Vielerlei Redeweisen
Rainer Kirschs gesammelte Werke
Von Kai Köhler
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Bei manchen Autoren genügt ja, wenn Sie fünf Gedichte kennen, z. B. bei Heine oder Georg Heym. Bei Brecht müssen Sie mehr kennen, Brecht hat, wie Goethe, vielerlei Redeweisen benutzt." Legt man diese Unterscheidung zugrunde, die Rainer Kirsch in einem Gespräch von 1993 traf - man muss ja der Wertung nicht folgen -, so gehört Kirsch zu den letzteren Dichtern. Ist die Vielfalt ein Vorteil? Auf dem Literaturmarkt, der nach Marken verlangt, jedenfalls nicht. Gerade weil man ihn nicht festzulegen vermag, kann ein herausragender Autor hinter minderrangigen mit ihrem denkfaulen Publikum zurücktreten. Bei Kirsch kommt hinzu, dass er in der DDR nicht immer ungehindert publizieren durfte, dass er zudem nach 1989 auf einen Wendebonus verzichtete und sich nicht als verfolgter Antikommunist aufspielte.
Vor allem aber fehlt ein Hauptwerk. Viele Gedichte, zahlreiche Übersetzungen, zumeist wieder von Lyrik, Essays, vor allem über Dichter und poetologische Probleme, wenige Erzählungen, einige Reportagen aus der Arbeitswelt der DDR; für die Bühne schrieb er neben Märchenstücken lediglich ein Drama, das kurz nach der Uraufführung verboten wurde und zu Kirschs Ausschluss aus der SED führte - der Vorzug, den er Kleinformen einräumt, erschwert die Orientierung. Nun aber hat zu Kirschs 70. Geburtstag der Eulenspiegel Verlag eine vierbändige Werkausgabe ermöglicht, die einen Überblick erlaubt. Aufgenommen sind Kirschs eigene Dichtungen, sofern er sie für noch gültig erklärt. Gerade bei frühen Gedichten scheint eine rigorose Auswahl stattgefunden zu haben. Eine Ausgabe von Übertragungen aus anderen Sprachen ist angekündigt.
Beginnt man mit dem Band "Erzählungen & Porträts", so fällt auf, dass der Abstand zwischen Ausgedachtem und Reportagen gar nicht so groß ist. Literarisch dicht schreibt Kirsch, wo er Gegenständliches beschreibt; Gegenständliches freilich im weitesten Sinne: ein Märchenmeer, die Arbeit eines Verhaltensforschers oder aber ein Kaliwerk in Rossleben/Unstrut 1967. Beides bleibt Skizze; andernorts begründet Kirsch seine Vorliebe für Märchenhaftes damit, dass er damit "seine Geschichte gewissermaßen raffend, mit weniger Kraftaufwand ins Bedeutende zu heben" vermöge, dass er sich umständliche Motivierungen und Handlungselemente zu sparen vermag. Wo Kirsch psychologisch motiviert, wie in der mit Abstand längsten Erzählung "Sauna oder Die fernherwirkende Trübung", ist das Ergebnis blass. Wo hingegen eine Märchenfigur sich praktisch verhält oder einer der Wissenschaftler aus den "Portraits" mithilfe von Zitaten, Angewohnheiten, Lebenslauf oder Bewertungen von Untergebenen skizziert wird, entsteht eine eigene Welt. Davon ausgehend lassen sich vier Gründe formulieren, weshalb diese Werkausgabe Beachtung verdient.
Der erste Grund ist historisch und betrifft zum Teil die Essays, vor allem aber die Porträts. Keine Diskussion über Stasi-Verstrickungen vermag die Ambivalenz der DDR so sehr zu veranschaulichen wie die Reportagen aus den Jahren 1967 bis 1977, also einer Phase der relativen ökonomischen und damit politischen Stabilisierung. Vier leitende Funktionsträger und ein Ort mit Schule und Fabrik sind dargestellt, im Zentrum stehen erfolgreiche Personen, bedrückend wohlorganisiert und effektiv; teils implizit, teils explizit ist die Frage formuliert, inwieweit die für das Überleben des Ganzen notwendigen Technokraten, die selbst die allseits entwickelten Menschen sind, die man sich für die Zukunft erhoffte, die vielen mitzuziehen vermögen. Mit Unbehagen liest man heute auch über ein Menschenbild, in dem Vernunft formalisiert ist; vor allem im Porträt des Ethik-Philosophen Franz Löser - als jüdischer Überlebender des Faschismus gewiss unverdächtig - der gleichwohl ethische Fragen in quantifizierende Formeln umzusetzen unternahm, was man sich unter der gegenwärtigen Diktatur des Ökonomismus nur mit Grauen auszumalen vermag - ein Fortschrittsoptimismus also, der zerstoben ist. Daneben verblasst die Frage, ob denn Kirsch die Kritik geübt habe, die man ihm damals gebührend übel nahm und die heute zur Grundausstattung des beliebten DDR-Literaten gehört; Kirsch, in der Tat, kritisierte; doch um einen besseren Sozialismus zu erreichen.
