Das Lied von Hikmete

Eine Mutter aus dem Kosovo berichtet von einem Ehrenmord an ihrer Tochter mitten in Deutschland

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"'Du kennst doch das Lied von Hikmete', sagte Adem eines Tages. 'Der Mann hatte Recht.'" Nein, so recht konnte sich Hanife Gashi nicht mehr an das Lied erinnern, von dem ihr Mann sprach. Sie entsann sich aber noch, dass sie es als Mädchen oft gesungen hatte, jedoch schon damals nicht so richtig verstand, wovon es eigentlich handelt. Inzwischen weiß Gashi allerdings nur zu genau, worum es in dem Lied geht, das die wahre Geschichte eines Albaners und seiner Tochter erzählt, die den Vater enttäuscht, weil sie nicht einen Landsmann, sondern einen Bosnier heiratet. In seinem Leid erschießt der Mann zuerst seine Tochter und dann ihren Mann. Nun ist die Familienehre wiederhergestellt. Und das Lied, erklärt Gashi, lässt keinen Zweifel an der Moral: "So handelt ein richtiger Mann!" Und so handelte auch ihr eigener Mann - dem sie in ihrem Buch den Namen Adem gibt und von dem sie inzwischen längst geschieden ist -, als seine sechzehnjährige Tochter Ulerika sich in einen Jungen verliebte, der ihm "nicht 'albanisch' genug" war, weil nur sein Vater Albaner, seine Mutter jedoch Bosnierin gewesen ist. Denn dem aus dem Mittelalter stammenden albanischen Gewohnheitsrecht Kanun zufolge sollen albanische Frauen nur Albaner heiraten. Frauen, die gegen diese Regel verstoßen, vergehen sich nach dem absurden Ehrenkodex des Kanun gegen ihre Familie. Darum wurde Ulerika von ihrem Vater verprügelt, erwürgt und in einen See geworfen. Nicht im Kosovo, woher die Familie stammt, sondern mitten in Deutschland, in Tübingen, wohin sie Ende der 80er Jahren vor dem Terror der Serben geflüchtet waren.

Hanife Gashi erzählt in ihrem Buch "Mein Schmerz trägt Deinen Namen" die Geschichte der Untat und den langen Leidensweg, den sie und ihre vier Töchter bis dahin gegangen waren. Für die Autorin begann er vor zwanzig Jahren, als sie, damals gerade mal 16 Jahre alt, mit einem Mann zwangsverheiratet wurde, den sie am Hochzeitstag zum ersten Mal sah und der sie schon wenige Tage nach der Hochzeit verprügelte, weil sie zusammen mit anderen Frauen in der Öffentlichkeit gelacht hatte. Auch Gashis Traum vom Medizinstudium war mit der Hochzeit zerstoben. Das Zeug dazu hätte die begabte junge Frau allemal gehabt.

Solche "arrangierten Ehen" sind im Kosovo ein "lebendiger Brauch", der nicht nur von muslimischen Familien eingehalten wird, sondern, wie die Autorin berichtet, auch von katholischen. Die Familien beider Eheleute waren zwar Moslems, doch in Gashis Elternhaus spielte weder der Glaube eine große Rolle, noch der Kanun, der etwa die Blutrache regelt. Überhaupt fühlten sich die Menschen in Gashis Heimatort den Traditionen nicht allzu sehr verpflichtet. Auch Adem war zwar nicht besonders gläubig, doch galt in dem weit traditionelleren Nachbardorf, aus dem er stammte, noch immer der Kanun, sodass auch er und seine Familie strikt an ihm festhielten. Das war auch der Grund, warum die junge Frau die Zwangsheirat schließlich akzeptierte. Denn andernfalls hätte sie befürchten müssen, dass einer ihrer Brüder der Blutrache der Familie ihres Bräutigams zum Opfer fallen würde.

1989 flohen die Eheleute vor Miloševics Regime nach Deutschland, wo sie nach einem zehn Jahre andauernden Verfahren endlich als Asylberechtigte anerkannt wurden. Mit dabei war ihre bis dahin einzige Tochter, die zweijährige Ulerika. Im Laufe der Jahre folgten drei weitere Töchter - die erste davon bereits wenige Wochen nach der Ankunft in Deutschland. Gashi nutzte die sich hier bietende Chance, ihre Töchter "zu freien und selbstbewussten Frauen zu erziehen". Denn "sie sollten ein normales Leben führen können", ein besseres, als sie selbst es hatte, die "wegen jeder Kleinigkeit" ihren Mann fragen musste. Doch war Gashi stark genug, sich immer wieder gegen Adem durchzusetzen: So rang sie ihm die Erlaubnis ab, einen Deutschkurs besuchen und arbeiten zu dürfen, zunächst in einer Bäckerei, später in einem Altenheim. Doch kontrollierte er seine Frau ständig voller Eifersucht. Gelegentlich schloss er sie auch ein, damit sie nicht zur Arbeit gehen konnte. Denn schließlich kam sie im Altersheim mit Männern in Berührung.

