Die kulturimperialistische Ausbeutung des Feminismus

Die Gender-Theoretikerin Judith Butler verknüpft Ethik und politische Theorie

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unlängst sorgte der biologistisch unterfütterte Sexismus des Präsidenten der amerikanischen Eliteuniversität Harvard für negative Schlagzeilen. Hatte Lawrence Summers doch behauptet, Frauen seien in den technischen und den Naturwissenschaften vor allem aufgrund ihrer "inhärenten Veranlagung" weniger stark vertreten als ihre männlichen Kollegen. Schon früher hatte er wiederholt den Unwillen weiter Kreise der amerikanischen Bildungselite erregt. So etwa, als er einem in Harvard lehrenden Schwarzen empfahl, weniger Rap-Musik zu produzieren und sich stärker der Wissenschaft zu widmen. Oder im Herbst 2002 mit der Bemerkung, die in "Kreisen fortschrittlicher Intellektueller" virulenten "zutiefst antiisraelischen Ansichten" seien "in ihrem Effekt, wenn nicht ihrer Absicht nach antisemitisch".

Zu denjenigen, die sich durch diese Worte angesprochen und provoziert fühlen, gehört die bislang weniger durch ihre Israelkritik als durch ihre führende Rolle in der gender-theoretischen Debatte der 90er Jahre bekannt gewordene Philosophin Judith Butler. Ebenso vehement wie gründlich demontiert die Mitunterzeichnerin einer am 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erschienenen Anzeige gegen die Flick-Ausstellung Summers' Antisemitismus-Vorwurf. Werde er dazu benutzt, "Israel um jeden Preis zu verteidigen", lautet eines ihrer Argumente, werde die "Schwere und Wirksamkeit" des Antisemitismus-Vorwurfs gegen diejenigen, "die Juden erniedrigen und diskriminieren, die in Europa Synagogen anzünden, die Nazi-Flaggen schwenken und antisemitische Organisationen unterstützen", "vollkommen aufgeweicht". Da der Antisemitismus-Vorwurf ein "äußerst wichtiges und wirksames Instrument" zur Bekämpfung des "vorhandenen und zukünftigen Antisemitismus" sei, solle er nicht als "Mittel zur Unterdrückung politischer Kritik" verwandt werden.

Butlers 2003 zuerst in der "London Review of Books" und ein Jahr später in dem Sammelband "Precarious Life" veröffentlichter Essay über "Juden, Israel und die Risiken öffentlicher Kritik" liegt nun - schon wenige Monate nach der englischsprachigen Buchpublikation - zusammen mit ihren anderen dort veröffentlichten politischen Aufsätzen unter dem Titel "Gefährdetes Leben" in deutscher Übersetzung vor.

Wie der Titel andeutet, reagieren die nach dem 11. September 2001 geschriebenen Essays auf die Erfahrung "gesteigerter Verwundbarkeit und Aggression". Butler eröffnet den Band mit einem Text über die Anfeindungen, die man in den USA zu gewärtigen hat, wenn man Essays wie die vorliegenden veröffentlicht. Denn fragt man, wie die Terroranschläge vom 11. September zustande kommen konnten, wird man schnell als excusnik oder refusenik stigmatisiert. Butler zögert nicht, diese Frage dennoch zu stellen - und zu beantworten. Wobei sie betont, die Ursachen der Anschläge zu benennen bedeute nicht, den "Ursprung der Verantwortlichkeit" für sie zu lokalisieren oder ihnen gar ethisch indifferent gegenüberzustehen. So distanziert sie sich auch von "linke[n] Analysen, die schlicht behaupten, dass die USA selbst säten, was sie nun geerntet haben". Bei "politische[r] Paranoia" diesen Typs handele es sich um die Fortschreibungen der Fantasien US-amerikanischer "Allmacht" unter anderen Vorzeichen. Ihrer eigenen, weit überzeugenderen Analyse zufolge ist die Politik der USA nicht die Ursache des Terrorismus, sondern eine seiner Entstehungsbedingungen und zwar nicht eine hinreichende, sondern eine bloß notwendige. Butler ist unter anderem darum weit davon entfernt, die Attentäter mit ihrer Analyse zu exkulpieren: Auch wenn Handlungen nicht "selbsterzeugt", sondern bedingt sind, liege die Verantwortung - und wie im Falle der Anschläge vom 11.9. die Schuld - bei den Handelnden.

