„Haß auf Teutonisches“

Wolfgang Hildesheimers Erfahrungen als deutscher Schriftsteller

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Edgar Hilsenrath

Aus der Deckung gehen

„Wenn ich mich frage, worin mein Judentum besteht, so finde ich keine wirklich befriedigende Antwort. Ich weiß nur, daß es besteht. Ich bin in ihm nicht verwurzelt, von ihm nicht beherrscht, aber ich fühle mich als Jude.“ So lautet der tastende Beginn von Wolfgang Hildesheimers Vortrag „Mein Judentum“, den er am 16.4.1978 im Rahmen einer Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks hielt. Auch dieser Text ist ein Schlüsseldokument, weil Hildesheimer, der seine jüdische Identität und seine Emigrationserfahrungen in den vorangegangenen Nachkriegsjahrzehnten eher diskret thematisiert hatte, mit seiner Publikation endgültig aus der Deckung trat.

Seine frühere Entscheidung, den Beitrag „Die vier Hauptgründe, weshalb ich nicht in der Bundesrepublik lebe“ besser doch nicht zu veröffentlichen, hing möglicherweise auch mit der besonderen Vorsicht zusammen, mit der ein jüdischer Autor in Deutschland publizistische Entscheidungen zu fällen hatte, wollte er sich nicht neuerlichen Ausgrenzungen und Anfeindungen ausgesetzt sehen.

Doch während Hildesheimer diesen Vorläufertext noch als eine Art Affekthandlung betrachtet haben mochte, die er aufgrund des Regierungswechsels in Bonn vorerst besser für sich behielt, ging er 1978 dazu über, derartige Rücksichten fallen zu lassen. Schließlich hatte auch Adenauers Rücktritt nichts an Hildesheimers nüchterner Feststellung vom Oktober 1962 geändert: „Zwar ist den Ergebnissen demoskopischer Untersuchungen nach nur die knappe Hälfte [der Deutschen], nämlich 463 von 1000 Befragten ‚betont antisemitisch‘, aber das ist ja auch genug, vor allem, wenn man an die vielen Unbetonten denkt.“ Immerhin gebe es auch immer noch „die Verfechter der Theorie, daß alle Juden ausgerottet werden müßten. Dieser Ansicht huldigen vielleicht nur 10 bis 20 Prozent aller Deutschen, aber auch das ist Grund genug, sich vor Deutschland zu fürchten“.

Erfahrungen mit dem deutschen Antisemitismus

„Ich kenne nicht mehr Juden als ein Christ, und mit denen, die ich kenne, spreche ich niemals über Judentum, die Basis meiner Freundschaften und Bekanntschaften hat damit nichts zu tun. Eher stoße ich im Negativen und aus Zufall auf mein Teilhaben an dieser Gemeinschaft, dann nämlich, wenn ich durch beunruhigende oder böse Nachrichten alarmiert werde“, schreibt Hildesheimer in „Mein Judentum“. Nämlich „etwa wenn ich in der Zeitung lese, daß die Frankfurter Unterwelt zu einem unverhältnismäßig großen Prozentsatz aus Juden besteht“.

Hildesheimer bekennt, er fühle sich gegenüber „der Masse der differenzierungsunfähigen und differenzierungsunwilligen Zeitungsleser“ machtlos. Schließlich könne er ihnen „nicht Bloch oder Wittgenstein oder Freud oder Leo Baeck als Gegenbeispiele vorhalten. Ich weiß, daß von einer bestimmten Stufe im allgemeinen Bewußtsein abwärts Spinoza oder Bergson nicht gegen Schmul und Itzig aufkommen. Aber welche Konsequenzen soll ich daraus ziehen? Ich weiß schließlich aus Erfahrung, daß das Irrationale, der negative Affekt nicht überwindbar sind“.

