Nicht dazugehören

Wolfgang Hildesheimers zweite Emigration

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Oktober 1962 erhält Wolfgang Hildesheimer (1916-1991) in Poschiavo, seinem dörflichen Exil am Südhang der Schweizer Alpen, eine Einladung zur Mitarbeit an Hermann Kestens Sammelband "Ich lebe nicht in der Bundesrepublik" (1964). Sofort beginnt er mit der Abfassung einer polemischen Abrechnung: "Die vier Hauptgründe, weshalb ich nicht in der Bundesrepublik lebe".

"Mein Gott bin ich froh, dass ich in diesem Mistland nicht mehr wohne!", schreibt Hildesheimer 1963 nach New York an Kesten, offensichtlich immer noch mitgerissen von der offenen Kritik an Deutschland, die sich in seinem radikalen Buchbeitrag Bahn bricht. Doch kurz darauf zieht er seinen Text überraschend von der Veröffentlichung zurück. Das vor 42 Jahren entstandene, literarhistorische Schlüsseldokument ist bis heute nicht vollständig veröffentlicht, kann aber in Hildesheimers Nachlass in der Berliner Akademie der Künste eingesehen werden.

Die Idee, Hildesheimers Erfahrungen als jüdischer Schriftsteller in Deutschland in der "Jungle World" zum Thema zu machen, ging von der Faszination dieser merkwürdigen Text-Geschichte aus. Angesichts des heute weltweit wieder wachsenden Antisemitismus erscheinen Hildesheimers gesellschaftskritische Beobachtungen und die Frage nach seinen persönlichen Konsequenzen besonders aktuell.

Vielleicht ist es auch als Teil dieser Schlussfolgerungen verstehbar, dass die Inhaberin der Rechte an Hildesheimers seinerzeit zurückgezogener Deutschland-Kritik, seine Witwe Silvia, nicht zustimmen wollte, sie in der "Jungle World" erstmals vollständig zu publizieren. "Die Genehmigung zum Abdruck des Textes", schrieb Frau Hildesheimer am 3. Oktober 2004 an den Verfasser dieses Dossiers, "kann ich nicht geben, auch nicht teilweise. Wolfgang Hildesheimer erlaubte die spätere Veröffentlichung nicht, da sich mittlerweile die politische Lage in Deutschland sehr verändert hatte. Zu Ihrer Orientierung: Mein Mann und ich sind nicht aus politischen Gründen in die Schweiz gezogen, sondern aus klimatischen. Alle Äußerungen W. H.s über sein Judentum wurden einzig durch Fragen der Medien ausgelöst. Für ihn persönlich war es kein Thema, wie bei andern. Er war Europäer, jüdischer Herkunft."

Wir beschränken uns also bei der Wiedergabe des Textes, der hier als Ausgangspunkt der folgenden Erörterungen dienen soll, auf diejenigen Passagen, die schon von den Literaturwissenschaftlern Henry A. Lea und Stephan Braese zitiert werden durften.

Dass Hildesheimers zweite Auswanderung aus Deutschland, die ihn 1957 mit seiner deutschen Frau in die Schweiz führte, rein "klimatischen" Gesichtspunkten folgte, wie auch Hildesheimer selbst im Interview öfters angab, kann, zumindest im Blick auf seine nachträglichen Äußerungen, auch auf soziale 'Wetterlagen' bezogen werden. Was man jüdischen Schriftstellern wie ihm und Paul Celan in den 50er und 60er Jahren gerne als 'jüdischen Verfolgungswahn' auslegte, war bereits zu jener Zeit alles andere als irreal - und ist es heute weniger denn je. Es zwingt die Betroffenen zu dem, was Hildesheimer selbst einmal augenzwinkernd das "Spurenverwischen" nannte.

Möglicherweise verschwieg Hildesheimer seine Kritik am deutschen Antisemitismus deshalb länger als geplant. Als sich das Erscheinen des Kesten-Bands 1963 verzögerte, zog er seinen Beitrag unter Hinweis auf die am 16. Oktober in Bonn erfolgte Regierungsumbildung zurück. Das ist die historische Situation, auf die sich Silvia Hildesheimers aktueller Brief bezieht: Konrad Adenauer war zurückgetreten, um das Amt des Bundeskanzlers an Ludwig Erhard zu übergeben. Dass sich Hildesheimer jedoch von diesem politischen Wechsel wirklich eine nachhaltige Abnahme des Antisemitismus in Deutschland erhoffte, den er in seinem Text so vehement angeklagt hatte, darf auch angesichts seiner späteren Publikationen zum Thema bezweifelt werden.

