Linker Antisemitismus

Vorgeschichte und Tendenzen in der DDR

Von Martin UlmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ulmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Antisemitismus von links war bis vor wenigen Jahren ein Tabuthema, dem sich nun der Freiburger Soziologe Thomas Haury anhand zeithistorischer Themenfelder gewidmet hat. Zum besseren Verständnis des linken Antisemitismus arbeitet Haury in seiner Dissertation zunächst die Klassiker des modernen Antisemitismus im 19. Jahrhundert und das Leninistische Weltbild auf. Dem folgt das Verhältnis der beiden Arbeiterparteien, der SPD im Kaiserreich und der KPD in der Weimarer Republik, zum Antisemitismus sowie die Betrachtung des sekundären Antisemitismus in der Bundesrepublik. Dank des ideologietheoretischen Zugriffs und der heuristischen Methode werden die drei konstitutiven Elemente eines "strukturellen Antisemitismus" offen gelegt: 1. die Einteilung der Welt in gut und böse durch ein manichäisches Weltbild, 2. die Personifizierung und Verschwörungstheorien über das Negative und 3. die identitäre Gemeinschaften / Kollektive (Volk, Proletariat, Partei ) gegen das Negative / Böse (Kapital). Diese Strukturelemente sind auch in der leninistischen Ideologie zu finden und bilden das Einfallstor für antisemitische Inhalte. Obwohl in Lenins Schriften keine antisemitischen Stereotype auftauchen, weist sein Weltbild aufgrund der drei Elemente strukturelle Affinitäten zu antisemitischen Denkmustern auf.

Es ist ein Verdienst Haurys, den oft vernachlässigten Zusammenhang von Nationalismus und Antisemitismus u. a. bei der Entwicklung der KPD in der Weimarer Republik und dem ostdeutschem Antizionismus zu beleuchten. Für Haury ist 'Nation' eine antimoderne Gemeinschaftsutopie in einer verunsichernden Moderne, die sich über Naturalisierung und Ethnisierung stabilisiert. Juden sind wegen ihres Minderheitenstatus in der Diaspora der ideale Feind der Nation, sie gelten im Innern als Verräter und Zersetzer alles Nationalen. Haury stellt an den Beispielen der forcierten Nationalisierung von KPD und SED die Manifestation eines linken Antisemitismus fest. Bereits bei der KPD der Weimarer Zeit zeigte sich im Gegensatz zum 'werktätigen deutschen Volk' und zu 'internationalen Kapitalkönigen' ein deutschnationaler Antikapitalismus. Zur Mobilisierung von Wählern und Anhängern agierte die KPD im Kontext des gesellschaftlich durchgesetzten Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg und benutzte dabei antisemitische Stereotype wie "jüdisches Finanzkapital".