Daraus resultiert eine fortwährende Wachsamkeit, und Hildesheimer bringt sie gegen Ende seines Vortrags für sich persönlich auf die kurze Formel: „Was bedeutet mir also mein Judesein, sofern es mir überhaupt etwas bedeutet? Wahrscheinlich nicht mehr und nicht weniger, als die Konsequenz aus der Haltung der anderen zu uns zu ziehen und einer Veränderung dieser Haltung immer – ich sage: immer – gegenwärtig zu sein“.

Man muss sich die Bedeutung dieser Erkenntnis klar machen: Hildesheimer betont, dass sein Judesein allein darin bestehe, in einer permanenten Gegenwärtigkeit von Gefahr, einer ständigen Alarmbereitschaft leben zu müssen. 1978 war dies aus dem Mund eines bereits 1966 mit dem Bremer Literaturpreis und dem Darmstädter Georg-Büchner-Preis ausgezeichneten, voll in der Bundesrepublik etablierten Autors keine Kleinigkeit.

Doch Hildesheimer geht in seinem Vortrag sogar noch weiter, um das in Deutschland zu jener Zeit noch vorherrschende philosemitische Nachkriegsideologem einer „deutsch-jüdischen Symbiose“ zurückzuweisen. Zunächst liefert er eine Aufzählung nuancierter antisemitischer Umgangsformen, wie er sie seit 1945 hatte kennen lernen müssen: „Immerhin habe ich aus den Nürnberger Jahren viel gelernt. Ich glaube, daß mein Sensorium für die diversen Manifestationen des Antisemitismus mit meinem jeweiligen Gegenüber so gut ausgebildet ist wie mein Differenzierungsvermögen zwischen Juden und Nichtjuden“. Hildesheimer verrät seinen Rundfunk-Zuhörern, dass es in Deutschland „verschiedene Grade, ja sogar Qualitäten des Antisemitismus“ gebe. „Vom offenen, unverhohlenen Haß will ich hier nicht sprechen, man braucht ihn nicht zu beschreiben“, sondern eher von den „Judenfeinde[n] wider Willen, die mitunter ihre Abneigung sogar zu bekämpfen suchen, sie aber, aus einem inneren Hemmnis, für dessen Art es vielerlei Erklärungen geben mag, nicht bekämpfen können“.

Hier kommen sie tatsächlich alle vor, „die – eher verächtlichen – Gewissensschmuggler, die Identitätskartenvorzeiger, jene, die sofort von ihren jüdischen Freunden sprechen, als hätte ich sie danach gefragt. Oder jene, die soeben gerade einen Brief von ihrem Jugendfreund Fritz Levi aus Tel Aviv erhalten haben, mit dem sie auch während der ganzen Nazizeit … etc. Dann gibt es jene mit dem leichten, doch unverkennbaren Stich, die Philosemiten verschiedener Art, jene, die noch den bewunderten Gundolf gehört haben oder mir ihre Verehrung Martin Bubers kundtun […]. Die primitivere Variante jener, die ausgerechnet mir gegenüber ihre Bewunderung der israelischen Armee ausdrücken, ist Gottseidank ausgestorben“.

Hildesheimer reagiert hier schließlich mit einer Konsequenz, die nicht nur seine Freunde aus der Gruppe 47 schockieren musste. Er grenzt sich auf die radikalst mögliche Weise von allen denkbaren philosemitischen Einschmeichelungsversuchen ab, indem er in der Charakterisierung seines Judentums betont: „Was sind wir? Ich habe nun doch eine Antwort. Wenn ein Nichtjude sie gäbe, wäre ich argwöhnisch, denn ich könnte vielleicht den Grad der Wertung nicht messen. Wir Juden sind eine Rasse, gekennzeichnet durch innere und äußere Merkmale, Eigenschaften […]. Wenn ich sie nenne, so fordere ich vielleicht Widerstand heraus. Ich spreche also subjektiv, aus eigener Erfahrung und eigener – selbstverständlich wertfreier – Beobachtung, ich meine ja nicht zuletzt mich selbst. […] Es sei hier ausgesprochen: Wir Juden sind anders“.

Dass sich Hildesheimer damit plötzlich selbst affirmativ auf jenen irrationalen Rassebegriff bezog, der einst als effektiver Vorwand zur Vernichtung des europäischen Judentums gedient hatte, sorgte für nachhaltige Verstörung. Die provokatorische Bemerkung als deutliche und symbolisch zu lesende Zurückweisung jedweder deutschen Einmischung in eine spezifisch jüdische Gesellschaftswahrnehmung zu verstehen, war jedoch berühmten Schriftstellerkollegen wie Heinrich Böll nicht gegeben.

Am 17. Februar 1979 nimmt Böll in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“unter der bezeichnenden Überschrift „Das Gelände ist noch lange nicht entmint“ Stellung zu Hildesheimers Vortrag. „In manchem möchte ich Hildesheimer widersprechen, nicht, weil’s gesagt wird, sondern weil’s auf die Juden bezogen gesagt wird, besonders seinem ‚Wir Juden sind anders‘“. Bölls besondere Verunsicherung gegenüber Hildesheimers „Rasse“-Diktum „kennzeichnet das Potential der Aufstörung, das diesen Ausführungen, wie Hildesheimer genau vorhergesehen hatte, unweigerlich hatte zukommen müssen – nicht nur im Milieu seiner Mitstreiter in der Gruppe 47, das sich selbst als ‚liberal‘ begriff“, kommentiert der Literaturwissenschaftler Stephan Braese.

Wie empfindlich Hildesheimer mit seinem ‚Schritt aus der Deckung‘ den philosemitischen Minimalkonsens im Umgang seiner deutschen Kollegen mit Juden wie ihm erschüttert hatte, markiert eine Bemerkung, die sein Freund Walter Jens noch 1996, also achtzehn Jahre nach der Sendung von „Mein Judentum“ und fünf Jahre nach Hildesheimers Tod, zum Anlass von Hildesheimers 80. Geburtstag in der „Zeit“ veröffentlichte. Inmitten schwelgerischer Emphase steht da plötzlich als winziger Einschub zu lesen: „… ungeachtet aller Einwände – zumal im Blick auf den Satz ‚Es sei hier ausgesprochen: wir Juden sind anders‘“.

Spätestens nach Auschwitz die unaufhebbare historische Erfahrungsdifferenz zwischen Juden und Deutschen endlich einmal anzuerkennen, war Jens offenbar auch hier immer noch unmöglich. Auch bei ihm konnte der jüdische ‚Freund‘ Hildesheimer offensichtlich nur so lange auf Verständnis hoffen, wie er nicht auf seiner spezifischen Erinnerung, seiner persönlichen Verfolgungsgeschichte – und damit seinem definitiven Anderssein gegenüber einem angemaßten Opfertum deutscher Kriegsheimkehrerkollegen beharrte.

Dieses Spiel machte Hildesheimer schließlich nicht mehr mit. 1983 nahm er zwar noch das Große Bundesverdienstkreuz an, nachdem ihm sein Graubündner Wohnort bereits 1982 die Ehrenbürgerschaft übertragen und er seine deutsche Staatsbürgerschaft endgültig aufgegeben hatte. Er sagte jedoch beim Festakt in Chur, wenn es ihm gegeben wäre, „in Staatsangehörigkeiten zu denken“, so hätte er die Ehrung als „Abschiedsgeschenk“ verstehen wollen. „Es ist mir aber nicht gegeben.“ Damit gelang es Hildesheimer, sich zwar in aller Form für die Auszeichnung zu bedanken, jedoch gleichzeitig jede nationale Vereinnahmung zurückzuweisen.