Hildesheimer, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus London nach Deutschland zurückgekehrt war, um von 1947 bis 1949 in den Nürnberger Prozessen als Simultandolmetscher die Aussagen der NS-Massenmörder ins Englische zu übersetzen, hatte sich zunächst entgegen den hartnäckigen Warnungen seiner Eltern aus Haifa dazu entschieden, als Schriftsteller, Kritiker, Übersetzer und Grafiker längerfristig in Deutschland zu bleiben. Hildesheimer setzte tatsächlich große Hoffnungen in den demokratischen Neuanfang nach der alliierten Befreiung des Landes. Mitte September 1949 schrieb er sogar an seine Eltern, Deutschland sei "eine Nation, die wenn auch vielleicht nicht zum groessten aber doch zum grossen Teil schuldlos ist".

Bald musste Hildesheimer jedoch feststellen, dass man ihn als deutschen Schriftsteller nur dann wirklich lobte, wenn man glaubte annehmen zu können, er habe seine konkrete Verfolgungserfahrung, die ihn und seine Familie 1933 immerhin gezwungen hatte, vor den Nationalsozialisten aus Deutschland nach Palästina zu fliehen, in seinen Texten höflich verschwiegen. Das dem, zumindest wenn man genauer nachlas, nicht so war, ignorierten die Kollegen und die Presse standhaft. Im deutschen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit und besonders in ihrem monopolisierten Karrieretrittbrett, der Gruppe 47, bei der Hildesheimer 1951 zum ersten Mal auftrat, waren selbstbewusste jüdische Emigranten bestenfalls geduldet.

Sein ehemaliger Nürnberger Dolmetscherkollege Henry A. Lea nimmt an, Hildesheimer sei schließlich deswegen abermals emigriert, "weil er mit den Bemühungen der Bundesrepublik, mit der Nazi-Vergangenheit fertig zu werden, nicht zufrieden war". Zumindest nachträgliche Äußerungen, die nahe legen, dass er vielleicht doch nicht nur wegen des schlechten Wetters aus Deutschland ausgewandert war, existieren durchaus. Anfang Mai 1958 schreibt der Schriftsteller an seine Mutter: "Die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik wird - fürchte ich - schreckliche Konsequenzen haben, und es scheint, als seien schon einige Leute wieder daran, zu emigrieren. [...] Wir sind wirklich zur rechten Zeit weggezogen. [...] Es sieht wirklich so aus, als würde Deutschland wieder faschistisch, vielleicht diesmal ohne Antisemitismus und Konzentrationslager, aber doch schlimm genug".

Vier Jahre später revidiert Hildesheimer auch noch diese Einschränkung in seinem Beitrag für den Sammelband Kestens: "Ich bin Jude. Zwei Drittel aller Deutschen sind Antisemiten. Sie waren es immer und werden es immer bleiben, trotz der Versuche aufgeklärter Humanisten, Toleranz zu verbreiten, trotz des Optimismus derer, die an eine Erneuerung der 'geistigen Substanz' glauben." Unter den Deutschen gebe es sicherlich "auch jene, die ihren Antisemitismus beiläufig mit sich tragen, wie eine Taschenuhr, die sie hin und wieder hervorziehen, um nachzusehen, wie spät es schon ist. Auch mit diesen möchte ich kein Dach und keinen Himmel teilen, ich möchte mich vielmehr von ihnen befreien, indem ich sie von mir befreie". Ferner kritisiert Hildesheimer die in Deutschland herrschende "Intoleranz und Engstirnigkeit, [...] Torheit und Böswilligkeit, Feigheit und Bigotterie", sowie den "Mangel an Einsicht und Selbstkritik".

Zum Abschluss schreibt er in Anspielung auf die Regierung Adenauer: "Ich gehöre nicht zu der Mehrheit, die eine solche Regierung gewählt hat, ich mag nicht zu der Minderheit gehören, die sich von einer solchen Regierung regieren lässt. Ich gehöre nicht zu der Mehrheit, die antisemitisch ist, und ich mag nicht zur Minderheit gehören, die eine solche Mehrheit in Kauf nimmt. Kurz: ich mag nicht dazugehören."

Der Autor dankt Silvia Hildesheimer, Dr. Christa Geitner und Stefan Ripplinger für die Informationen und die kritische Unterstützung.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien zuerst am 27. Oktober 2004 in der "Jungle World". Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung


Titelbild

Wolfgang Hildesheimer: Das Ende der Fiktionen. Gesammelte Reden.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1984.
240 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3518047124

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Stephan Braese: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur.
edition text & kritik, München 2001.
596 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 3825702278
ISBN-13: 9783825702274

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Titelbild

Stephan Braese (Hg.): Rechenschaften. Juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2004.
200 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 389244756X

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