Der spannendste Teil des Buches handelt vom Antisemitismus und Antizionismus der SED in der frühen DDR. In einer gelungenen Mischung aus Ideologie-Analyse und Empirie kann Haury nachweisen, wie das Zusammenwirken von spätstalinistischem Marxismus-Leninismus (mit den drei Strukturelementen Manichäismus, Personifizierung und Verschwörungstheorie sowie identitäres Partei- und Arbeiterkollektiv), mit einer deutsch-nationalen Legitimation des ostdeutschen Parteienstaats und einem sekundären Antisemitismus wegen Auschwitz schließlich im antisemitischen Antizionismus der SED gipfelt. Bereits die Antikosmopolitismus-Kampagne gegen die 'Infiltration dekadenter westlicher Zivilisation', 'wurzellosem Kosmopolitismus' und 'amerikanischer Unkultur', wogegen eine 'wahre tiefe deutsche Kultur' und seine Erben der deutschen Arbeiterklasse gesetzt wurden, war nationalistisch und antisemitisch stark aufgeladen. Besonders deutlich wird dies an den antisemitisch motivierten Säuberungswellen, die durch eine krude Ideologie-Politik die SED-Vorherrschaft legitimieren sollte. Dafür steht das Schicksal eines Mitglieds im Zentralkomitee der SED, Paul Merker, der früh die Einzigartigkeit des Holocaust betonte und sich für eine "Wiedergutmachung" der DDR an den Juden einsetzte. Im Zuge der Stalinisierung der SED wurde die Restitution des "arisierten" Vermögens der Juden mit dem Hinweis auf die untragbaren Kosten für die deutsche Arbeiterklasse abgelehnt, auch weil damit 'jüdische Kapitalisten' entschädigt und kapitalistische Eigentumsverhältnisse restauriert würden. Der Höhepunkt der Parteikampagne gegen Merker und andere Parteifunktionäre in der DDR fand 1952 / 53 während der Zeit des Pragers Slansky-Prozesses statt. Die Angeklagten waren überwiegend Juden, die in der Tschechoslowakei teilweise zum Tode verurteilt wurden. Die einsetzende Entstalinisierung seit 1953 verhinderte zwar einen Schauprozess gegen Merker, aber er blieb politisch kaltgestellt. Die Begleitmusik dieser Säuberungen waren im postnazistischen Ostdeutschland vertraute antisemitische Bilder, Codes und Stereotypen wie 'Volksschädling', 'Zersetzungsarbeit', 'einschleichen', oder 'weitverzweigte Netzwerke der Zionisten'. Haury charakterisiert die spezifisch ostdeutsche Form des sekundären Antisemitismus: "Damit weist der Antizionismus in der DDR auch eine spezifisch 'nationale' Komponente auf, sowohl bezüglich seiner 'deutschen' inhaltlichen Füllung - die Ablehnung der Wiedergutmachung - als auch in seiner Argumentationslogik - der Täter-Opfer-Verkehrung - als auch bei seinen Antrieben - Deutschnationalismus und der damit verbundene Wunsch nach Entlastung von Schuld." Dieser ostdeutsche Antizionismus diente der SED u. a. zur Schuld- und Erinnerungsabwehr gegen die NS-Verbrechen.

Haurys Fixierung auf die Parteiideologie und ihre Geschichte offenbart aber auch Schwächen. Interdisziplinäre Studien wie die Kritische Theorie des Antisemitismus, die Ideologiekritik mit individual- und sozialpsychologischen Ansätzen verbindet sowie die Forschungsliteratur zum kulturellen Code des Antisemitismus, Stereotypenforschung und deren latente Erscheinungsformen bleiben weitgehend ausgeblendet. Nach Haury ist Antisemitismus mehr als eine Ansammlung antisemitischer Stereotypen. Von echtem Antisemitismus könne erst gesprochen werden, wenn die Stereotypen sich mit strukturellen Antisemitismus verbinden. Hier berücksichtigt der Soziologe kaum die Befunde der historischen und kulturwissenschaftlichen Antisemitismus-Forschung über die historische Wirkungsmacht antijüdischer Stereotype und Ressentiments sowie kulturelle Identifizierungscodes. Warum antisemitische Stereotype ausgerechnet keine autonome antijüdische Form oder ein Erscheinungsmuster des vielschichtigen, sehr flexiblen und tiefsitzenden Phänomens 'Antisemitismus' sind, wird nicht überzeugend erklärt. Wenn sich Antisemitismus erst in einem geschlossenen Weltbild oder im strukturellen Antisemitismus der leninistischen Ideologie manifestiert, bleibt die lange Geschichte der alltäglichen Judenfeindschaft von Aversion über tradierte Stereotype und soziale Segregation, an der die Juden vielfach zu leiden hatten, belanglos. Gerade die ausgeprägten sozialen und alltäglichen Formen des Antisemitismus als Vorgeschichte der Shoah zeigen, dass eine auf homogene Ideologien reduzierte schematische Konstruktion von Antisemitismus der komplexen historischen Realität in Deutschland nicht gerecht wird. Ungeachtet dieser Einwände ist der interessanten Studie über den linken Antisemitismus in Deutschland eine breite Rezeption zu wünschen, weil sie eine Bresche für unbequeme neue Erkenntnisse schlägt und damit weitere Auseinandersetzungen mit dem Thema "Antisemitismus von links" anregt.

Titelbild

Thomas Haury: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR.
Verlag Hamburger Edition, Hamburg 2002.
527 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3930908794

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