Im schweizerischen Fernsehen bekannte er schließlich am 19. November 1986, als man ihn fragte, ob er sich denn nun „als Schweizer oder als Bündner“ fühle: „Als Bündner. Als Schweizer fühl‘ ich mich gar nicht … Ich kann mich auch nicht als Deutscher fühlen. Ich hätte mich auch nie als irgendwas gefühlt, vielleicht fühle ich mich als Jude noch am ehesten“.

Die Ignoranz der deutschen Literaturkritik

Betrachtet man die vorausgegangene Rezeptionsgeschichte seiner Werke, die Hildesheimer 1978 mit dazu bewogen haben mag, alle bisherigen Rücksichten fallen zu lassen und als deutschsprachiger Schriftsteller, von dem viele Leser über Jahrzehnte nicht einmal geahnt hatten, dass er Jude war, endgültig aus der ‚Deckung‘ zu treten, so stößt man auf eine Kette feuilletonistischer Missachtungen.

Hildesheimers in seinem unveröffentlichen Text über die „Die vier Hauptgründe, weshalb ich nicht in der Bundesrepublik lebe“ bereits deutlich geäußerte Unzufriedenheit über die mangelnde Bereitschaft der deutschen Gesellschaft, sich ihrer verbrecherischen Vergangenheit zu stellen, fand auch im Literaturbetrieb immer wieder neue Nahrung. Hatte doch die Literaturkritik selbst die Shoah-Bezugnahmen in so herausragenden Hildesheimer-Büchern wie „Tynset“ (1965) und „Masante“ (1973), denen die Erfahrung der Nürnberger Prozesse als deutlicher motivischer Hintergrund diente und in denen die Situation als jüdischer Verfolgter und heimatloser Emigrant auf Lebenszeit manifeste Spuren hinterlassen hatte, augenscheinlich nicht einmal im Ansatz begreifen wollen.

Vielmehr sah sich Hildesheimer aggressiven Attacken wie der des deutschtümelnden Kritikers Reinhard Baumgart ausgesetzt. Ausgerechnet Hildesheimer, der so schreibt, „als ob er die deutsche Sprache von der Verhunzung durch die Nazis befreien und reinigen“ wolle, wie Henry A. Lea einmal treffend bemerkt, warf Baumgart am 3. März 1965 in seinem „Spiegel“-Verriss des autobiografischen Monologs „Tynset“ unter dem höhnenden Titel „Schlaflos schluchzend“ vor, in dem Text sei „viel falsch zurechtgeschnitztes Deutsch stehengeblieben“.

„Tynset“ und „Masante“ sind nicht nur für Lea die „wichtigsten und bedeutendsten“ Schriften Hildesheimers. Für „Tynset“ sollte ihm bereits 1966 der Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehen werden. Hildesheimer nutzte die Gelegenheit, um sich mit Büchner zu identifizieren, da bekanntlich auch der Verfasser des revolutionären „Hessischen Landboten“ zu seiner Zeit in die Schweiz geflohen war. In seiner Dankesrede übte Hildesheimer deshalb scharfe Kritik an der deutschen Justiz: „In der bitteren Erkenntnis, daß in Deutschland Selbstlosigkeit, Gerechtigkeitswille und Integrität nicht zu den Qualifikationen gehören, die zur Verwirklichung eines politischen Zieles beitragen, hat [Büchner] sich aus der Politik zurückgezogen, und wer diesen Rückzug mißbilligt, der hat die deutsche Wirklichkeit nicht begriffen.“

Dieses Statement ist mit den innenpolitischen Beobachtungen korrelierbar, die Hildesheimer 1963 von der Veröffentlichung zurückgehalten hatte: „Eine Gemeinde versucht mit allen Mitteln, ihren Bürgermeister zu halten, obgleich sie weiß, daß er Kommandant eines Konzentrationslagers und mehrfacher Mörder ist. Ein in sinistre Affären verwickelter Bundesminister wird von seiner Partei gedeckt und behält seinen Sessel so lange, bis nachweisbare Lügen ihn zwingen, abzudanken. (Aber er kommt wieder.) Ein Regierungs-Chef bedient sich in einer Parlamentsdebatte widerwärtiger unparlamentarischer Diktion, und es finden sich in den Reihen seiner Fraktion – der Mehrheit auch hier – kein Mann, der seine Worte mißbilligt, keiner, der den Mut aufbringt oder das Bedürfnis verspürt, diesen Greis zurückzuweisen“.

