Im Osten

Pawel Huelles Roman "Castorp"

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pawel Huelle, geboren 1957, hat mit seinem Prosadebüt "Weiser Dawidek" (polnisch 1987; deutsch 1990) schlagartig auf sich aufmerksam gemacht. Die Geschichte über einen jüdischen Jungen, der übersinnliche Fähigkeiten hat und eines Tages plötzlich verschwindet, wurde bei ihrem Erscheinen als Meisterwerk gefeiert. Bereits in diesem Roman war das Geschehen in Huelles Geburtstadt Danzig angesiedelt, und die Stadt an der Ostsee ist seitdem zur offenen Protagonistin seines Werks geworden, unter anderem auch im Erzählband "Silberregen".

In seinem neuen Roman "Castorp" (im Original 2004) erinnert Huelle nun daran, dass Hans Castorp aus Thomas Manns "Zauberberg" in seiner Jugend einige Semester in Danzig studiert hat, wie Mann selbst in seinem Roman kurz berichtet. Huelle nimmt dies zum Anlass, den jungen Castorp während seiner Lehrjahre nach und durch Danzig zu begleiten: 1904 verlässt Castorp das heimatliche Hamburg und setzt nach Danzig über, um am dortigen Polytechnikum Schiffbau zu studieren. Der wissenschafts- und technikgläubige Hans Castorp muss hier manches lernen, und dies nicht nur an der Hochschule. Er verliebt sich in eine junge Polin, Wanda Pielecka, doch die Liebe bleibt unerfüllt. Er wird schließlich sogar krank und sucht Rat bei einem Arzt (die Genesung erfolgt dann übrigens etwas gar problemlos). Der Roman, der nebenbei auch ein wenig ein Stadtführer durch das alte Danzig ist, endet damit, dass Castorp nach vier Semestern Studium nach Hamburg zurückkehrt.

Man hat Huelles Roman sogleich und vielfach als eine Replik auf Thomas Mann gelesen und nach dem intertextuellen Dialog mit dem "Zauberberg" gefragt. Dabei hat der Roman durchaus auch einen Eigenwert. Besonders schön zeigt sich dies in der komplexen Darstellung des "wilden Ostens". Schon Onkel Tienappel hatte Castorp vor dessen Abreise nach Danzig gewarnt. Der Osten ist nicht etwa nur polnisch konnotiert. In Danzig und Umgebung gibt es auch Kaschuben - was Castorp freilich zuerst lernen muss; und in der Perspektive mancher ist die Stadt im Grunde genommen einfach langweilige deutsche Provinz, wo es "nicht einmal ein ordentliches Theater" gibt. Der Osten ist hier vieles zugleich, das Fremde und Unbekannte, aber auch das Irrationale, die Form- und Ordnungslosigkeit. Überdies lassen sich diese Eigenschaften nicht so einfach jeweiligen Völkern zuschreiben. Hans Castorp wird in die vielschichtige Wirklichkeit Danzigs hineingezogen und droht sogar seine bisherige (vermeintliche) innere Stabilität und die Kontrolle über sich einzubüßen. An Castorps Leiden ist also beileibe nicht nur die unglückliche Liebe zu Wanda Pilecka schuld, die übrigens mit einem Russen (noch mehr Osten!) liiert ist. Überhaupt widerspiegeln auch die im Roman auftretenden Figuren je unterschiedliche Facetten dieser ganz eigenen östlichen Realität. Da sind Frau Wibbe, die deutsche Logisgeberin Castorps in Danzig, und ihr kaschubisches Hausmädchen. Da gibt es aber auch den Vertreter einer Holzgesellschaft, der geschäftlich unterwegs ist und zu Castorps Reisegenossen wird: Vielleicht kann er als Holländer sich eben am ehesten eine kühle Außensicht erlauben und die Kolonisierung gerade auch des europäischen Ostens durch die "entwickelten" Völker scharf kritisieren. Vieles muss Hans Castorp hier lernen, und letztlich werden die Leser zu Zeugen einer Art Osterweiterung von Castorps Bewusstsein.

Gleichzeitig lässt sich immer wieder, gewissermaßen am Horizont der privaten Lehrjahre Castorps, der geschichtliche und politische Hintergrund vernehmen, was allerdings leicht überlesen werden kann. So steuert Europa unruhigen Zeiten entgegen, worauf Huelle aber nur knapp anspielt: Castorp erblickt auf seiner Reise nach Danzig in der Ferne - im Übrigen bezeichnenderweise nur mit Hilfe eines "mächtigen Fernrohrs" - für einen kurzen Moment den russischen Kreuzer "Aurora"; Castorp kann aber die kyrillische Aufschrift "ABPOPA" gar nicht lesen. Die Szene ist sehr erhellend: Castorp, dessen Lehrzeit hier noch ganz am Anfang steht, liest den Schiffsnamen als lateinische Buchstaben; die Bedeutung dieses Augenblicks entgeht ihm damit völlig. Nur wenig später wird nämlich genau dieses Kriegsschiff im Russisch-Japanischen Krieg zum Einsatz kommen; schließlich, am 25. Oktober 1917, wird die Aurora in Petersburg mit einem Kanonenschuss das Signal für den Sturm auf den Winterpalast und damit die Oktoberrevolution geben. Solche sehr feinen Hinweise auf manche Ereignisse, die jenseits der eigentlich im Großen und Ganzen unspektakulären Lehrjahre Castorps stattfinden und dann letzlich doch ins Private ausstrahlen können, sind ein großer Vorzug des Romans. Leider drohen sie aber immer wieder in den Schatten des "Zauberbergs" zu geraten: Thomas Manns Roman als Lektürehintergrund ist gleichermaßen eine Chance wie auch eine Gefahr für den Roman.

Gewiss mag sich manches von Huelles Themen oder Motiven bei einer erneuten Lektüre des "Zauberbergs" noch entfalten. Aber es ist nicht sicher, ob der Leser sich den zusätzlichen Genuss wird holen wollen, wenn er dafür noch einmal zu Thomas Manns dickem Buch greifen muss. Freuen wir uns über den glücklichen Einfall Huelles, dem jungen Castorp in Danzig nachzuspüren; der "Zauberberg" sollte dabei aber nicht als einziger Deutungshorizont herangezogen werden. Schließlich liegt Danzig im Flachland und um einiges weiter östlich als Davos.

Titelbild

Castorp. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
252 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3406529275

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch