Die deutsche 'Winckelmannomania'

Zu Esther Sophia Sünderhaufs Studie über die Rezeption von Winckelmanns Antikenideal in Deutschland (1840-1945)

Von Barbara StieweRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Stiewe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Was Lohse für die Goethe-Rezeption des Nationalsozialismus konstatierte, gilt [...] ebenso für die Winckelmann-Rezeption: Winckelmann wird 'aus der Geschichte herausgelöst und zum Mythos stilisiert. Deutsches Sendungsbewußtsein und deutscher Führungsauftrag', den man für Winckelmann behaupten zu können glaubte, 'wird wie selbstverständlich als deutscher Anspruch auch auf die Gegenwart und Zukunft übertragen'". In diesem Sinne feiert der Kunsthistoriker Eberhard Preime 1934 in seiner Schrift "Winckelmann und das deutsche Schicksal" Winckelmann als einen "Prophet[en]", dessen "Sein und Wirken [...] in dem Richtunggebenden, dem Steuernden und Lenkenden nach dem grossen Ziele der deutschen Erfüllung gelegen hätte", nämlich im Nationalsozialismus. In einem weiteren um 1940 verfassten Beitrag Preimes taucht dieser Gedanke einer auf Winckelmann projizierten Sendung erneut auf: Hier wird der deutsche Kriegseinsatz euphorisch als "die deutsche Mission in Europa" gedeutet, die schon einmal durch Winckelmanns Wirken durchgeführt worden sei.

Wie aber konnte es zu einer derart pervertierten Instrumentalisierung Winckelmanns im nationalsozialistischen Deutschland kommen? Dies ist die untergründige Leitfrage, die der vorliegenden Dissertation von Esther Sophia Sünderhauf zur deutschen 'Winckelmannomania' zugrunde liegt. Die kulturgeschichtliche Studie umfasst die Jahre von 1840 - dieser Zeitpunkt markiert für die Kunsthistorikerin den Ausgangspunkt des kollektiven kulturellen Gedenkens an Winckelmann - bis zum Fall des totalitären Regimes im Frühjahr 1945. Durch eine Analyse prominenter zeitgenössischer Diskurse in den Altertumswissenschaften sowie in Kunst und Kultur verfolgt Sünderhauf die Entstehungsgeschichte der nationalen Vereinnahmung von Winckelmanns 'klassischem' Griechenideal und seiner Person in Deutschland. Dazu wertet sie umfangreiches und heterogenes Text- und Bildmaterial aus: Vorträge, programmatische Denkschriften, Zeitungsartikel, Vorworte zu Bild- und Sammelbänden sowie Fotografien, Zeichnungen, Plakate und Karikaturen, die sich allesamt dadurch auszeichnen, dass sie "Bestandteil der kulturellen Kommunikation waren". Ihre Ergebnisse präsentiert Sünderhauf in fünf nach thematischen Gesichtspunkten strukturierten Großkapiteln, die im chronologischen Verlauf die einzelnen Rezeptionsstufen der Popularisierung von Winckelmanns idealistischem Kunst- und Schönheitsbegriff bis zur ideologischen Funktionalisierung seiner Person im Dritten Reich markieren.

Stufe 1: Die drei Jahrzehnte vor der Reichsgründung - Kunstarchäologie im Konfliktfeld von Historie und Leben

Positivismus, Nationalismus und Naturalismus haben maßgeblich dazu beigetragen, den ehemals vorbildlichen Klassizismus als leblos, unfruchtbar und nicht zeitgemäß zu brandmarken. Damit ist die Deutungshoheit der sich auf Winckelmanns Ideen und Werte berufenden Kunstarchäologie sowie ihre gesellschaftliche Relevanz in Frage gestellt worden. Die Verteidiger des idealistischen Antikenideals (wie z. B. Ernst Curtius) versuchen, diesen Angriff abzuwehren, indem sie den belebenden Einfluss des Griechentums auf die eigene Nationalkultur hervorheben und Winckelmann als Begründer einer lebendigen Kunstarchäologie darstellen. Sie argumentieren, durch die griechische Antike habe die deutsche Kultur 'zu sich selbst' gefunden, und betonen die Funktion der antiken Kunst als 'Bollwerk' gegen hässlichen Naturalismus und zersetzenden Subjektivismus.

Stufe 2: Das Kaiserreich - Griechische Antike als Kulturfaktor

Die bereits in Ansätzen in der ersten Phase konstatierte, von den Altertumswissenschaften ausgehende Enthistorisierung, Aktualisierung und Vitalisierung Winckelmann'scher Ideen wird in einer als zersetzend und entsinnlichend wahrgenommenen Zeit, die nach historischen Leitbildern sucht, popularisiert und stärker in der Öffentlichkeit ausgetragen: Winckelmann bildet nun den Referenzpunkt für eine lebendige und sinnliche, auf die Gegenwart bezogene 'Anschauung' der griechischen Antike. Gleichzeitig kann eine Neuformulierung des Winckelmann'schen Klassizismus-Begriffs in Richtung 'Klassizität' festgestellt werden: "Als 'antikisch' g[e]lten nun jene Werke, deren monumentale Form ethische Gehalte vermittel[t]".

