Umkehr in die Zivilgesellschaft

Eine plausible Meistererzählung der deutschen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg

Von Jost DülfferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jost Dülffer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dies ist ein großer Wurf. Eine Gesamtdarstellung deutscher Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg haben bisher nur wenige Autoren wagen können und gewagt, und kaum jemand ist so qualifiziert dazu wie der Direktor des Zentrums für Zeithistorische Fragen in Potsdam, der zugleich in Chapel Hill ein zweites Standbein seiner wissenschaftlichen Anbindung hat. Allein Peter Graf Kielmannsegg, Manfred Görtemaker, Heinrich-August Winkler sind die Autoren, die vergleichbare Bücher geschrieben haben.

Anders als Winklers Erfolgsgeschichte des langen Weges nach Westen nimmt Jarausch seinen Ausgangspunkt vom "Zivilisationsbruch", wie Dan Diner vor ihm die Bedeutung der NS-Morde benannt hatte. Ähnlich wie die Genannten schreibt Jarausch aus dem Bewusstsein der deutschen Vereinigung von 1990 mit einem vergleichsweise milden Blick auf den Erfolg des deutschen Weges - hier in der Metapher der Umkehr thematisiert. Jarausch mischt stärker als seine Vorgänger Analyse und Narratio, benennt auch klar die Defizite und Forschungsdesiderate, die noch gar nicht gestellten und noch weniger beantworteten Fragen - und gibt dann doch eigene, vorsichtige und tentative Antworten. Das macht das Buch für methodisch interessierte Leser ebenso bedeutsam, wie für ein breiteres Publikum die Narratio einprägsam ist.

Jarausch stützt sich auf eine selten breite Auswahl aus zeitgenössischer Publizistik, hat Zeitungs- und Zeitschriften zu Tausenden in den Anmerkungen nachgewiesen und vor allem in den ersten Kapiteln ein Kürzel "KA" zu verzeichnen, von dem er reichen Gebrauch macht: sie steht für das Archiv des Schriftstellers Walter Kempowski mit seinen reichen Zeitzeugenberichten und Schriftstücken. Dass der Autor die Forschungsliteratur im Allgemeinen gut kennt, kann man voraussetzen, sollte jedoch vielleicht noch hinfügen, dass er selbst einen der besten Buchbeiträge über den Vereinigungsprozess von 1989/91 in englischer und deutscher Version vorgelegt hat, auf den er sich hier in Fortschreibung ebenso stützen kann wie auf zahlreiche eigene Tagungs- und Publizistikbeiträge der letzten 15 Jahre.

Im Großen zeichnet Jarausch in drei Teilen und neun Kapiteln den gesamten Zeitraum umspannend den Weg einer "Rezivilisierung" der Deutschen nach. Er sieht darin vor allem drei Phasen von - je ambivalenter - Wirkmächtigkeit. "Obwohl wichtige Grundlagen schon nach dem Krieg geschaffen worden waren, fand der eigentliche Durchbruch der Zivilisierung erst Mitte der sechziger Jahre statt." Dabei widmet sich Jarausch auch dem durchaus vielgestaltigen und unterschiedlich deutbaren Aufbruch von "1968". Die zweite Zäsur sieht er in der Vereinigung, mit der auch die DDR-Bevölkerung die Chance zum Aufbau einer Zivilgesellschaft erhielt. Für diesen Teil Deutschlands macht er für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Möglichkeiten, aber auch die deutlichen Grenzen einer Erneuerung kenntlich und hebt besonders die "verordnete Entbürgerlichung" als eine von mehreren Belastungen hervor. Wenn er den Einschnitt in den sechziger Jahren prominent thematisiert, gibt es aber auch häufig Hinweise auf die Möglichkeiten und Leistungen konservativer Modernisierung zuvor bzw. einer sich ausbildenden Gegenöffentlichkeit durch die Presse seit den frühen fünfziger Jahren.

