Monstren der Moderne

Urs Zürchers Geschichte der Missbildungsforschung

Von Urte HelduserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Urte Helduser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 1998 wurde das Pathologische Museum Rudolf Virchows in Berlin wiedereröffnet, das der berühmte Arzt und liberale Politiker ein knappes Jahrhundert zuvor eingerichtet hatte. Mit ihren zahlreichen Präparaten von spektakulären "Missgeburten", die Virchow über mehrere Jahrzehnte hinweg zusammengetragen hatte, eignete sich seine Sammlung besonders für die Popularisierung von Wissenschaft. Die kürzliche Wiedereröffnung ist auch ein Zeichen für die Renaissance dieses spektakulären Themas. Das wiedererweckte Interesse an so genannten "Missgeburten", "Monstrositäten" oder "Freaks" dokumentiert sich in einer Vielzahl medizinhistorischer und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen der letzten Jahre. Neuere Publikationen haben sich dabei hauptsächlich auf die so genannten "Monstrositäten" des Mittelalters und der Frühen Neuzeit oder aber die "Freaks" des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts konzentriert (z.B. Lorraine Daston / Katharine Park, "Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750", 2002; Rosemarie Garland Thomson (Hg.), "Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body", 1996).

Die jetzt im Campus Verlag erschienene Dissertation Urs Zürchers, "Monster oder Laune der Natur. Medizin und die Lehre von den Missbildungen", schließt diesbezüglich eine Lücke. Sie schildert die im ausgehenden 18. Jahrhundert einsetzende und im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichende Verwissenschaftlichung des Diskurses über Monstrositäten und die Herausbildung einer einheitlichen Missbildungsforschung, die antritt, um die bis in die Antike reichende Faszination für das Monströse aus der religiösen Spekulation in das Reich der Wissenschaft zu überführen, gewissermaßen eine Verschiebung von der Theologie zur Teratologie - so der Name der entstehenden Spezialdisziplin. Die hier anklingende Fortschrittsgeschichte ist allerdings in den letzten Jahren hinterfragt worden. Die amerikanischen Wissenschaftshistorikerinnen Lorraine Daston und Katherine Park, die sich bereits seit langem mit dem Thema beschäftigen, haben ihre eigene frühere Position revidiert und darauf hingewiesen, dass bereits in Mittelalter und Früher Neuzeit religiöse und medizinische Erklärungen für Monstrositäten durchaus miteinander einhergehen können. Als Fortschrittsgeschichte wird die Geschichte der Teratologie von Zürcher auch nicht erzählt. Dass in den Untersuchungszeitraum wichtige Entdeckungen fallen, die die Grundlage heutigen Wissens über Fehlbildungen darstellen, bleibt eher implizit, vielmehr erscheint die Geschichte der Teratologie als Geschichte wechselnder kultureller Diskurse, wissenschaftlicher Sichtweisen und Imaginationen, eine Geschichte, in der sich auch der Forschungsgegenstand selbst zu verschieben scheint: Sind es im 18. Jahrhundert die monströsen Doppelbildungen bei Totgeburten, die bei Naturforschern und Ärzten die Frage der (Wider-)Natürlichkeit der Monstrosität aufwerfen, so richtet sich das teratologische Interesse am Ausgang des 19. Jahrhunderts vornehmlich auf die "kleineren" körperlichen Deformationen, die angesichts der neuen chirurgischen Möglichkeiten auch geheilt oder zumindest gelindert werden können.

Die medizinische Beschäftigung mit Missbildungen erreicht im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt, der sich in der Herausbildung der Teratologie manifestiert. Aber auch über die disziplinäre Spezialisierung hinaus entfalten die Missbildungen bedeutsame wissensbildende Impulse. Paradigmatisch für das 19. Jahrhundert lassen sich am Beispiel der Missbildungsforschung wissenschaftliche Verfahrensweisen der Klassifizierung und Systematisierung der Natur beobachten. Zürcher liefert damit eine beeindruckende, akribisch recherchierte und anregende Fallstudie zur Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts.

Formal grenzt Zürcher seinen (mehrfach überschrittenen) Untersuchungszeitraum 1880 bis 1914 durch den hier vorherrschenden Umgang der Forscher mit toten, präparierten Embryonen ab. Hierbei handelt es sich um eine wissenschaftliche Arbeitsweise, die angesichts religiöser Sanktionen erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in größerem Umfang praktiziert werden konnte, ihre "Blütezeit" in einem massenhaften Anwachsen bzw. Verbrauch von Präparaten im 19. Jahrhundert erfährt und zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch andere, experimentelle Verfahren abgelöst wird.