Der zweite Grund betrifft das Verhältnis von Gegenstand und Form; hier geht es vor allem um die Lyrik. Kirschs Bezugspunkt ist die Aufklärung, ist die Form als Mittel, Fortschritt zu transportieren, damit auch die Wendung gegen einen Romantizismus, der sich modernistisch gibt, doch nur undiszipliniertes Herausschreien zu rechtfertigen unternimmt. Gegen romantische Formlosigkeit erarbeitete sich Kirsch allmählich Genres; im Essay schildert er, wie er das aus Notwendigkeit tat und nicht aus Formalismus, wie er sich allmählich Versmaß für Versmaß erschloss. Durchgehend wendet er sich gegen die je aktuelle Populärkultur, gegen Popmusik etwa, die in ihren nun auch vergangenen, besseren Zeiten mit immerhin noch zwei Gitarrengriffen auskam. Fortschritt, so lässt sich bei Kirsch lernen, bedeutet nicht, an dem zu kleben, was gerade als Mode gilt. Fortschrittlich ist es, das Repertoire an Formen und Sprechweisen, das die Menschheit bisher erarbeitet hat, zugunsten eines befreiten Daseins zu nutzen; befreites Dasein aber meint auch sinnliche Wahrnehmung und sinnliches Erleben. Eine entsprechend große Rolle spielen Natur und eine Erotik, die häufig erscheint und zwar nicht, wie es die Mode will, als patriarchal oder sonst wie entfremdet, sondern als Möglichkeit wenigstens momentan erfüllten Daseins. Kirschs Klassik, der des ihm darin verwandten Peter Hacks nahe, nutzt Tradition revolutionär: um dem schlechten Gegenwärtigen ein ideales Dasein entgegenzuhalten und so zur Veränderung zu ermutigen.
Tradition ist, drittens, bei Kirsch vieles und damit diskussionswürdig. Ob etwa Rilke, den er in vielen Essays verteidigt, wirklich so wenig religiös, so realistisch, so auf Arbeit bezogen war wie Kirsch behauptet? Es spricht da jedenfalls ein lyrischer Handwerker im besten Sinne, der genaue Arbeit mit der Sprache zu würdigen versteht; als Übersetzer geschult darin, sich unterschiedlichste Stile anzuverwandeln und produktiv in eigene Arbeit zu verwandeln. Kirsch ist darin dem ebenso traditionsbewussten Hacks, den er dem Zeitgeist entgegen mehrfach würdigt, so überlegen, wie umgekehrt Hacks Kirsch in der polemischen Grenzsetzung, die zur Entscheidung zwingt, voraus ist.
Viertens ist Kirschs Kunst, die zu einem großen Teil Literatur auch für Kinder ist, pädagogisch - das Wort nicht im Sinne düster-bedrückender Belehrung verstanden, sondern als Unterricht, der auf Befreiung zielt. Das in der DDR weit verbreitete "mathematische Märchen" "Die Perlen der grünen Nixe" bewegt sich reizvoll zwischen Fantasiewelt und der Demonstration, wie rechnerische Strukturierung zur Welterkenntnis verhilft. Gedichte und Lieder für Kinder bringen darüber hinaus produktiven Unsinn im besten Sinn; einen so alogischen wie geschlossenen Raum, der eine humane Imagination jenseits der herrschenden Kulturindustrie ermöglicht. Wie jede gute Kinderliteratur biedern sich Kirschs Texte - Gedichte, Erzählungen, Bühnenstücke - an kein vorgeblich Kindgerechtes an, sondern bieten dem hoffentlich skeptischen Nachwuchs höchstes Niveau.
Immer wieder ist es die Welt des Märchens, die Kirsch fasziniert. Durch die Imagination des Fantastischen entsteht das Schöne - und damit der Vorschein eines besseren gesellschaftlichen Daseins. So kann sie die durchrationalisierte kapitalistische Welt - der sich der Wissenschaftsbeobachter Kirsch dort bedenklich näherte, wo der Sozialismus ökonomische Erfolge feiern konnte - demontieren.
Kirschs Werk reißt nicht mit, stürzt keine Regeln, kennt keine oberflächlichen Effekte und Gags. Es handelt sich um reflektiertes Handwerk im besten Sinne: um Texte, deren Autor weiß, was er tut, und warum er anderes nicht tut. Der scheinbar altmodische Verzicht auf Überredung ist doch so aktuell wie möglich: Die strengen Formen sind stets aufs Gegenständliche und damit aufs sinnlich Erfassbare bezogen. Sie bejahen das Sein, gerade insofern es, in Liebesgedichten besonders, als vom Tod beschränktes Leben begriffen ist; indem aber Kirsch das Erleben als gerade dadurch einmalig und wertvoll herausstellt, rückt sein beeindruckendes Werk in Opposition zum Popkonsum, der auf dem Versprechen beruht, ewigen Reiz zu garantieren. Kirsch ist konservativ genug, schon Kindern Genuss in der Vergänglichkeit zu lehren und sprengt gerade dadurch das kulturindustrielle Gerede.