Askese oder Genuss

Rolf Jucker zu Volker Braun

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutsche Literatur ist in etwa dem Maße wiedervereinigt wie Deutschland selbst: äußerlich. Wenn schon jüngere Autoren mit regionalspezifischen Erinnerungsbüchern reüssieren, so sind die älteren Schriftsteller erst recht noch heute im Bewusstsein des Publikums nach Ost und West unterschieden. Volker Braun ist nach dieser Klassifikation ein Ost-Autor; also einer, der sich fragen lassen muss, wie oppositionell er denn gewesen sei und ob überhaupt und was er denn heute über die Vergangenheit bekenne.

Wenn Rolf Jucker, wie er im Untertitel seines Buches ankündigt, "Volker Brauns Texte als Zeitkritik" liest, ist allerdings etwas ganz anderes gemeint. Ohne offensichtliche DDR-Bezüge vor 1989 zu leugnen, argumentiert Jucker für die Aktualität des Gesamtwerks: Braun erscheint so vor allem als Kritiker des Kapitalismus, der heute beinahe unangefochten herrscht. Für manche der Texte vor 1989 kann Jucker das überzeugend begründen; andere freilich, die in dieser Hinsicht sperriger wären, kommen in dem schmalen Band, der hauptsächlich bereits publizierte Arbeiten versammelt, nicht vor. Doch begnügte man sich gerne mit Hinweisen, was denn heute zu lesen noch produktiv ist, stellten sich nicht andere Probleme; sie alle haben zu tun mit Juckers Verständnis von literarischer "Zeitkritik".

Zunächst freilich ist dem Verfasser zu konzedieren, dass er in zwei zentralen Punkten Recht hat. Zum einen ist die Zeit, in der wir leben, durchaus zu kritisieren. Die frühesten Texte seines Bandes entstanden um 1995, als noch mehr Leute als gegenwärtig daran glaubten, die Verbindung von Marktwirtschaft und bürgerlicher Demokratie sei die Endform der Geschichte und bringe absehbar allen Menschen Glück. Hier kann sich Jucker leider bestätigt fühlen. Was Reichtumsverteilung, Umweltzerstörung, Verdummung durch Medien, was neue Grenzmauern und Kriegsführung angeht, richtet der Kapitalismus genau das an, was er vorhersah.

Zum anderen demontiert Jucker überzeugend eine ästhetisierende Form der Literaturwissenschaft, die lediglich eine Selbstbezüglichkeit des Poetischen findet und lobt. Überzeugend weist er nach, dass Literatur und jeder Umgang mit ihr gesellschaftlich, und das heißt auch: an Inhalten orientiert ist. Dem Literaturwissenschaftler geht es nicht anders, seine Lektüre ist perspektivgebunden. Jucker zieht daraus die Konsequenz; er deckt die Grundlagen seines Urteils auf, macht sich angreifbar und gewinnt doch einen Vorteil gegenüber Gegnern, die auf einem scheinbar neutralen Poetischen beharren. Allerdings wäre hier schon einzuwenden, dass es nicht die eine, postmoderne, formfixierte Literaturwissenschaft gibt, die Jucker als Gegner aufbaut. Kulturwissenschaftliche Ansätze etwa akzentuieren meist Inhalte, was emanzipatorische Bemühungen ebenso wie historistische Relativierung bedeuten kann.

Theoretisch versucht Jucker, der schlechten Alternative von Form oder Inhalt zu entkommen und postuliert mit Brecht, dass in der Literatur der gesellschaftliche Inhalt nur in einer gesellschaftlich bestimmten Form vorkomme. Leider erkennt Jucker diese Einheit, um sie gleich darauf zu vergessen; sein Verständnis von literarischer Zeitkritik greift sehr kurz. Braun erscheint bei ihm zuweilen als Politikwissenschaftler, der seine Erkenntnisse eher zufällig in Dramen oder Erzählungen formuliert hat. Die Braun-Zitate, gerade in der umfangreichsten Erstveröffentlichung des Bandes mit dem Untertitel "Volker Brauns Texte als Werkzeuge zur Entzifferung der Welt", dokumentieren die Weltsicht Juckers. Das bedeutet kaum je Verfälschung; die Meinungen Juckers und Brauns über den Kapitalismus ähneln sich tatsächlich. Nur leider verlieren in der Konzentration auf kritische Inhalte Brauns Texte ihren Charakter als Werkzeug. Sie illustrieren die kapitalistische Welt, wie Jucker sie schon entziffert hat. Braun dagegen begnügt sich nicht mit Erkenntnissen, die ohne Verlust auch theoretisch formuliert werden könnten, sondern geht den Widersprüchen im Stoff nach; denn die Widersprüche sind es, die geschichtliche Bewegung erlauben.

