Offene Labore

Über einen herausragenden Sammelband zur Praxis und Insistenz des Experiments aus dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem vorliegenden Band macht der Berliner Kadmos Verlag seinem Vornamen "Kulturverlag" alle Ehre: Er schärft sein Profil durch hochwertige Forschungsbände zu Themen der gegenwärtigen Kulturwissenschaft. Im Singular distanziert sich diese vom losen Verbund der Kulturwissenschaften und versteht sich als Äquivalent zur Naturwissenschaft im Singular - der Physik. Wie diese kennt auch die Kulturwissenschaft zwar ein Spektrum an nicht zu vereinheitlichenden Methoden, aber doch eint die an ihr beteiligten Forschungsrichtungen ein Grundverständnis: Die kulturelle Welt ist aus der Geschichte rekonstruierbar, ebenso wie die Welt aus den physikalischen Prinzipien präjudizierbar ist. Nur über die Methode der Rekonstruktion lässt sich bekanntlich trefflich streiten.

Dass es ein Jenseits dieses Streites gibt, beweist der vorliegende Band "Kultur im Experiment", der von den drei Mitarbeitern des Forschungsprojektes am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, "Experimentalisierung des Lebens", herausgegeben wurde: Henning Schmidtgen, bereits durch seine Dissertation zu Guattaris Lacan-Deutung in Erscheinung getreten, Peter Geimer, ausgewiesener Bild(medien)theoretiker, und Sven Dierig, dessen Habilitationsschrift zur Physiologie im Berlin des 19. Jahrhunderts in diesem Jahr erscheinen wird. Das Projekt wurde von der Volkswagen-Stiftung im Rahmen des Förderprogramms "Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften" unterstützt, welches sich besonders transdisziplinärer Fragestellungen annimmt, um eine Korrektur an der geläufigen, monodisziplinären Förderpraxis vorzunehmen. Nicht nur die Frage, auch die Aufbereitungsform der Forschergruppe ist innovativ: Im Rahmen des "Virtuellen Labors" werden diejenigen Praktiken erfasst, welche die Physiologie in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts zu einer der maßgeblichen jener Lebenswissenschaften machte, denen Foucault und Agamben die Konstitution des Menschen respektive des Lebendigen selbst zuschrieben, und die sich nicht nur in Texten, sondern vor allem in Laboratorien, in deren Versuchsaufbauten und Apparaturen niederschlugen. Diese materiellen Wissenskollektive sind seit geraumer Zeit online zu besichtigen (http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/) Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes, der Ergebnisse aus der Forschergruppe sowie ihrem Umfeld und nicht zuletzt den federführenden Wissenschaftlern auf diesem Gebiet enthält, steht das Experimentieren selbst. Flächendeckendes Kennzeichen des Kartesischen Zeitalters ist der Beweis mittels Evidenz. Evidenz aber wird hergestellt, benötigt Techniken der Sichtbarmachung, der Registratur etc. Experimentieren ist der Weg, auf dem aus weißem Rauschen Information und aus Versuchen eben jene Evidenz generiert wird. Maßgeblich daran beteiligt sind statistische Verfahren, die vor allem in der experimentellen Psychologie Anwendung finden, Automaten jeglicher Art, Gehilfen des Experimentators und nicht zuletzt Versuchstiere.

Eröffnet wird der Band mit einem Beitrag von Bruno Latour, der bereits 1979 in jungen Jahren durch seine ethnomethodologischen Laborbeschreibungen "Laboratory Life" zusammen mit Steve Woolgar nicht nur das Kopfschütteln der Labormitarbeiter geerntet haben mag, sondern vielmehr einen Paradigmenwechsel - nun der Wissenschaftstheorie selbst - herbeiführte und den Blick auf die materiale Topografie des Wissens, auf die Schreiboberflächen und Orte der Kommunikation (im unmetaphorischsten Sinn) lenkte. Seinen Humanismus hat Latour dabei jedoch nicht verloren, und so mahnt sein Beitrag auch die Aufmerksamkeit gegenüber höchst gegenwärtigen Experimentalpraktiken an: Wir alle nehmen schon längst Teil an mithin kaum mehr zu kontrollierenden 'Freilandversuchen', in denen der gesamte Erdraum als Labor fungiert: "Experimente", so Latour, "werden heute im Maßstab 1:1 und in Echtzeit durchgeführt".

Selbst ein Experiment stellt der Beitrag von Timothey Lenoir und Casey Alt dar, die versuchen, Molekülstrukturen in Beziehung zu setzen mit postdekonstruktivistischen Prinzipien in der Architektur auf der Grundlage bildgebender Verfahren. Leider zerfällt der Beitrag, gemäß seiner Autoren, erkennbar in zwei Teile, sodass es dem Band nicht zuträglich ist, der bereits 2003 in der amerikanischen Originalfassung in einem Sammelband zum Metapherntransfer zwischen der Architektur und den Naturwissenschaften erschien. Äußerst gelungen hingegen ist der Beitrag des Autorenduos Joseph Vogl und Armin Schäfer der Bauhaus-Universität Weimar. Sie entreißen Alwin Mittaschs Fund dem Vergessen, dass es noch vor seiner Anerkennung unter den Physikern Nietzsche war, der die Vorstöße Julius Robert Meyers nicht nur zur Kenntnis nahm, sondern sogleich in eine allgemeine - Kultur und Natur übergreifende - Theoriekonstruktion namens "Wille zur Macht" umsetzte. Erst durch Meyer konnte der endgültige Bruch mit dem Aristotelischen Weltbild erfolgen: An die Stelle von "Ursache gleich Wirkung" setzte Meyer die bis dato unerhörte Annahme einer Auslösekausalität, in der noch so kleine Potenziale Energiemengen weit höheren Ausmaßes freisetzen können. Nietzsches neue Ontologie, die sich entlang der Lektüre Meyers entwirft, markiert den Höhepunkt just eben jenes Jahrhunderts, in dem die in Erregung versetzten und leicht zur Explosion zu bringenden sozialen Massen zum Gegenstand von Statistik und Manipulation werden - das (öffentliche) Labor steht in Flammen.