In einer der berühmtesten „Tynset“-Passagen wählt der einsame Erzähler vor seiner fluchtartigen Emigration in ein abgelegenes Alpendorf nachts Telefonnummern deutscher Teilnehmer. Egal, ob er „Obwasser“, „Kabasta“ oder andere ominöse Namen anruft: Er braucht lediglich anonym „es ist alles entdeckt“ in die Hörmuschel zu sprechen, um an den alarmierten Reaktionen der scheinbar zufällig aus dem Telefonbuch herausgesuchten Männer zu erkennen, dass sie frei umherlaufende Nazitäter sind. Schließlich treibt der Erzähler sein Experiment zu weit und gerät aufgrund einer unvorsichtigen telefonischen Formulierung selbst ins Zielraster der aufgescheuchten Mörder. Er benutzt sein plötzlich abgehörtes Telefon nicht mehr und wandert umgehend aus.

Als sei dies alles nicht schon deutlich genug, gab Hildesheimer 1965 in seinen „Antworten über Tynset“ noch einmal zusätzliche Lektürehilfen zu seinem eigenen Text, die auch den schwerfälligsten zeitgenössischen Rezensenten darauf stoßen mussten, was als das zentrale Thema des Buchs zu würdigen war: „Obwasser und Kabasta existieren tausendfach, ich kenne sie, ich war Simultandolmetscher in Nürnberg, war auch bei außergerichtlichen Verhören zugegen, und ich weiß auch, wer frei ausging und noch geht“.

Doch es nützte alles nichts. Der angebliche „Adorno-Schüler“ Baumgart tat Hildesheimers autobiografisch motivierte Bezugnahmen auf die NS-Geschichte kurzerhand als bloße „Weltschmerz-Rhetorik“ ab. In einer etwa zeitgleich in den„Bücherkommentaren“ erschienenen Kritik ließ Baumgart außerdem durchblicken, dass er von alledem, dessen Bedeutung er durchaus erahnte, lieber gleich gar nichts mehr hören wolle. Er warf Hildesheimer vor: „Das Unerhörte, hier in fein klischierten Sätzen behauptet, ist nicht länger unerhört, sondern lästig bekannt. […] Warum also hat ihm eine Klagemauer nur aus Geschichten nicht genügt, warum schickt er sich selbst als Maurer und schluchzend auf die Szene?“

Walter Jens blieb es schließlich vorbehalten, Hildesheimer am 19. März 1965 in der „Zeit“ auf geradezu erdrückende Weise zu umarmen. „Wozu viele Worte? Wolfgang Hildesheimer ist mein Freund“, eröffnete er seine „Tynset“-Rezension, um im von Furcht und Angst gezeichneten, schlaflosen Erzähler-Ich des Buchs einen ominösen „homo nocturnus“ zu erkennen. Hildesheimers Protagonist sei „ein meditierender Weltmönch, der seinen Atem altern fühlt; ein Mensch, den das Wissen traurig sein läßt, illusionslos und einsam […]; ein Ausgelieferter im Augenblick der letzten Sammlung; ein Redender im Angesicht ewigen Schweigens“ – und so weiter.

Hildesheimers Texte sind im Gegensatz dazu, wie auch Stephan Braese in seinen äußerst verdienstvollen Arbeiten zu betonen nicht müde wird, „angewiesen auf einen Diskussionsraum unmittelbar zum kritischen Reflexionsstand, wie er von Adorno repräsentiert worden war“. Hildesheimer musste deshalb früh erfahren, dass „jede Schreibweise, die sich der europäischen Moderne der Proust, Joyce, Beckett verpflichtet fühlte, im westdeutschen Literaturbetrieb nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen mit Beifall rechnen konnte“.