Das Herz des Buches, also das, worum es Butler im Kern geht, wird jedoch nicht im ersten, sondern vor allem im letzten Essay näher entwickelt: Eine "gewaltfreie Ethik", die Butler auch während der von ihr in den Adorno-Vorlesungen 2002 geübten "Kritik der ethischen Gewalt" im Auge gehabt haben mag und die sie nun in Auseinandersetzung mit Emmanuel Levinas als "Grundriß einer möglichen jüdischen Ethik der Gewaltlosigkeit" positiv entwirft, um einer "ethischen Empörung" den Weg zu bereiten, welche "sich unverkennbar für einen Anderen, im Namen eines Anderen einsetzt", wie es - zumindest in Hinblick auf die Frage, wie auf den Terrorismus zu reagieren sei - wenig konkret heißt. Butler bezweifelt, dass mit "militärischer Gewalt und Vergeltung" auf die terroristische Herausforderung reagiert werden müsse. "Abscheu, Trauer, Angst und Furcht" sollten vielmehr Anlass sein, darüber nachzudenken, wie andere die durch die USA verübte "willkürliche Gewalt" erleben und durchleiden, wie sie in einem der anderen Beiträge darlegt.

Damit schlägt sie einen Bogen von der Trauer um die eigenen Toten und von der "sozialen Verwundbarkeit" des je eigenen Körpers, den sie als "Ort des Begehrens und der physikalischen Verwundbarkeit, als Ort einer öffentlichen Aufmerksamkeit charakterisiert, zur Politik. Womit sie KritikerInnen, die ihr vorwarfen, den Körper im Diskurs aufzulösen, ebenso überraschen dürfte, wie diejenigen, welche Butlers dekonstruktive Theorien schon in den Höhen des Elfenbeinturms verschwinden sahen, an dessen Spitze sich nur noch ätherische Engelswesen der Scholastik tummeln. Als "in der öffentlichen Sphäre geschaffenes soziales Phänomen" gehöre der jeweilige Körper "mir und doch nicht mir", wie sie derridaesk formuliert. Um jedoch - anders als Derrida es getan hätte - das Dunkel, das dieser Formulierung innewohnt, sogleich aufzuklären: "Als Körper, der von Anfang an der Welt der anderen anvertraut ist, trägt er ihren Abdruck, wird im Schmelztiegel des sozialen Lebens geformt." Diese allen gemeinsame Verletzlichkeit könne die Grundlage für Forderungen nach "nicht-militärischen politischen Lösungen" werden. Denn sie biete die "Möglichkeit von Gemeinschaft auf der Grundlage von Verletzbarkeit und Verlust". Um deren Realisierung eine Chance zu geben, fordert Butler, eine Kultur und eine Politik zu entwickeln, "in der das Erleiden unerwarteter Gewalt und der Verlust an Menschenleben und die in Aggression bestehende Gegenreaktion als Norm des politischen Lebens nicht akzeptiert sind". Das alles klingt sehr schön, und zu schön, um erfolgversprechend zu sein. Dass die von Butler vorgeschlagene pazifistische Haltung islamistische Terroristen beeindrucken und von weiteren Versuchen abhalten wird, den von ihnen ersehnten Gottesweltstaat herbeizubomben, muss denn doch bezweifelt werden. Offenbar gibt sie sich mit der Hoffnung zufrieden, den mordenden Fischen so das Wasser abzugraben.

