentialistische Annahmen zu wiederholen". Die von Klinger getroffene Unterscheidung dreier Konstruktionsebenen überzeugt allerdings insofern nicht, als sie das individuelle Körpergeschlecht als psycho-physisches auffasst und somit die geistig-seelischen Dimension kurzerhand der Körperlichkeit zuschlägt. Das sieht Kilian ebenso, denn anders als Klinger lässt sie die Psyche nicht in Körperlichkeit aufgehen.
Auch bildet sich Kilian zufolge die individuelle Geschlechtsidentität nicht nur in einem "komplexe[n] Zusammenspiel" von sex "im Sinne des geschlechtlich codierten Körpers" und gender heraus. Ein Drittes tritt gleichgewichtig hinzu: die sexuelle Orientierung. So dient Kilian Klingers Trias als "Ausgangspunkt" weiterer Modifikationen und eben ihres Modells der Konstruktion von Geschlecht, das sich gegenüber dem Modell Butlers dadurch auszeichnen soll, dass es "das Moment der Leiblichkeit integrieren" kann.
Kilians Butler-Kritik überzeugt allerdings nicht restlos. Die These der kalifornischen Philosophin, dass sex "have been gender all along", bedeutet durchaus nicht "das Ineinssetzen von sex und gender", wie Kilian meint. Sex wird in gender hineingenommen, womit sich sowohl Umfang als auch Inhalt des Begriffs gender ändern. So ist sex nicht gleich gender, sondern - wenn man so will - eine Teilmenge von gender. Dieses von Kilian fälschlicherweise ausgemachte "Ineinssetzen" beider Begriffe produziere nun eine "logische Ungereimtheit", die darin bestehe, dass gerade der Unterschied zwischen beiden "aufgehoben" werde, über den sich gender zuallererst konstituiere, "nämlich als Gegenpart zu sex in dem Oppositionspaar Natur vs. soziale Konstruktion". Dass gender allerdings in diesem Sinn von sex abhängt, dass also sex das tatsächlich - oder auch 'nur' logisch - Vorgängige sei, bestreitet Butler jedoch gerade. Interessant wäre hingegen die Frage, ob man davon sprechen kann, dass die an Hegel geschulte Philosophin sex in gender im Sinne der Dialektik des deutschen Idealisten 'aufhebt'. Von Hegels Dialektik ist aber bei Kilian nicht die Rede. Vielmehr argumentiert sie, sex sei "in die Konzeptualisierung von gender impliziert" und könne daher "nicht nach dem selben Prinzip konstruiert werden wie gender". Eine zweite logische Ungereimtheit des Butler'schen Ansatzes macht Kilian darin aus, dass sex "nicht von den 'im engeren Sinne sozialen Kategorien wie Recht, Ökonomie, Politik usw.' [hier zitiert Kilian Klinger, nicht Butler, R. L.] erzeugt" werde, "innerhalb derer Geschlecht als soziale Konstruktion (gender) angesiedelt" sei. Nun ist allerdings bei Butler nicht von sozialer, sondern dezidiert von diskursiver Konstruktion des Geschlechts die Rede.
Ungeachtet dieser Kritik an Kilians Butler-Kritik spricht einiges für das von ihr unter "Erweiterung" von Klingers Schema entworfene Modell, das vier Kategorien aufweist, die allesamt "Teil und Produkt der kulturellen Geschlechterordnung" sind: 1. das anatomische Geschlecht "im Sinne einer kulturell geformten biophysischen Masse"; 2. das leibliche Geschlecht, dessen leiblich-affektive Dimension die Wahrnehmung der Realität des eigenen Körpers bestimmt; 3. das psychische Geschlecht "als er- und gelebte Realität" und 4. das soziale Geschlecht, als "intrasubjektive, soziale und gesellschaftliche Dimension". Leibliche Wahrnehmung und psychische Geschlechtszugehörigkeit treten also - und darauf legt Kilian besonderen Wert - als "separate Element[e]" auf. Zwar bestehe keine "notwendige oder gar kausale Verbindung" zwischen den vier Teilaspekten der kulturellen Geschlechterordnung, doch immerhin eine "mögliche". Das überzeugt. Nicht so, wenn mit der wenig später getroffenen Feststellung, der "einzige Konnex" bestehe "zwischen den vier Komponenten und der kulturellen Geschlechterordnung", gemeint sein sollte, dass keinerlei Konnex zwischen den vier Elementen untereinander bestehen könne, also dessen eben behauptete Möglichkeit doch wieder zurückgenommen würde.
Als Fazit festzuhalten bleibt jedenfalls, dass zwar Kilians Kritik an Butlers "logischen Ungereimtheiten" nicht stichhaltig ist, ihr instruktives Modell der Geschlechterordnung jedoch Butlers gender-theoretischen Entwurf aussticht, da es sich aufgrund seiner größeren Differenziertheit als erklärungsmächtiger erweist.