Ex-Kollegen aus der Gruppe 47, wie etwa Martin Walser, setzten sich bald für den „Sozialistischen Realismus“ ein. Sie plädierten für eine „Literatur der Arbeitswelt“ und diskreditierten das schriftstellerische Ziel, „ein Meisterwerk zu schaffen“ (Hildesheimer), mit pejorativem Unterton als „avantgardistisch“ und „konservativ“. Walser etwa polemisierte bereits zu Beginn der siebziger Jahre in Anspielung auf Beckett und den an dessen Drama „Endspiel“ anschließenden, negativ-ästhetischen Auschwitz-Diskurs Adornos gegen das „ganze Endspielspiel“.

Aus einer solchen Rezeptionshaltung heraus wurde auch Hildesheimers werkgeschichtlich eng mit „Tynset“ verflochtener Text „Masante“ von der Kritik brüsk verworfen. In diesem Buch flüchtet ein einsamer Erzähler vor bedrohlichen „Häschern“ in den abgelegenen Wüstenort Meona, dessen Name auf einen gleichnamigen Ort in Israel anspielt. Die „Häscher“, deren Verfolgung der Erzähler schließlich mittels eines vage angedeuteten Selbstmords in der Wüste endgültig zu entkommen sucht, tragen unverkennbar deutsche Namen. Ähnlich wie in „Tynset“ scheinen sie zwar fiktiv zu sein, evozieren jedoch eine literarische Typologie solcher NS-Täter, wie sie Hildesheimer in Nürnberg persönlich dolmetschen musste: „Otto Lüdig“, „Udo Kranzmeyer“ und „Diethelm Fricke“.

Abermals war es nun ausgerechnet einer der prominentesten „Adorno-Schüler“ in der deutschen ‚Edelfeder‘-Kritik, Joachim Kaiser, der Hildesheimers Buch am 14. April 1973 in der „Süddeutschen Zeitung“ verspottete: „Und wo? Und wann? Und wer? Um was geht es in, ja was heißt überhaupt ‚Masante‘? Handfeste Informationen bitte: woran sind denn die Erinnerungen, Bekenntnisse, Geschwätzigkeiten und Ängste befestigt? Darauf haben Leser ein Recht! […] Hildesheimer hat sich in einem selbstkonstruierten Labyrinth aus tiefer Resignation, überlegenem Wortspiel und Haß auf Teutonisches verlaufen, festgerannt“.

Kaiser warf Hildesheimer vor, in seinem Buch das Leid deutscher Wehrmachtssoldaten über die Gebühr missachtet zu haben: „Gespöttelt wird über […] Photos mit ‚Gruppen lachender Soldaten, denen wahrscheinlich bald nach dem Festhalten dieser Erinnerung das Lachen vergangen ist‘. Nebenbei bemerkt: tödlich vergangen ist, nämlich ‚für immer‘…“. Kaiser empörte sich: „Die ‚Bösen‘, die ‚Häscher‘, die ewigen Nazis, denen ebenso ewige Angst und Verachtung gelten: sie alle haben keine Geschichte. […] In Hildesheimers Endzeit-Welt sind die Bösen gleichsam Marsmenschen aus Germanien. ‚Häscher‘. Alles weitere Interesse gilt den Opfern.“

Offenbar hatte Kaiser in seinen angeblich einmal besuchten Adorno-Seminaren nichts dazugelernt. Seine Kritik verharrte in der literaturpolitischen Grundordnung, die Alfred Andersch bereits 1947 in seiner berüchtigten Rede über die „Deutsche Literatur in der Entscheidung“ für die künftige deutsche Gegenwartsliteratur ausgerufen hatte: Zu handeln sei dort von „unserem“ Kriegs-“Erleben“, also dem seiner deutschen Landsergeneration, vor allem aber entlastet von jeglichem „Ressentiment gegen Deutschland schlechthin“.

