Vom Verlust einer Heimat

Georg Stefan Troller erinnert sich an "Mein Wien 1918-1938"

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Alfred Polgar stammt das titelgebende Sprachbild: Wien, das "fidele Grab an der Donau". Der Schriftsteller war einer aus der Stammbelegschaft eines der berühmten Wiener Caféhäuser, wo man nach dem Untergang des kuriosen Staatskonstrukts Österreich-Ungarn über einen neuen Lebenssinn für die einstige Hauptstadt dieser Gemütsmonarchie nachdachte. Über das Café Central hatte Polgar gar eine eigene "Theorie des Café Central" verfasst (die gibt's im Internet unter http://www.ulri.ch/kopfweh/polgar.htm), in dem das melancholiegetränkte Selbstverständnis deutlich wurde. "Das Café Central ist nämlich kein Caféhaus wie andere Caféhäuser, sondern eine Weltanschauung, und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen." Es liegt "unterm wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit. Seine Bewohner sind größtenteils Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen." Da klingt jenes verlorene Gefühl einer Kultur der Selbstverzweiflung an, dem Georg Stefan Troller mit diesem Buch auf der Spur ist. So wie er es auch als Autor vieler Fernsehfilme und -dokumentationen war. Als er in den 60er Jahren einen Nachruf auf das Café Central filmen wollte, verweigerte die zuständige Gebäudeverwaltung, die von einem Café Central noch nie etwas gehört haben wollte, den Zugang zum Gebäude, für das Abrissplanungen vorlagen. Listig ließ sich daraufhin das Filmteam im Gebäude einsperren. Und wie es dann in Wien so sein kann: In irgendwelchen Ecken fanden sich die alten Caféhausmöbel, sorgsam gegen eine Wand gestapelt. Das Geschirr lagerte in den Kellerräumen, "sogar eine Originalnummer des expressionistischen Sturm finden wir dort ... Und Schachspiele. Und Säulen. Und Mantelständer. Und eine Kassa." Und als am Morgen die Kamera das geisterhafte Erinnerungsbild festhält, schwenkt sie "hinunter auf ein Mosaik, das wir unter dem Bürstenteppich entdeckt haben: 'Eingang Café Central.'"

Die Episode schildert Troller im ersten Akt seiner Wien-Erinnerungen: "Der Neubeginn". Gemeint sind jene Nachkriegsjahre, in denen die selbstverlorene Stadt nach dem Untergang der K.u.k.-Monarchie eine neue Identität zu schaffen sich müht. Ein seltsames Bemühen, wo doch nichts in diesem Land so war, wie es vorgab zu sein. "Überall Verfälschung und Verschweigen am Werk. Niemand war, was er schien."

Trotzdem folgt ein zweiter Akt mit dem Titel "Die goldenen Jahre". Es sind die vier Jahre von 1925 bis 1929. Der 1921 geborene Troller lässt nun auch die ein oder andere eigene Erinnerung einfließen, etwa den regelmäßigen sonntäglichen Mittagscorso mit dem Onkel "über den Graben in die Kärntnerstraße, wobei diese ausschließlich auf der rechten Seite zu begehen ist! Gelangt man dann zur Oper, so hat man wiederum linkerhand längs dem Ring bis zum Schwarzenbergplatz zu lustwandeln, aber keinen Schritt weiter." Der Onkel ist natürlich Schriftsteller, wenn er auch nur "nebenberuflich Autor und Bohèmien sein durfte." Spürbar ist allüberall, angefeuert durch den angespannten Gegensatz zwischen dem 'roten Wien' und der schwarzen Republik ein heftiger Antisemitismus. Doch nach Wienerart werden die Probleme nicht angegangen, sondern ästhetisiert - wie in Form der Bettelautomaten, die an den Hauswänden der Inneren Stadt befestigt werden. Auf Knopfdruck spenden sie Münzen, die vorher einige Gutbetuchte hineingegeben haben ...