Im umfangreichsten Beitrag "Unbegrenzte Haft" erweist sich Butler als Staatstheoretikerin. Unter kritischer Bezugnahme auf Foucaults Spätwerk und seinem staatstheoretischen Modell der Gouvernementalität entwickelt sie ihre These von der "Erweiterung der Souveränität im Feld der Gouvernementalität" nicht nur am Beispiel des Kriegsgefangenenlagers in Guantanamo, wo sie "ein geisterhaftes und eindrückliches Wiederaufleben der Souveränität inmitten der Gouvernementalität" ausmacht.

Ebenfalls in diesem Essay wirft sie die Frage auf, was die "Bedingungen der Möglichkeit für eine internationale feministische Koalition" sind. Butlers Antwort fällt allerdings eher vage und allgemein aus. Bei dem Versuch, "die globalen Dilemmata zu denken, mit denen Frauen konfrontiert sind", gelte es "die Erfordernisse der kulturellen Übersetzung [zu] berücksichtigen, von denen wir annehmen, daß sie Teil einer ethischen Verantwortung sind". Die einst trennscharfe und scheinbar unverrückbare Grenze zwischen 'Erster' und 'Dritter' Welt sei heute zu einem "dicht bevölkerten Ort" geworden, der die Identität durcheinander wirbele, die so "eine durchaus vielversprechende Richtung" nehmen könne. Die feministische Aufgabe bestehe darin, die "primäre Prägbarkeit und Verletzbarkeit" aller Menschen anhand einer "Theorie der Macht und Anerkennung" zu durchdenken. Das, so Butler, wäre ein Weg, "den ein politisch informierter psychoanalytischer Feminismus beschreiten könnte". Im Anschluss an Chandra Mohantys Essay "Under Western Eyes" (1991) warnt sie dabei vor der Vorstellung eines "Fortschritt[s] im Feminismus", der die Feminismen des Trikont mit der Elle 'westlicher' Feminismen misst. Denn feministischer Fortschritt bestehe nicht notwenig in der "Anpassung an sogenannte westliche Vorstellungen von Handlungsfähigkeit und politischer Mobilisierung".

Umso mehr beunruhigt Butler die "Verwerfung von Alterität im Namen des 'Feminismus'" durch die Bush-Regierung zur nachträglichen Rechtfertigung des - so Butler - "strategisch und moralisch schlecht[en]" Afghanistankrieges. Die "plötzliche Bekehrung der Bush-Regierung zum Feminismus", welche die Ansätze zur Befreiung der Frauen in Afghanistan - die zumindest für Kabul unbestreitbar sind und von Butler auch nicht bestritten werden - als Rechtfertigung "für ihr militärisches Vorgehen gegen das Land" nahm, zeige, wie sehr der Feminismus als Trope eingesetzt werde, die dazu beitragen solle, die "Überheblichkeit der Ersten Welt" wiederherzustellen. Um dieser "kulturimperialistische[n] Ausbeutung des Feminismus" ein Ende zu bereiten, sei es heute wichtiger denn je, "die Ressourcen feministischer Theorie zu nutzen, um zu überdenken, welche Bedeutung die Bindung, das emotionale Band, das Bündnis und die Beziehung haben, wenn sie im Horizont eines antiimperialistischen Egalitarismus gedacht und gelebt werden". So berechtigt Butlers Besorgnis über Vereinnahmungsversuche feministischer Anliegen durch die Bush-Regierung ist, so vermisst man doch ein Wort darüber, dass die vehementeste Kritik an patriarchalischer Geschlechter-Apartheid vor allem islamisch geprägter Kulturen nicht etwa von 'westlichen Kulturimperialisten', sondern vielmehr von Frauen kommt, die dem terroristischen System von familiärem Diktat, Jungfernschaftsmanie, Zwangsheirat und 'Ehren'-Morden ausgesetzt waren, aus dem sie sich nur unter Gefahr für Leib und Leben befreien konnten. Nicht auf 'westliche' Werte berufen sich diese Frauen, sondern auf universell gültige Menschenrechte.

Titelbild

Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays.
Übersetzt aus dem Englischen von Karin Wördemann-Wingert.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
178 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3518123939

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