Seit Ulerika in die Pubertät gekommen war, galt sein Kontrollwahn ebenso sehr seiner ältesten Tochter. Beide, Mutter und Tochter, wurden von ihm immer wieder geschlagen, misshandelt und als "Huren" beschimpft. Ein Standardvorwurf traditionell denkender Männer aus streng patriarchalischen Gesellschaften, der jeder auch nur halbwegs emanzipierten Frau als Stigma aufgedrückt wird. Was Adem jedoch als Tradition ausgab, erkannte Gashi als "sein ganz persönliches Problem", als seine Eifersucht. Denn die Tradition, die sie im Kosovo kennen gelernt hatte, besagte, dass eine Frau ihre Talente nutzen soll. "Es liegt an den Menschen, wie sie die Tradition auffassen", erklärt sie.

Bald wurden Ulerikas schulische Leistungen unter dem Terror ihres Vaters schlechter, der wiederholt klagte, dass es in Deutschland "zuviel Freiheit" gebe. Schließlich musste die ehemalige Schulsprecherin eine Klasse wiederholen. Doch mutig stellte sie sich immer öfter und immer offener gegen Adems Tyrannei. Und immer wieder drohte er sie zu töten. In einer Frühlingsnacht des Jahres 2003 macht er seine Drohung wahr. Vor Gericht gibt er mehrere Tatmotive an: "den Freund Ulerikas, die angeblich untreue Ehefrau sowie den Lebensstil der Tochter". Ein Dolmetscher musste das übersetzen, denn anders als seine Frau hatte Adem nie Deutsch gelernt. Das Gericht verurteilte ihn zu lebenslänglicher Haft, da er seine Tochter "aus Rassenhass" getötet habe. Heimtückisch aber, meint das Gericht, sei der Mord nicht gewesen. Daher kann Adem nach 15 Jahren Haft mit seiner Entlassung rechnen. Nach dem albanischen Gewohnheitsrecht, dem Kanun, allerdings gilt er ohnehin als völlig unschuldig, denn es erlaubt einem Vater, seine Kinder zu töten. So bedauern manche der Kosovo-AlbanerInnen in dem deutschen Dorf, in dem Gashis Schwester Ruka wohnt, auch nicht die Ermordete, sondern den Mörder.

Der droht unterdessen aus dem Gefängnis heraus, seine geschiedene Frau entführen und von bezahlten Killern ermorden zu lassen. Gleichzeitig schreibt er ihr Briefe, in denen er erklärt, dass er Ulerikas Leiche in den Kosovo überführen lassen wolle, damit er später neben seiner Tochter im Grab ruhen könne. Und er wolle nach Verbüßung der Haftstrafe wieder mit Gashi zusammenleben, den Lebensabend mit ihr verbringen. Die Scheidung sei bedeutungslos, denn "was 300 Albaner zusammengefügt haben, können drei Leute nicht scheiden", meint er.

Nach dem Mord an ihrer Tochter nahm Gashi Kontakt zu der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes auf, organisierte eine Gedenkveranstaltung für Ulerika und engagiert sich seither gegen Zwangsverheiratung, Männergewalt und Ehrenmorde. Denn sie will "gegen Männer wie Adem kämpfen. Männer, die ihre Töchter umbringen wegen der Ehre. Es gibt viele solcher Täter, die noch ihre Familien terrorisieren. Sie sollen sich nicht sicher fühlen, sie sollten von unseren Protesten in der Zeitung lesen, sie im Fernsehen sehen und im Radio hören." Hatte Gashi während ihrer Ehe die Spuren der Misshandlungen sowohl vor ihren Eltern als auch ihren albanischen und später ihren deutschen NachbarInnen verborgen, so hat sie nun erkannt, dass das Schweigen der misshandelten Frauen dazu beiträgt, die verhängnisvolle Tradition zu perpetuieren. Nun spricht sie denn auch umso vernehmlicher und appelliert an alle Frauen: "Verbergt eure blauen Flecken nicht unter langärmeligen Blusen oder Schminke, heuchelt nicht vor der Haustür Harmonie, wenn dahinter eine Hölle lodert."

Titelbild

Hanife Gashi / Sylvia Rizvi: Mein Schmerz trägt deinen Namen. Ein Ehrenmord in Deutschland.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
250 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 349802499X

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