Schon im Mai 1955 hatte sich Kaiser anlässlich des 16. Treffens der Gruppe 47 in Berlin mit Hans Werner Richter, Heinrich Böll, Martin Walser, Günter Grass u. a. dadurch hervorgetan, im stets stolz betonten, ‚rauhen‘ „Landserjargon“ der Gruppe keinerlei mitfühlende Worte für die jüdische Opferperspektive auf die Zeit vor 1945 übrig zu haben. Als Fritz J. Raddatz damals gegenüber dem ‚weltläufigen‘ Emigranten höhnte, dass Wolfgang Hildesheimer nicht nur noch Luxus-Hotelpersiflagen schreiben möge, um die Bürgerwelt zu karikieren, räumte der Verspottete ein, ihm fehle durchaus das innere Erlebnis der Nazizeit. Die Reaktion der Runde sprach für sich: Man „lachte, aber nicht böse“, und sagte nur: „Seien Sie froh!“

Dass Kaiser in seiner „Masante“-Rezension noch rund zwanzig Jahre nach dieser kollektiven Entgleisung an seinem Ressentiment gegen den jüdischen Opferdiskurs ungebrochen festhielt, zeigt, mit welcher Sorte von Freunden es Hildesheimer im bundesdeutschen Schriftstelleralltag tatsächlich zu tun hatte.

Kaiser macht das in panischer Angst flüchtende „Masante“-Ich in seiner Kritik unter strikter Vernachlässigung des Textzusammenhangs zu einem gemütlich „weltenbummelnde[n] Ich“. Allein schon in dieser höhnischen Formulierung ist eine untilgbare Wut auf die angeblich in dandyhafter ‚Weltläufigkeit‘ umherwandelnden ‚Luxus-Emigranten‘ erkennbar. Empathie für das schwierige Exilleben jüdischer Flüchtlinge wie Hildesheimer sucht man hier vergebens. Der Rezensent macht in seiner offenen Empörung darüber, dass Hildesheimers Buch „alles weitergehende Interesse“ lediglich den „Opfern“ zubillige, außerdem deutlich, „daß jedes Buch, das hier und heute den Beifall des Unterzeichneten finden will, mehr Interesse […] an den Tätern zeigen muß: an uns“, den Deutschen, wie Braese in seiner Kritik an Kaisers Rezension herausarbeitet.

Definitiver Abschied

„Masante“ kündigte Hildesheimers Verstummen an. Hatte er doch, wie er selbst fortan immer wieder betonte, mit dem Verschwinden seines Protagonisten auch das subjektivste Schreibmotiv verloren. „Am Ende von ‚Tynset‘ hatte ich diesen Erzähler noch. Am Ende von ‚Masante‘ ist er wahrscheinlich in der Wüste verloren gegangen. Jetzt habe ich niemand mehr.“ Hildesheimer unterstrich hier noch einmal, wie schmerzhaft die Arbeit an beiden ‚Monologen‘ gewesen war: „Ich wollte mich des Erzählers berauben, denn ein drittes Buch, in dem ich die Hauptfigur bin, hätte ich wahrscheinlich gar nicht ertragen“.

Mit seinen danach noch verfassten Werken, einer Mozart-Biografie (1977) und der fiktiven Biografie „Marbot“ (1981) flüchtete sich Hildesheimer vor dem Grauen der Gegenwart in die Beschreibung lang vergangener Epochen. Schließlich kehrte der – übrigens farbenblinde – Maler Hildesheimer ganz zurück zur bildenden Kunst, von der er ja auch gekommen war. Als Maler konnte nur er allein – ein positiver Nebeneffekt seines Handicaps – die nuancenreichen Grautöne seiner Collagen erkennen. Irgendwie passte das zu seinem Schriftstellerleben: Auch die ‚Grautöne‘ seiner auf die Shoah bezogenen Prosa hatten die meisten seiner Leser ja nie wirklich gesehen.