Das führt schließlich doch zu Differenzen auch im Inhaltlichen. So hebt Jucker mehrfach, und nicht zu Unrecht, die Bedeutung einer modernen Medienpropaganda für den Fortbestand kapitalistischer Ideologeme hervor. Dies nun fasst Herrschaft subjektbezogen - da sind die einen, die jene anderen manipulieren, die es sonst besser wüssten. Der weitaus wichtigere strukturelle Aspekt aber betrifft das Problem der Praxis: Wie das Leben im Kapitalismus konformes Verhalten nahe legt, und wie das Bewusstsein rechtfertigt, was man tut. Braun als Materialist ging stets der Frage nach, wie Individuen sich in falschen Strukturen verhalten, wie Deformationen im Handeln und Denken ebenso entstehen wie Widersprüche, die zu produktiven Lösungen führen können. Dass Propaganda allein nicht genügt, wurde indessen in der DDR klar genug; nicht weil die Mächtigen gelogen hätten (nicht alles war Lüge, und in der Geschichte sonst hatten und haben Fälschungen oft genug Erfolg), sondern weil sie keine Kongruenz des Behaupteten mit der Erfahrung herzustellen vermochten.

In anderer Hinsicht dagegen will Jucker von Subjekten, die herrschen, und solchen, die beherrscht werden, nichts wissen. Zur Zeit Gorbatschows war es in der Linken Mode, von "globalen Problemen" zu reden, die nur die Menschheit als ganze lösen könne. Auch Braun meinte damals, dass Lenins Frage: "Wer wen?" - wer setzt sich gegen wen durch -angesichts von Kriegsgefahr und Umweltzerstörung anachronistisch geworden sei. Jucker glaubt das noch heute - und vergisst zu fragen, ob das Überlebensinteresse einer Mehrheit nicht nur gegen das Gewinninteresse mancher, die sich gewaltsam wehren dürften, durchzusetzen sein wird.

Das führt zur Machtfrage, die im Zentrum jeder bisherigen und absehbaren Politik steht. Braun bezog sich zu Beginn seines Schreibens durchaus positiv auf den Staat DDR, und erst später finden sich anarchistische oder, wie Jucker auch schreibt, "libertäre" Positionen. Hier weiß sich der Interpret in Recht wie Unrecht mit seinem Autor einig. Tatsächlich wendet sich Braun heute mit manchen Äußerungen entschieden dagegen, man könne durch die Herrschaft von Menschen über Menschen zu etwas Besserem gelangen. Arbeitet er hingegen an einem konkreten Stoff mit seinen Widersprüchen, so verkennt er nicht, dass zuweilen die Macht der einen gegen die anderen notwendig ist. In "Das unbesetzte Gebiet" (2004) zeichnet er die Selbstverwaltung eines kleinen Fleckens nach, der im Frühjahr 1945 für wenige Wochen zu keiner Besatzungszone gehörte. Dabei behauptet Braun nicht voraussetzungslose Freiheit, sondern zeigt, wie das Bessere sich durchaus auch durch Macht, durch die praktische Antwort auf die Frage: Wer wen? behauptete.

Die Arbeit am Stoff, am Konkreten, ist mit Freude und sinnlichen Details verbunden. Als Zukunftsvorstellung Brauns behauptet Jucker freilich das Gegenteil: "Askese, Exil, Armut". Die Begriffe sind Resultat eines inhaltsfixierten Zugriffs, der, mit Blick auf "globale Probleme", doch den Stoff verfehlt. Tatsächlich ruiniert der Ressourcenverbrauch der Ersten Welt die Überlebensmöglichkeit der Mehrheit mittelfristig, und, billigt man aus Gründen der Gerechtigkeit auch nur China und Indien einen ähnlichen Lebensstil zu, sogar kurzfristig. Verzicht als Lösung vermöchte dagegen nur eine Vernunftdiktatur durchzusetzen, wie sie etwa Wolfgang Harich 1975 gefordert hat. Sie ist nicht in Sicht und würde wohl auch weder Jucker noch Braun gefallen. Ausweg wäre also nicht, asketisch dem gewohnten Genuss zu entsagen, sondern Genuss in weniger schädlichen Formen zu erleben. Paradox genug liegen Freiheit und Rettung also nicht im staatlich-autoritären Befehl allein, sondern in der totalisierenden Lösung, die Bedürfnisstruktur umzubauen und das Innere der Individuen zu erfassen.

Die Qualität auch neuer Texte Brauns liegt nicht zuletzt darin, dass sie in den Widersprüchen des Bestehenden bereits Ansätze für zukünftigen Genuss zeigen; dazu braucht es die Arbeit am und im Stoff, wie Braun sie leistet. Juckers Band enthält zwei Gespräche mit Braun, von 1994 und 2003. Während er im ersten - eigentlich schon ausreichend häufig publizierten - Gespräch als Stichwortgeber fungiert, kommt es im zweiten Interview zu einer Auseinandersetzung, die die Übereinstimmungen und Differenzen von Autor und Wissenschaftler im Einzelnen zeigt; eine gemeinsame Arbeit an Widersprüchen, die den wichtigsten Beitrag in diesem Band liefert.

Beigegeben ist zudem eine umfassende Bibliografie der Veröffentlichungen von und zu Braun für die Jahre 1994 bis 2002, die an Juckers früheres Literaturverzeichnis für den Zeitraum 1986 bis 1994 anschließt; schon deshalb wird sich die kommende Braun-Forschung auf Juckers Buch stützen müssen.

Titelbild

Rolf Jucker: Was werden wir die Freiheit nennen? Volker Brauns Texte als Zeitkritik.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004.
141 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3826028368

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