Stufe 3: Die Lebensreformbewegung - (Antike) Körperschönheit als Bildungsfaktor

In der sich um 1900 formierenden und bis weit in die Weimarer Jahre hineinreichenden Lebensreformbewegung wird die romantische Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, Jugendlichkeit, Reinheit, Einfachheit und Ganzheit - wie die Kunsthistorikerin an vielen Text- und Bildbeispielen zeigt - auf ein gesundes und anmutiges, monumental-heroisches Griechentum projiziert, das als Ideal einer neuen, im persönlichen Leben realisierbaren und insbesondere auf die Ausbildung des Körpers ausgerichteten Menschenerziehung gefeiert wird. In diesem Zusammenhang avanciert Winckelmann zum Wegbereiter einer spezifisch deutschen Umsetzung des antiken Kalokagathie-Gedankens und zum "Vorläufer der 'Zurück-zur-Natur-Bewegung'".

Stufe 4: Der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik - Nutzbarmachung des griechischen Formwillens für ein reformiertes deutsches Staatswesen

Die für die Lebensreformbewegung charakteristische Tendenz zur Trivialisierung und Typisierung Winckelmanns ist auch in der Zeit des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik weiter zu verfolgen. Als Spezifikum dieses Zeitraums lässt sich eine antidemokratische Vereinnahmung Winckelmanns feststellen: Gerade namhafte Archäologen wie Ludwig Curtius oder Ernst Langlotz fordern unter Rückkoppelung an die Form- bzw. Ordnungsgesetze der griechischen Klassik, das Individuum stärker in eine organische, hierarchisch gegliederte Gemeinschaft einzubinden. In diesem Sinne versteht Langlotz die griechische Klassik als "Inbegriff der Vollendung nicht individueller, sondern über-individueller Gegebenheiten durch die Gunst der geschichtlichen Stunde".

Stufe 5: Das Dritte Reich: Nationale Vereinnahmung Winckelmanns als Prophet der deutschen Sendung

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben Altphilologie, Althistorie und Archäologie ihre Stellung als Leitwissenschaften eingebüßt und an Prestige verloren. Gerade vor diesem Hintergrund zeigt die Autorin für die letzte Phase ihres Untersuchungszeitraums, dass viele Altertumswissenschaftler aus strategischen Gründen Winckelmanns Antikenideal den gesellschaftlichen Zielen der Machthaber - Begründung eines nationalen Selbst- und deutschen Kulturbewusstseins - anpassen. Dazu bietet sich geradezu der im 'Dritten Humanismus' propagierte Gedanke einer ethisch-politischen Erziehung durch die Antike an - wiederum unter Berufung auf Winckelmann. Während des Zweiten Weltkrieges wird die ordnende Rolle der griechisch-antiken Werte für die Neugestaltung der europäischen Kultur in der Nachkriegszeit stärker in den Vordergrund gerückt; gleichzeitig beruft man sich auf Winckelmann als Ausgangspunkt der mit dem 'Dritten Reich' zu vollendenden 'deutschen Wiedergeburt'.

Sünderhaufs Dissertation ist gut lesbar und eingängig geschrieben. Sie bietet zahlreiche Anregungen für alle, die sich für das Zusammenspiel von Antikenrezeption und Nationalgedanken in Deutschland zwischen 1840 und 1945 interessieren. Die Autorin hat viele 'abseitige' Zeitschriften und Publikationen, aber auch unveröffentlichte Quellen gesichtet und ausgewertet sowie ein reichhaltiges Bildmaterial, das den Gang ihrer Argumentation unterstützt, zusammengetragen. Es ist ihr (fast immer) gelungen, die in Text und Bild enthaltenen Denkkategorien auf idealistische Modelle zurückzuführen, die man (teilweise auch nur unterschwellig) als spezifisch Winckelmann'sches Denken deutete und den gegenwärtigen Bedürfnissen anzupassen suchte. Dies ist als eine beachtliche Leistung zu würdigen, zumal sich Sünderhauf den Weg durch den langen und geschichtsträchtigen Zeitraum von 100 Jahren und durch vier politische Systeme bahnen musste. An manchen Stellen wäre dennoch ein entschiedenerer, konziserer Blickwinkel der Autorin und eine stärkere Zuspitzung der Darstellung auf die Rezeption Winckelmann'scher Denkmuster wünschenswert gewesen; so aber liest sich die Studie in manchen Unterkapiteln wie eine Geschichte der Kunstarchäologie, an anderen Stellen wie eine Darstellung deutscher Griechensehnsucht in Kunst und Kultur.

Die Präsentation eines reichhaltigen, oftmals nur schwer zugänglichen Bildmaterials stellt eine enorme Bereicherung der Studie dar. Entsprechend hätte man sich eine Edition unpublizierter Quellen oder einen Abdruck entlegener Texte gewünscht, zumal wenn diese von Sünderhauf für die Interpretation immer wieder herangezogen werden.

Trotz der angemerkten Kritikpunkte und kleineren Schwächen in der Endredaktion (wie Zitation von Primärtexten aus der Sekundärliteratur) ist Sünderhaufs Studie zur deutschen 'Winckelmannomania' eine interessante und gelungene Arbeit, die wichtige Impulse für weitergehende Forschungen zur deutschen Antikenbegeisterung liefert.

Titelbild

Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840-1945.
Akademie Verlag, Berlin 2004.
413 Seiten, 64,80 EUR.
ISBN-10: 3050041005

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