Die schwierige literarische Bewältigung einer subjektiven Permanenzerfahrung der Katastrophe, wie sie Hildesheimer in seinem Dubliner Vortrag „The End of Fiction“ (1975) schließlich ausdrücklich im Kapitalismus identifizierte, führte den Autor zuletzt zur Anklage der ökologischen Verbrechen weltweit agierender „Häscher“. Mag Hildesheimers ökologische Kritik am rücksichtslosen Gewinnstreben, wie er sie in und seit „Masante“ immer stärker vertrat, aus heutiger Sicht als problematische Ausweichbewegung hin zu einer verkürzten Kapitalismuskritik erscheinen, so ist sie als literarisches Motiv doch nur dann zu verstehen, wenn man sie an den historischen Subtext der industrialisierten Ausrottungsmaschinerie der Nationalsozialisten zurückbindet: „Die Indianer Brasiliens rottet man aus, die Stämme ihrer Wälder werden zu Zeitungspapier verarbeitet, zu Börsenberichten, zu detaillierten Aufforderungen, in den unermeßlichen unbesiedelten Gebieten Brasiliens zu investieren, diese Rechnung geht auf“, heißt es in „Masante“. In seinem Hörspiel „Hauskauf“ (1974) schreibt Hildesheimer: „Wer braucht Luftstützpunkte, Raketenbasen, neue Reiseziele, Abschußrampen, Skipisten? Wo rücken sie nicht vor, die Ausrotter?“

Hildesheimers späte Werke wegen dieses engagierten ökologischen Ansatzes jener weinerlichen ‚Endzeitstimmung‘ zu subsumieren, wie sie in der ‚grünen‘ Friedensbewegung der achtziger Jahre zur deutschen Mode wurde, funktioniert deshalb nicht, weil seine poetische Arbeit insgesamt ein Bild des Grauens malt, dessen literarische Genese stets vom Fluchtpunkt Auschwitz bestimmt blieb. Dies zu übersehen, hieße Hildesheimers Literatur ähnlich misszuverstehen, wie es seine selbstgefälligen Kritiker in den sechziger und siebziger Jahren schon taten: „Im Begriff des ‚Ausrotters‘ werden nicht nur die modernen Vernichtungsfeldzüge gegen ethnische Minderheiten, die der ungehemmten Ausbeutung natürlicher Ressourcen im Wege stehen, mit dem Wirken der ‚Häscher‘ zusammengezogen“, schreibt Braese, „er ruft zugleich noch einmal das historische Ziel jener prototypischen Häscher-Verkörperungen auf, die das Erzähl-Ich [in „Masante“] beispielsweise durch das nächtliche Saloniki [als paradigmatischen Ort nationalsozialistischer Judendeportationen nach Auschwitz, J.S.] gehen sieht […]: die Vernichtung – Ausrottung – der europäischen Juden“.

Auch in Hildesheimers kommentierender Bearbeitung von Mozarts „Requiem“, die 1986 im deutsch-schweizerischen Fernsehen und der ARD live übertragen wurde, ist dies erkennbar. „Herr, gib ihnen die ewige Ruhe nicht“, sprach da Hildesheimer mit strenger Stimme über Mozarts elegische Musik dahin – und er meinte nicht nur die Naturzerstörer.

Der Autor dankt Silvia Hildesheimer, Dr. Christa Geitner und Stefan Ripplinger für die Informationen und die kritische Unterstützung.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien zuerst am 27. Oktober 2004 in der „Jungle World“. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung

Titelbild

Wolfgang Hildesheimer: Das Ende der Fiktionen. Gesammelte Reden.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1984.
240 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3518047124

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Titelbild

Stephan Braese: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur.
edition text & kritik, München 2001.
596 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 3825702278
ISBN-13: 9783825702274

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