Ein weiterer Höhepunkt des reichhaltigen Bandes ist der längste und zugleich älteste Beitrag darin: Auf 1997 datiert die Arbeit von Daniel Todes zu "Pawlows Physiologie-Fabrik". Eine Fabrik waren die Labore des russischen Reflexologen in vielerlei Hinsicht: Die Tiere, vor allem Hunde, wurden wie am Fließband für die Versuche präpariert. Pawlows Institut in St. Petersburg war spezialisiert auf die Herstellung von verschiedenen "Hunde-Technologien", also von Tieren mit unterschiedlichen Modifikationen. Besonders ertragreich erwies sich die Produktion eines isolierten Magens, um Verdauungssekrete an der Außenseite des Tierkörpers aufnehmen zu können. Nicht nur der Verkauf der präparierten Hunde, vor allem auch die Magensäfte brachten dem Institut erhebliche Summen ein. Selbst die Tätigkeit der Laborangestellten war fabrikmäßig, nämlich arbeitsteilig strukturiert, und gar die Dissertationen ließ der Fabrikdirektor nach Plan und in Serie produzieren.

Die Beiträge der drei Herausgeber vermessen nun dezidiert das Plateau des Lebendigen im 19. Jahrhundert von seinen Rändern her: Dierig nimmt sich der subtilen Verflechtung von Visionen antiker Körperaskese und den Versuchsanordnungen zur Messung körpereigener Ströme in der Forschung von Du Bois-Reymond an. Gymnastik wird zum Bestandteil der Laborpraxis, in welcher der Versuchsleiter mit Muskelkontraktionen seiner Arme dem Galvanometer die Messdaten liefert. Die spannungstechnisch notwendige Nacktheit übersetzt sich dabei in die Darstellung attischer Männlichkeit, und "der vollends geübte Experimentator wird selbst zum Instrument". Geimers Beitrag widmet sich einem zunächst recht skurril anmutenden Essay des Wiener Physiologen Exner "Zur Physiologie des Fliegens und Schwebens in den bildenden Künsten" von 1882, der unter anderem den scheinbar schwebenden Putten Raffaels durch Berechnungen von Größe, Gewicht und Fluggeschwindigkeit die Fähigkeit zum Fliegen abspricht. Wie Exners vergleichende Anatomie ergibt, müsse es sich bei beiden Engelsfiguren wohl eher um Meeresbewohner in ihrem Element handeln. Zu Recht besteht Geimer darauf, dass Exners Beitrag, ungeachtet des (freiwilligen oder unfreiwilligen) parodistischen Effekts, exemplarischer Ausdruck einer Wissen(schaft)skultur ist, welche die Natur penibelst durchleuchten wollte und sich dabei früh auf Bildmaterial stützt, das als solches immer gattungsfremd ist. Schmidgen schließlich fokussiert Versuchsanordnungen im Hinblick auf deren technische Bedingtheit, mit denen sich eine bereits frühe Problematisierung von Forschungsdesign artikuliert. Besonders Chronografen verbürgten die Exaktheit der Messung. Wie an den Bahnhöfen und in den Sternwarten wurde sie auch im psychophysischen Labor zum maßgeblichen Instrument der Objektivierung. In je feineren Zeiteinheiten sie jedoch zu messen erlaubten, in desto größerem Maße wurde der Experimentator, der über das Zusammentreffen des Ereignisses mit einem Zeitpunkt entschied, zum Störfaktor. Doch nicht die Austreibung des Menschen aus dem Labor zugunsten der Exaktheit war die Folge, sondern die Integration des Fehlers als konstitutive Bedingung des Physiologischen.

Die insgesamt zwölf Beiträge des Bandes repräsentieren trotz der thematischen Bandbreite eine Perspektive auf Kultur: Wem die Chiffre der Industrialisierung nichts mehr sagt, wird hier Erlösung finden. Denn es muss irgendwann um 1870 gewesen sein, als nicht nur die heutige Wissenschaft der Kultur erfunden wurde, sondern zuallererst ihr Gegenstand hervorgebracht wurde - experimentell. Mit dem überraschend preiswerten Schwergewicht hat man das Muster einer Kulturwissenschaft in der Hand, die nicht vor der Genealogie ihre Gegenstandes zurückschreckt.

Titelbild

Henning Schmidgen / Peter Geimer / Sven Dierig (Hg.): Kultur im Experiment.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2004.
464 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3931659666

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