Zivilgesellschaft und Nation sind die Leitbegriffe. Das "atemberaubende Sozialexperiment der sozialen Pazifizierung" harre noch weitgehend der Bearbeitung. Neben Klaus Naumann (als Herausgeber von "Nachkrieg in Deutschland", 2001 sowie "Von der Kriegskultur zur Friedenskultur", 2001) haben auch Thomas Kühne u. a. exakt danach gefragt; es ist jedenfalls ein spannendes Paradigma, das von Jarausch als "Abkehr von Krieg" benannt wird und einem zweiten, dem "Abschied von der Nation", an die Seite gestellt wird. Auch für dieses Thema regt der Autor eine eigentlich erst zu benennende Forschung an der sozialen Basis für die Zukunft an. Es gehe um eine "Reformulierung der stufenweisen Veränderung der politischen Kultur als Gewinnung der Legitimität durch die Nachkriegsdemokratie". Jarausch landet nach skeptischer Einführung des Bergriffs letztlich doch mit Bracher bei der "postnationalen Nation." Der Abschied vom Plan arbeitet deutlich die unterschiedlichen Entwicklungen in beiden deutschen Teilen heraus und gibt eine ambivalente Antwort auf den Erfolg.

Die "Hinwendung zum Westen" benennt der Verfasser. - in Fortführung von Doering-Manteuffel u. a. - als Westernisierung statt als Amerikanisierung. Indem er breit die gerade kulturelle Beeinflussung durch die USA herausstellt, gibt Jarausch sich eine der wenigen Blößen: als ob es keinen Einfluss von französischem oder italienischem Film, britischer Königin oder den Beatles samt anderer Popmusik oder der Strände von der Adria bis zur Costa Brava etc. auf diese Prozesse gegeben hätte, die sonst liebevoll im Detail auf ihrer transatlantischen Schiene vorgestellt werden. Daran schließt sich der weitere Einwand an, dass gerade die westeuropäische Komponente, auch auf der politisch-ökonomischen Ebene in ihren entsprechenden Integrationsinstanzen eindeutig zu kurz kommt. Das ist einer der wenigen gleichsam blinden Flecken des das Thema breit auffächernden Autors. Dagegen schildert Jarausch kenntnisreich die weit weniger ausgeprägte "Veröstlichung" am Vorbild der UdSSR und benennt zugleich die subversiven Möglichkeiten eines Eindringens gerade westlicher Kultur im Osten des Landes.

Die "Ankunft in der Demokratie" als langfristigen Prozess, der kumulativ auf den erlebten Erfolgen aufbauen konnte, sieht Jarausch auch in der Großen Koalition von 1966-1969 als "Kolumbusei" ausgeprägt. Hier sind einige Zweifel erlaubt, erwuchsen doch gerade hierdurch die Proteste, die von Jarausch differenziert bis hin zum Terror dargelegt werden. Sein Angelpunkt ist aber auch hier die "Perspektive der Zivilisierung", die einen "weniger auf Ideologie und Ereignis als auf Hoffnungen und Erfahrungen abhebenden Ansatz" verfolgt. Er sieht sie nicht so sehr als "zweiten Schritt im Rezivilisierungsprozeß", sondern eher als "Chiffre für eine Reihe von nachholenden Modernisierungsprozessen". Blind für die Gefährdungen dieser zweiten Phase ist Jarausch nicht, legt differenziert die Gewaltsamkeit von Protest, aber auch die "Verunsicherung durch Fremdheit" von den Flüchtlingen bis zu ausländischen Migranten und überraschender Xenophobie dar. Für die dritte Phase ab 1990 konstatiert der Verfasser dagegen einen wenig hilfreichen "nachholenden Antikommunismus".

Jarauschs Schlüsselbegriff ist - in Fortführung von Jürgen Kockas Anregungen - die Zivilgesellschaft, der Prozess ist einer der "Zivilisierung." Er wird als permanente Aufgabe begriffen, als immer wieder neu zu erstrebendes Ziel. Das gelte gerade im Zeichen der Globalisierung im letzten Jahrzehnt, deren Herausforderungen vor den - begrenzten, aber doch beachtlichen - Leistungen der langen Umkehr besser verständlich würden. Jarausch schreibt eine politische Sozial- und Kulturgeschichte, die einleuchtet. Reale Zivilgesellschaft und die dazu erforderlichen Rahmenbedingungen in der Politik benennt er gegenüber einem nur sozial- und kulturgeschichtlichen Ansatz als Desiderat. Wie "Zivilgesellschaft und Nation" zusammenkommen, Zivilität immer wieder neu austariert wird - das ist Jarauschs spannendes Thema, das er sorgfältig formuliert und einleuchtend in seinen kurzfristigen Voraussetzungen und langfristigen Folgen ausbreitet. Jarausch hat gewagt und nicht nur er, sondern wir alle haben gewonnen.

Titelbild

Konrad H. Jarausch: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004.
500 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3421056722

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