Wer wem?

Ute Freverts Sammelband zum Thema Vertrauen

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Soll es so etwas wie Gesellschaft überhaupt geben, so ist Vertrauen notwendig; ohne Vertrauen gibt es keine funktionierenden Institutionen, die die Umwelt berechenbarer machen und auf diese Weise Sicherheit schaffen. Vertrauen kann also zu Vertrauen führen, wie auch Misstrauen zu Misstrauen und damit zu Gefahr führt. Vertrauen, im richtigen Fall eingesetzt, ist deshalb funktional: Es lässt Absicherungen überflüssig werden und reduziert den Aufwand an Kontrolle, der für eine Handlung Voraussetzung ist.

Woran erkennt man den richtigen Fall? Das Titelbild des Buches zum Thema Vertrauen zeigt Tiepolos Darstellung, wie die Trojaner das trojanische Pferd in ihre Stadt ziehen - und so ihren Untergang besiegeln. Das Bild ist so ironisch wie treffend gewählt; tatsächlich schließt, Vertrauen sich auch nur bewusst zu machen, das Misstrauen ein, nämlich den Gedanken, dass auch die Täuschung eine Möglichkeit ist. Wer von Vertrauen spricht, spricht gleichzeitig über Gefahr.

Wie nun aber entsteht Vertrauen auf der individuellen Ebene und auf der einer Gesellschaft - wie und mit welchen Folgen geht es wieder verloren? Ute Freverts Sammelband widmet sich diesen Fragen, und zwar aus historischer Perspektive. Gegenüber einer sozialwissenschaftlichen Sicht dagegen lassen die Herausgeberin wie viele ihrer Beiträger Skepsis durchblicken und dies gleich im doppelten Sinne zu Recht. Erstens haben Sozialwissenschaftler ein z. T. allzu ausdifferenziertes, von der Alltagssprache weitgehend entferntes Begriffssystem geschaffen, das in der historischen Anwendung die Gefahr in sich birgt, über die Wörter und ihre Definitionen, nicht jedoch über die Sache zu sprechen. Zweitens setzen, im Anschluss an Georg Simmel, viele Sozialwissenschaftler voraus, dass Vertrauen erst in ausdifferenzierten, modernen, noch nicht aber in traditionalen Gesellschaften notwendig wird.

Das nun gerade ist falsch. Das weist leider Dorothea Welteke in ihren "methodischen Überlegungen" zu der Frage, ob es "Vertrauen" im Mittelalter gab, nicht nach. Über weite Strecken argumentiert sie zu sehr auf das Wort fixiert, und die Frage nach der Sache tritt in den Hintergrund. In verstreuten Bemerkungen wird immerhin deutlich genug, dass die Verhältnisse für alle, die sich etwa als Pilger oder Händler in die Fremde begaben, äußerst unsicher waren. Dass der Diskurs über das Vertrauen eher einem Aufruf zum Misstrauen in weltlichen Dingen gleichkam, zeigt Stefan Gorißen mit seinen Überlegungen zur Rationalität und zum Vertrauen als Risiko im Fernhandel des 18. Jahrhunderts. Immer noch waren staatliche Institutionen zu schwach, um auch vertraglich kodifiziertes Recht wirksam zu schützen; und sogar familiäre Bindungen sicherten kein Vertrauen. Wie in der frühneuzeitlichen Wissenschaftswelt Vertrauen mit Freundschaft einherging, und wie die Briefwechsel, die in der Epoche vor dem regelmäßigen Besuch internationaler Kongresse die scientific community konstituierten, mit wechselseitigen Geschenken einhergingen, beleuchtet Franz Mauelshagen.

So erscheinen gerade die vormodernen Zeiten als solche, in denen Vertrauen erst mühsam erarbeitet und durch ritualisierten Austausch abgesichert werden musste, in denen sogar Menschenvertrauen als mangelndes Vertrauen in Gott abgewertet werden konnte. Friedlicher scheint ein Bereich, den Gunilla-Friederike Budde untersucht. Das bürgerliche 19. Jahrhundert sah im Nahbereich der Familie, im Miteinander von Eltern und Kindern, Brüdern und Schwestern den Ursitz des Vertrauens. Zu Unrecht, wie Budde zeigt: Nicht allein die Abgrenzung nach außen, gegenüber als proletarisch abqualifizierten potenziellen Spielkameraden der Kinder auf der Straße und gegen die leider notwendigen Dienstboten, die über Familiengeheimnisse zuweilen mehr wussten als die Familienangehörigen selbst, unterminierte das Vertrauen. Die Forderung gerade reformpädagogisch eingestellter Eltern, das Kind möge kein Geheimnis zurückhalten, zerstörte Vertrauen und beförderte die Lüge: Das als wechselseitig gedachte Verhältnis war gleichzeitig hierarchisch, und das Kind, wollte es Korrekturversuchen entgehen, musste lernen, potenzielle Konfliktpunkte zu verbergen.