Diese Tatsache bildet aber nur eine vage Klammer für die Bestimmung des Untersuchungszeitraums, ausgehend hiervon arbeitet Zürcher die Entstehung eines spezifischen wissenschaftlichen Stils heraus, dessen charakteristische Merkmale insgesamt als kennzeichnend für das 19. Jahrhundert betrachtet werden können. Zürcher nimmt dabei drei sich in der historisch-chronologischen Betrachtung abwechselnde Untersuchungsperspektiven ein. Unter dem Blickwinkel "Wissen und Beobachten" verfolgt er die Arbeitsweisen, wie beispielsweise den Gebrauch des Mikroskops. Die Materialität der wissenschaftlichen Objekte, des missgebildeten Körpers und seine Visualität untersucht er unter der Perspektive "Körper und Dinge". Schließlich bezieht Zürcher im Anschluss an neuere emotionstheoretische Forschungsansätze auch die Ebene der "Affekte und Distanzen" ein, die der monströse Gegenstand in besonderer Weise hervorbringt. Hierzu werden nicht nur medizinische Quellen untersucht, sondern auch literarische Texte von Diderot über Jean Paul bis Franz Kafka einbezogen. Zürchers Interesse gilt nicht zuletzt auch den realhistorischen wie literarischen Forscherfiguren, die er anschaulich und eingehend portraitiert.

Am Beginn der Untersuchung steht die "Theoria Generationis" Caspar Friedrich Wolffs (1759). Mit seiner Auffassung, dass entstehendes Leben keineswegs in einem Kern vorgebildet ist, wie die Verfechter der Präformationstheorie meinten, sondern vielmehr das "Geformte aus dem Ungeformten" entstehe, vertritt Wolff ein frühes Entwicklungsmodell. Nach diesem muss kein "göttlicher Plan" mehr die Missbildungen verantworten, sondern diese sind durch generative Gesetze erklärbar. Auch wenn Wolff zeitgenössische wissenschaftliche Kapazitäten wie Albrecht von Haller nicht zu überzeugen vermochte und er seinen Plan einer "Theoria Monstrorum" nicht mehr verwirklichen konnte, legt er nach Zürchers Auffassung den Grundstein für eine Verwissenschaftlichung des Missbildungsdiskurses. Die neue Lehre konstituiert sich nicht zuletzt über die Widerlegung der Vorstellung des "Versehens", nach der Missbildungen auf plötzliche erschreckende Eindrücke Schwangerer zurückzuführen sind.

Für die Nachfolger wie Blumenbach, Henke, Meckel oder Soemmering geht es darum, die Missbildungen zu systematisieren und in eine Ordnung zu bringen. Als einer der Ersten setzt Samuel Thomas Soemmering dazu systematisch Abbildungen ein und entwickelt hiermit eine spezifische Ikonografie der Missgeburten. Hier sieht Zürcher auch einen neuen Wissenschaftlertyp am Werk: Für diesen haben die Monstrositäten ihren einstigen Schrecken verloren, die Forschungsobjekte erhalten nun eine spezifische Ästhetik. Zürchers eindrücklichster Beleg für diese neue Haltung ist eine Romanfigur Jean Pauls: "Dr. Katzenberger", ein Arzt und Missbildungssammler, der seine Fundstücke wie "Kuscheltiere" mit sich herumträgt. In Katzenberger und seinen realhistorischen Zeitgenossen äußere sich ein "mentaler Wandel", der die Grundlage für die Entwicklung moderner Wissenschaft bilde - mit allen Konsequenzen. Die Frage, ob sich von der "affektiven Enthemmung", die sich bei Missbildungsforschern des frühen 19. Jahrhunderts, wie Johann Friedrich Meckel (der seinen eigenen Vater zum anatomischen Präparat verarbeitet) beobachten lässt, eine Linie zu den nationalsozialistischen Menschenversuchen ziehen lässt, möchte Zürcher nicht eindeutig beantworten. Allerdings stellt er fest, dass in dem Moment, wo die Missbildung nach Regeln der Natur (statt als "Widernatürliches") erklärt werden kann, zugleich ein neuer, für die weitere Entwicklung folgenreicher Gedanke aufkommt, den er ebenfalls zunächst im Feld der Literatur, bei Diderot, nachweist: den Gedanken der "Züchtung", das heißt auch der Züchtung von Missgeburten.

Was in Diderots "Gesprächen mit D'Alembert" noch Gedankenspiel ist, wird ein paar Jahrzehnte später Realität. Der Zoologe Geoffroy Saint-Hilaire führt eine Versuchsreihe mit Hühnereiern durch, in der es ihm gelingt, missgebildete Embryonen zu erzeugen. Etienne Geoffroy Saint-Hilaire und sein Sohn Isidore werden als eigentliche Begründer der Teratologie in die Medizingeschichte eingehen. Zwar führten die beiden Ansätze ihrer vornehmlich deutschen Vorgänger weiter, für die Radikalität ihres Unternehmens bedurfte es jedoch nach Auffassung Zürchers des gesellschaftlichen Kontexts des revolutionären Frankreichs. Ihr Ziel einer endgültigen Erledigung der Präformationstheorie begründen Vater und Sohn mit einem aus der Revolution abgeleiteten Fortschrittsverständnis. Das Bestreben der beiden, der Teratologie einen festen Platz in den Naturwissenschaften zu sichern, ist mit der weiteren Systematisierung des Missbildungswissens verbunden: Isidore entwickelt ein Schema zur Klassifikation der Missbildungen nach dem Vorbild Linnés, in das nun alle Formen der Monstrositäten eingeordnet werden können. Die Monstrositäten haben damit endgültig ihren Platz in der natürlichen Ordnung gefunden, sie können nun in ihrer eigenen Regelhaftigkeit erkannt werden.

