Warum 'Falscher Hase' lebenserhaltend sein kann

Der neue Roman von Kerstin Hensel erzählt von verlorenen Helden ohne Identität

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Berliner Autorin Kerstin Hensel ist bekannt für ihren sarkastischen und witzigen Ton, ihre Vorliebe für skurrile Figuren und abgründige Geschichten. Nach ihrem letzten Erfolg "Im Spinnhaus" (2003) legt sie nun einen neuen Roman vor, der auf gewohnt unterhaltsam-hintersinnige Weise zwei Geschichten erzählt: die von Heinrich Paffrath, seines Zeichens Brandmeister, und die seines Sohnes Heini, (Volks-)Polizist.

Mai 2003: Kommissar Heini Paffrath, wohnhaft in Berlin, geht in Rente. Sein letzter Tag in der gewohnten Ordnung endet in einem Besäufnis, sein erster Tag ohne äußere Struktur endet in einer Katastrophe. In diese zwei Tage fügen sich Rückblenden ein, die das Leben von Heini Paffrath erzählen, angefangen bei den Eltern.

Bereits der Vater wird durch das Uniformierte in der Ordnung gehalten, steht beim Reichstagsbrand dabei und hält sich an die Vorgaben. Dafür erhält er eine Auszeichnung, die ihn nach Kriegsende den Traumjob Feuerwehrmann kostet. Seine Frau Martha bringt Heini ("Der erste und beste Name, der den Eltern einfiel.") mitten im Bombenhagel zur Welt und dank ihrer Erfindungsgabe die Kleinfamilie durch die Kriegszeit. Ihre besondere Spezialität ist 'Falsche Hase', dessen Zutaten ständig wechseln, der aber trotzdem zum Familienlieblingsessen avanciert.

Heini, vom unpersönlichen Vater dominiert, ist überfordert von der Leere in und um ihn herum und entwickelt eine Zuckersucht, die ihn für alles entschädigt. Er hält sich fern von allen und sieht sich "einfallslos kleingetauft herumstehen, alles erfüllend, was die Pflicht ihm auftrug, brav, leergebrannt."

Dann bricht die Liebe in Gestalt einer Zahnarzthelferin namens Maschula in sein Leben, zieht ihn in den anderen Teil der Stadt, weg vom bisher Gewohnten, den Eltern, dem Physik-Studium. Heini, von dieser Liebe vorangetrieben, wird Volkspolizist. Als er es endlich wagt, die Frau anzusprechen, hat sie Kinder und ist verheiratet. Heini kann nicht mehr zurück, denn inzwischen gibt es die Grenze. Er richtet sich in seinem Viertel ein, isst täglich bei Märri in der Kneipe das Familiengericht 'Falscher Hase', trinkt dazu Bier und versucht in der Ordnung zu bleiben.

Ihn hält die Uniform aufrecht, das System, die täglichen Rituale im Büro, die Gänge durch sein Viertel Pankow. Doch dann beginnen seine Rachevorstellungen für die unerwiderte Liebe wirre Blüten zu treiben: Realität und Wahn vermischen sich, er glaubt Maschula erschlagen und im Schönholzer Park begraben zu haben. Seitdem lebt er in ständiger Angst, Grab und Leiche könnten entdeckt werden. Er baut sich einen Altar mit den Insignien dieser Liebe: Kakteen, Kerzen, eine Nierenschale mit Zahnpasta.

Die Bekanntschaft mit einem Ehepaar Block lässt ihn taumeln vor Glück und umso tiefer fallen, als diese ihn aufgrund seines merkwürdigen Verhaltens nicht mehr hereinlassen in ihre warme Speckfettduft-Welt. Nach ihrem mysteriösen Tod auferstehen sie durch Heini: Er zieht mitsamt Altar und Maschula-Geist in die Wohnung der Blocks, belässt die Namen an der Klingel und erzählt auf dem Revier von seiner Familie. Zu Hause redet er mit Eva und Bogumil, isst mit ihnen, schläft mit ihnen, sie gesellen sich zu ihm und Maschula dazu, "denn es galt kein Tod für die Liebe."

Die politischen Ereignisse 1989 stellen sein Leben auf den Kopf, er findet sich nur schwer zurecht, klammert sich an den gewohnten Dienst: "Streifegehen Überprüfungen In-Gewahrsam-Nehmen. Klassenauftrag erfüllen. Befehle empfangen." Reaktive neurotische Symptome werfen ihn vorübergehend aus der Bahn, aber er fängt sich wieder und richtet sich ein in der neuen Zeit, irgendwie.

Der Wahn endet in einer Katastrophe, ausgelöst durch das Erreichen des Rentenalters. Heini Paffrath findet nicht in ein Leben jenseits seiner Polizeiuniform hinein, er ist Polizist, sonst nichts. Und als ihm diese Rolle genommen wird, hat er ausgespielt.

Vater und Sohn, zwei, die von nichts gewusst haben würden. Zwei Biografien, die nach außen Makulatur zeigen. Innen ist es hohl, dort treiben Gespenster ihr Unwesen.

Kerstin Hensel versteht sich darauf, die Geschichte von Heini Paffrath mit viel Komik, absurden Verwicklungen und einer stilsicheren Sprache zu erzählen. Ob das allerdings noch die Wirklichkeit ist, über die "der bücherlesende Mensch in den meisten Fällen [...] etwas erzählt haben möchte, was ihm sonst keiner sagt", wie die Autorin in einer Poetikvorlesung einen Aspekt ihres Schreibens formulierte, sei dahingestellt. Das makabre Ende, die in symbolischen Handlungen vollzogene innere und äußere Befreiung Heini Paffraths, in der alle Motive und Bilder des Romans aufeinander treffen, läuft in eine ruhige Geste aus, die das Bedrohliche hinter der äußeren Ordnung nicht aufheben kann. Aber das ist auch nicht Hensels Absicht.

Titelbild

Kerstin Hensel: Falscher Hase. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2005.
221 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3630872069

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