Es folgt der dritte Akt "Die Krise". Sie ist sichtbar im Stadtbild: "Bettler hockten an den belebten Ecken der Inneren Stadt ... Am verstörendsten die psychotischen 'Schüttler' aus dem Weltkrieg, mit ihren unbremsbar wackelnden Köpfen" und "das wachsende Heer der Obdachlosen." Zugleich greift die "Politisierung aller gesellschaftlichen Erscheinungen radikal um sich. Und Politisierung heißt zu dieser Zeit: Polarisierung." Troller ist zu dieser Zeit in der "bündischen Jugend" organisiert: "Mit einem Schlag fühlte ich mich aufleben ... Wir waren inmitten von lauter fanatischen Mitläufern, sowas wie ein Stück Basisdemokratie: Frühhippies, Ökologen, Aussteiger, Widerständler, Selbstverwirklicher."

Der vierte Akt, "Die Illusion", beginnt mit dem Machtwechsel in Österreich. "Nun sind die Vaterländer an der Macht. Ein Konkurrenzunternehmen zu Hitler, kein Gegenentwurf." Aber es scheint das rückwärtsgewandte Ständesystem immerhin besser als das, was im Nachbarland Realität ist. Und so erreicht das Kulturleben "sogar einen spannenden und ach wie ephemeren Höhepunkt, dank dem Zustrom von Flüchtlingen aus dem Dritten Reich." Dazu Karl Kraus: "Die Ratten betreten das sinkende Schiff!" Theater und Kabarett erleben einen letzten Höhepunkt. Der junge Troller besucht das Kabarett ABC, ein winziges Kellertheater, wo "zu dieser Zeit Jura Soyfer der Wundermann" ist. Die Kabarettisten Grünbaum und Farkas spielen ein melancholische Endspiel. Bertolt Brecht damals über diese Illusion: "Die einen hatten viele Waffen und benutzten sie, die anderen hatten nur den Verstand als Waffe und benutzten ihn nicht. Ich fuhr niedergedrückter weg aus dem Land der Kultur, als ich dort angekommen war - aus dem Land der Barbarei."

So folgt der fünfte Akt, "Das Ende". "Leo reisefertig", so lautete der codierte Funkspruch, mit dem der Einmarsch Hitlers angekündigt wurde. Bereitwillig gibt die Stadt sich hin: "Überall Jugendliche mit Hitlerbildern. Hausierer mit blechernen Hakenkreuzen - wo kamen die nur so schnell her? Hupen der Autos. Klimpern der Straßenbahnen. Später Fackelzüge. Juden werden angepöbelt, jüdischen Geschäften die Auslagen eingeschlagen." Besonders beliebt bei den Jublern sind die "Reibpartien". Jüdische Bürger müssen unter der Aufsicht "von Steirerg'wandeln, Zopferlstrümpfen", Insignien der österreichischen Nazis, mit bloßer Hand die Straße von den Parolen der Schuschnigger reinigen. "... es war wie beim Heirigen ... es war a riesiger Heiriger ...!", erinnerte sich später Qualtingers "Der Herr Karl".

Die traurige Exilzeit, die nun auch für Troller beginnt, hat er gemeinsam mit Axel Corti in dem außergewöhnlichen TV-Dreiteiler "Wohin und zurück" (1982-1985) beschrieben. "'Eine Heimat', lasse ich später die Hauptfigur in einem Film sagen, 'läßt sich so wenig wiederfinden wie eine Kindheit.' Etwas war auf alle Zeiten dahin und würde nicht mehr wiederkommen."

Zuweilen meint man hinter der knappen, konzentrierten Sprache die Stimme des TV-Mannes Georg Stefan Troller zu hören. Ein vertrautes Wiedererkennen für diejenigen, die Fernsehserien wie "Pariser Journal" oder "Personenbeschreibung" noch kennen.

Titelbild

Georg Stefan Troller: Das fidele Grab an der Donau. Mein Wien 1918-1938.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2004.
300 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3538071888

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