Nicht viel besser stand es um die christliche Mission. Als um 1900 Verstädterung und verstärkte Mobilität der Bevölkerung als Verlust von Vertrauen begriffen wurde, versuchten die Kirchen, über Informationspunkte an großstädtischen Bahnhöfen unerfahrene Provinzlerinnen vor den größten Gefahren zu schützen, sie aber gleichzeitig für eine Mitarbeit und den Glauben zu gewinnen. Bettina Hitzer untersucht hier exemplarisch eine asymmetrische Vertrauensbeziehung. Während jeder Neuankömmling als potenzieller frommer Christ galt, mussten die Reisenden entscheiden, ob ihr Helfer vertrauenswürdig genug für eine längere Zusammenarbeit war: eine umgekehrte Hierarchie, der aber der Informationsvorsprung der Städter entgegenstand.

Immerhin erscheint, wer eine christliche Mission repräsentiert, offen als Vertreter einer Organisation. Fehlt ein solches Bekenntnis, fehlt vielleicht sogar jede Information, so ist derjenige, der sich fragt, ob er vertrauen soll, auf das Gesicht angewiesen. Seit der Antike gibt es Versuche, Gesicht und Charakter zu verbinden; und, glaubt man Claudia Schmölders, nicht sehr erfolgreich. So wendet sie sich der Inszenierung von Gesichtern zu, exemplarisch der Gesichter Hindenburgs und Hitlers, und zeichnet so Techniken nach, Vertrauen zu erwerben.

Die weiteren Beiträge zum 20. Jahrhundert bewegen sich in noch größerem Maße auf einer historisch-politischen Ebene und behandeln zum einen ein Beispiel gelungener Vertrauensbildung, wie sie Gesa Bluhm in ihrem Aufsatz zur Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 skizziert. Häufiger aber sind Fälle des Scheiterns. Jan C. Behrends etwa zeigt, wie das Schlagwort "Freundschaft", das zwischen Deutschland und Frankreich durchaus eine konfliktbehaftete Geschichte mildern konnte, im Verhältnis der Volksrepublik Polen und der DDR zur Sowjetunion weitgehend erfolglos blieb. Albrecht Weisker analysiert den Umschlag von blindem Vertrauen in Experten bis hin zu grundsätzlichem Misstrauen in der westdeutschen Auseinandersetzung um die Atomenergie.

Schon in diesem vergleichsweise harmlosen Kampf hing Vertrauen eng mit politischen Frontverläufen zusammen; Gegner wie Befürworter der Atomenergie vertrauten den je eigenen Experten, zumeist ohne doch selbst die Verästelungen der wissenschaftlichen Diskussion nachvollziehen zu können. Ein solcher Mut zum Dilettantismus ist einerseits notwendig, soll Demokratie nicht einer Herrschaft spezialisierter Technokraten weichen. Andererseits verweist das Beispiel auf das Moment der Ausgrenzung, das Vertrauen in der Regel bedeutet. Vertrauen zu denken bedeutet eben nicht nur, Misstrauen zu denken; zu vertrauen bedeutet zumeist auch, jemanden aus der Vertrauensgemeinschaft auszuschließen. Vertrauen als sozialer Mechanismus der Abgrenzung spielt schon in Buddes Beitrag zur bürgerlichen Familie eine große Rolle. Mehr noch steht die Feinderklärung im Mittelpunkt der Untersuchungen Thomas Kühnes zu Vertrauen als sozialem Kapital im Endkampf der Wehrmacht. Kühne zeigt detailliert, wie in den letzten Kriegsjahren, als es aufgrund hoher Verluste auf deutscher Seite kaum mehr dauerhaft zusammengesetzte Truppenverbände gab, kameradschaftliches Vertrauen dennoch eine wichtige Ressource war. Nicht nur hatten gemeinsame Lage und Ausbildung einen einheitlichen sozialen Habitus geschaffen, der es erlaubte, relativ schnell eine gemeinsame Grundlage zu finden. Mehr noch stabilisierten die kollektive Wendung gegen einen äußeren Feind wie auch gegen die Vorgesetzten eine Gemeinschaft, die gerade als regelverletzende funktional war. In welcher Weise gegen Regeln verstoßen wurde, war unterschiedlich: Vom Streich gegen den gehassten Unteroffizier bis zum Kriegsverbrechen war vieles möglich. In jedem Fall aber entstanden mit der Komplizenschaft soziale Einheiten, die dazu führten, dass nicht allein Zwang die Wehrmacht noch in jenen letzten Wochen zusammenhielt, in denen die Niederlage offensichtlich unvermeidbar war.

