In Zeiten der Orientierungslosigkeit ein Kompass?

Kempowskis "Winter 1945" - Fuga furiosa

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man macht es sich nicht immer leicht mit den Texten. Vor allem nicht als Autor. Und besonders nicht, wenn es nicht die eigenen Texte sind, mit denen man umzugehen hat. Und "umgehen" heißt in diesem Fall vor allem streichen, weglassen, auswählen, arrangieren, komponieren. Und natürlich transkribieren und übersetzen. Die Materiallage ist für Kempowski relativ gut. Er kann auf ein umfangreiches Privatarchiv zurückgreifen. Jahrelanges Sammeln und Zusammentragen von Zeugnissen zu Lebensgeschichten, Biografien und Ereignissen bilden einen Textkorpus, der dem Außenstehenden nahezu unüberschaubar zu sein scheint. Anders Herr Kempowski.

"Fuga furiosa" sind vier umfangreiche Bände in einer stabilen Kassette: Die Taschenbuchausgabe der 1999 erschienenen Hardcoverversion steht der Erstausgabe in nichts nach. Kempowski legt knapp 3.500 Seiten "Dokumentationen" vor. Anders als die "Höhenkammgeschichtsschreibung" verlässt er sich nicht auf die offiziellen Dokumentationen des Zweiten Weltkrieges - ebenso wenig wie auf die des Wendejahres 1989 (vgl. die Besprechung zu Walter Kempowskis "Alkor. Tagebuch 1989" in literaturkritik.de 05/2003) oder auf die Beschreibungen von der Zerstörung Dresdens (vgl. die Besprechung von Walter Kempowskis "Der rote Hahn. Dresden im Februar 1945" in literaturkritik.de 04/2002). Er ist Chronist, wenn er die "Daten und Fakten" aneinander reiht und ordnet. Dies beweist er fulminant in der vorliegenden Dokumentencollage zu den Geschehnissen des Winters 1945, oder besser: zum Zeitraum vom 12. Januar bis zum 12. Februar 1945. Die Ortsangaben, den Dokumenten beigefügt, bezeichnen die mitteleuropäischen Kriegsschauplätze dieses relativ kurzen Zeitraums von einem Monat des Jahres 1945. Aber es ist mehr als die Chronik eines Monats, die uns Kempowski zugänglich macht. Nicht nüchterne Ereignisse reihen sich aneinander, sondern ein Netz der Gleichzeitigkeiten und Überschneidungen entsteht.

Die "Chronik" der Ereignisse beginnt am 12. Januar 1945, dem Tag der Winteroffensive der Roten Armee, die an vielen Frontabschnitten zu diesem Zeitpunkt ihren Einsatz mit zahlenmäßig oft bis zu zwanzigfacher Überlegenheit gegen die deutschen Truppen beginnt. Die Geschehnisse werden aus verschiedenen Perspektiven geschildert bzw. die abgedruckten Dokumente, Briefe, Aufzeichnungen, Flugblätter usw. sprechen für sich, ihre Zusammenhänge erschließen sich manchmal erst beim Lesen der folgenden Abschnitte und fügen sich in der fortschreitenden Lektüre zu einem Kaleidoskop eines subjektiven, emotionalen und mikroperspektivischen Kosmos, der dem Leser eindringlich zeigt, was die Betroffenen, die in die mittlerweile historisch gewordenen Ereignisse verwickelt waren, bewegte. Um diese Behauptung zu verifizieren, kann man nahezu jede beliebige Seite in dem fast 3.500 Seiten umfassenden Werk aufschlagen: Es sind Menschen, die zu Wort kommen und keine objektivierten Geschichtsperspektiven. Dazwischen auch immer die Stimmen der historisch bekannten Personen: Joseph Goebbels, Martin Bormann, Winston Churchill, Ausschnitte aus den Meldungen der Nachrichtenbüros, aus den deutschen Wehrmachtsberichten und der "Prawda" - die Aufzählung der Quellen ließe sich zu einer unübersichtlichen Liste ausdehnen. Was alle miteinander verbindet, ist die persönliche Perspektive, die Situationsverbundenheit und die manchmal hoffnungslos die Gesamtsituation verkennende Naivität, die einzig durch die dem Leser zugewiesene Metaebene aufgelöst wird.

"Vater hatte in der Scheune aus dem Ackerwagen einen Planwagen gebaut, den wir nun mit viel Proviant, auch mit Schrot und Hafer für die Pferde beluden. Einige Milchkannen wurden mit Hülsenfrüchten, Speck und Geräuchertem vollgestopft. Jeder Hohlraum im Wagen wurde mit Kleidungsstücken ausgefüllt. So stand der Planwagen fahrbereit auf der Tenne. Am Abend wurde im Dorf allgemein bekanntgemacht, wo sich die Dorfbewohner für eine Evakuierung zu sammeln hätten. Von Flucht durfte nicht gesprochen werden." (12. Januar 1945)

Und wenn man noch einen Schritt in der Textcollage zurücktritt, dann ist es natürlich Kempowski, der das Material arrangiert, dramatische Bögen schafft und diese mit einem naiven Blick durchsetzt, um diesen dann anschließend sofort mit einem Zeitungsausschnitt oder einem Flugblatt zur aktuellen Entwicklung auf den Kriegsschauplätzen zu kontrastieren. Besonders fällt dabei auf, dass die Quellen aus ganz Europa und darüber hinaus stammen - teilweise für den Abdruck übersetzt, teilweise auch in der Originalsprache belassen. Stellt man die Frage nach dem Originaltext, nach der Authentizität? Dies zielte direkt am Thema vorbei - Kempowski schuf eine Collage. Die Wirklichkeit bleibt in seinem Archiv, sei es in seinem Gedächtnis, seiner Erinnerung oder in den Regalen seines realen Archivs. Und man kann als Fazit formulieren: Beim Lesen der Textcollage wird das Archiv zum eigentlichen Werk außerhalb des publizierten Werkes. Nicht das Schlechteste, was passieren konnte. Es lässt immer auf mehr hoffen, solange es ein Erinnern an die Ereignisse und Dinge gibt.

Titelbild

Walter Kempowski: Das Echolot. Fuga Furiosa. Ein kollektives Tagebuch Winter 1945, 4 Bände.
btb Verlag, München 2004.
3456 Seiten, 60,00 EUR.
ISBN-10: 344272788X

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