Fortan funktioniert die Erforschung von Missbildungen über das Verhältnis und die Grenzen von Normalität und Abweichung. Dieser Aushandlungsprozess wird gerade durch die Beunruhigung darüber angetrieben, dass eine klare Grenzziehung nicht möglich scheint. Die Lehre von den Missbildungen ist, wie Zürcher mit Bezug auf Jürgen Link überzeugend feststellt, gewissermaßen beispielhaft für das im 19. Jahrhundert etablierte wissenschaftliche Paradigma des Normalismus. Und so diffundiert das teratologische Wissen im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Bereich des Sozialen: Bei Sektionen von Verbrechern werden körperliche Abweichungen festgestellt, die den moralischen korrespondieren sollen, in der Gestalt von Wasserköpfen oder "Cretins" entdeckt Virchow die Parallelen zu "pathologischen Rassen". Unter dem Einfluss der Evolutionstheorie richtet sich der teratologische Blick nun vor allem auf solche Missbildungen, an denen die Grenzziehung zwischen Tier und Mensch problematisch wird: den "Haar-" und "Schwanzmenschen". Die hier wiederum zutage tretenden "Vermischungsängste" scheinen die bisherige Zielrichtung der Teratologie radikal in Frage zu stellen: War sie angetreten, um die "Menschlichkeit" der Monstrositäten zu beweisen, so enthüllt sich nun die Nähe des Menschen zum Monster.

Am Ausgang des 19. Jahrhunderts markieren diese Tendenzen letztlich das Ende der Teratologie. Zunächst kommt es zu einer Popularisierung der Wissenschaft von den Fehlbildungen, wie Virchow sie mit der Zurschaustellung seiner anatomischen Sammlung betreibt, dies führt jedoch dazu, dass die wissenschaftliche Beglaubigung des Monströsen vor allem dazu dient, die Attraktivität von Menschen mit Missbildungen für das aufkommende Showbusiness zu steigern. Berühmtes Beispiel hierfür sind die "siamesischen Zwillinge" Chang und Eng, die auf mehreren Europa-Touren als Sensationen gezeigt wurden und zugleich Ärzten wie Virchow als Forschungsobjekt dienten. Während Virchows pathologisches Museum bereits kurz nach seiner Eröffnung 1899 mit dem Tod des berühmten Arztes 1902 nachlassende Besucherzahlen vermerken muss und schließlich verkleinert wird, erlebt der amerikanische Zirkus Barnum & Bailey zur gleichen Zeit mit seinen Freakshows auf Europa-Tournee große Erfolge. Nach Zürcher ist damit aber auch schon der Höhepunkt der Missgeburten-Schaustellerei erreicht. Die Monstrositäten verlieren ihre Attraktionskraft in dem Augenblick, in dem als Folge des Ersten Weltkriegs die Verkrüpplung zur Massenerscheinung wird: Beispielhaft zeigt Zürcher das an Hermann Uthan, einem bekannten, noch von Virchow begutachteten armlosen Künstler. Für Uthan bedeutet der Krieg die Wandlung vom Schauobjekt zum gefragten Experten: Er verdient sich seinen Lebensunterhalt fortan mit Vorträgen vor Kriegskrüppeln.

Die einstmals mit revolutionärem Fortschrittsgeist versehene Teratologie erfährt im beginnenden 20. Jahrhundert ihren endgültigen Niedergang. Für den Zerfall der Disziplin macht Zürcher zunächst nur wissenschaftsinterne Gründe geltend. Danach ist es der Teratologie nicht gelungen, sich aus den verschiedenen Fachgebieten zwischen pathologischer Anatomie und Zoologie als einheitliches Fach zu institutionalisieren. Ebenso habe sie den Anschluss an die medizinische Entwicklung verpasst, indem sie wichtige Paradigmenwechsel nicht mitvollzogen habe. Mit dem Abbruch seiner Untersuchung zur Zeit des Ersten Weltkriegs lässt Zürcher eine Schlussfolgerung aus, die seine Analysen selbst nahe legen. So stellt er fest, dass das Missbildungswissen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts laut Zürcher "immer öfter in einem rassistischen und eugenischen Zusammenhang" erscheint. Zürchers Untersuchung endet - ohne dass der Autor diesen Zusammenhang herstellt - gewissermaßen dort, wo die teratologische Fortschrittsgeschichte sich endgültig in ihr Gegenteil verkehrt: bei den in den 1920er Jahren entwickelten Konzepten zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" und ihrer Umsetzung im Nationalsozialismus.

Titelbild

Urs Zürcher: Monster oder Laune der Natur. Medizin und die Lehre von Missbildungen 1780-1914.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
318 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3593376318

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