Vertrauen ist also nicht an der Sache orientiert, sondern an der Funktion. Dagmar Ellerbrock bewegt sich in ihrem Beitrag zur Entwicklung des Waffenrechts in einem Feld, in dem Misstrauen und Vertrauen widersprüchlich verschränkt sind. Misstraut ein Staat, der wie die Bundesrepublik das Recht einschränkt, Waffen zu tragen, seinen Bürgern? Oder schafft er Vertrauen, indem er Sicherheit fördert? In ihrem historisch fundierten, was die quellenkritische Lektüre der Zitate angeht freilich nicht immer sicheren Aufsatz wendet sich Ellerbrock auch einem möglichen Zusammenhang von Demokratie und Vertrauen zu. Das Resultat: Dass der demokratische Staat generell derjenige sei, der seinen Bürgern am meisten vertraut, glaubt man nach der Lektüre nicht mehr. Vielmehr sind Vertrauen und Misstrauen miteinander verschränkt: Misstraut der Staat den Waffennarren, so schafft er Vertrauen bei der Mehrheit, die, unbewaffnet, sich jedenfalls in Europa von Waffenbesitz überhaupt bedroht fühlt.

Statt geschichtlichen Fortschritts also wieder die Frage: wer wem? Vertrauen ist Mittel und Waffe; Mittel und Waffen aber werden gegen einen Gegner eingesetzt. Dass es, wo von Vertrauen die Rede ist, um reale Kämpfe geht, vergisst Anne Schmidt nur in ihrer Überschrift. Im Deutschland des Jahres 1918 sieht sie eine "Staatsführung in der Vertrauenskrise". Tatsächlich war, was sie auch benennt, die Krise sehr materiell und bestand vor allem darin, dass mit den vorhandenen Ressourcen der Erste Weltkrieg nicht 1918 und wohl kaum 1914 zu gewinnen war. Schmidt dokumentiert kenntnisreich, wie Teile der Funktionseliten vom Frühjahr 1918 an eine bessere Propaganda durchzusetzen versuchten. Die Bezeichnung der Krise als "Vertrauenskrise" jedoch entspricht einem im Zeitalter des Diskursgeredes gängigen Irrtum, Interessengegensätze und materielle Gegebenheiten zu Sprach- und Kommunikationsproblemen umzudefinieren. Albrecht Weisker behauptet in seinem sonst nützlichen Überblick zum Streit um die Atomenergie: "Risiko, so wurde sichtbar, ist in erster Linie ein gesellschaftliches Konstrukt, dessen Beurteilung und Bewusstwerdung auf Wahrnehmung basiert."

Ertrinke ich nicht im kalten Wasser, wenn ich nur fest genug glaube, das Eis trage mich? Mag die Beurteilung auf Wahrnehmung basieren - das Risiko besteht unabhängig von Diskussionen und Meinungen. Im Bereich der Technik, anders als in dem der Gesellschaft, minimiert Vertrauen stets die Sicherheit. Der vulgäre Einwand dient dazu, den Stellenwert einer historischen Untersuchung des Vertrauens zu benennen. Ohne Vertrauen, so viel wird deutlich, gibt es keine funktionierende Gesellschaft. Ohne materiellen Erfolg aber gibt es kein Vertrauen; und selten gibt es Vertrauen, ohne dass sichtbar würde, gegen wen sich das Misstrauen der Vertrauensgemeinschaft richtet.

Titelbild

Ute Frevert (Hg.): Vertrauen. Historische Annäherungen.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003.
430 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3525362706

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