Grenzerosionen

Wachsender Antisemitismus in Deutschland

Von Martin UlmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ulmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Berliner Politikwissenschaftler Lars Rensmann hat ein hochaktuelles und zugleich brisantes Buch über den Antisemitismus in Deutschland geschrieben: Anhand überregionaler Presse- und Medienberichte analysiert er die jüngsten Antisemitismus-Streitfälle wie den Walser-Bubis-Konflikt 1998 oder den Fall Möllemann und die FDP 2002. Außerdem beleuchtet er wichtige vergangenheitspolitische Debatten wie die Goldhagen-Debatte, die Mahnmal-Diskussion und die Auseinandersetzung über die Zwangsarbeiter-Entschädigung. Zudem analysiert er auch die wachsende Israelfeindschaft. Schließlich bezieht das materialreiche Buch Umfragen mit ein, die ein starkes Anwachsen des manifesten und latenten Antisemitismus feststellen.

Rensmanns Dissertationsstudie ist eine beeindruckende politische Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Post-Holocaust-Antisemitismus in Deutschland, der vom sekundären Antisemitismus geprägt ist und in dem auch Motive, Denkstrukturen und Funktionsweisen des modernen Antisemitismus vor 1945 integriert sind. Der empirische Schwerpunkt konzentriert sich jedoch auf den Antisemitismus in der politischen Kultur im wiedervereinigten Deutschland. Dabei werden deutliche Diskursverschiebungen nachgewiesen: Offene und vor allem codierte antisemitische Stereotypen haben nach Rensmann an Legitimität gewonnen.

Rensmann orientiert sich an der ausführlich dargestellten Kritischen Theorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und dabei besonders am Begriff des sekundären Antisemitismus als Erinnerungs- und Schuldabwehr gegen Auschwitz, in dem Juden als Störenfriede der Erinnerung erscheinen. Aus dem reichhaltigen Fundus der Antisemitismus-Forschung der Frankfurter Schule verwendet er zudem das Konzept des modernen Antisemitismus zur paranoiden Weltdeutung sowie das sozialpsychologisch-ideologiekritische Modell der Verbindung von Autoritarismus, ethnozentrischem Nationalismus und Antisemitismus, deren Befunde in der empirischen Forschung vielfach bestätigt wurden.

Die Studie behandelt die politischen, kulturellen und diskursiven Gelegenheitsstrukturen für antisemitische Mobilisierungsversuche und Äußerungen in der politischen Kultur, also ihre Akzeptanz und ihre Grenzen in der Demokratie. Die zentralen Stichworte sind 'Vergangenheitsbewältigung' und 'Israel' im Zeitalter von Wiedervereinigung und Globalisierung. Dabei erodieren die Grenzziehungen gegenüber antijüdischen Aussagen immer häufiger - so Rensmanns Kernthese. Dieses Fazit betrifft alle gesellschaftlichen Schichten und inzwischen das gesamte politische Spektrum.

Zwar hat der politische Antisemitismus als zentrale Ideologie des Rechtsextremismus und der Neuen Rechten trotz verstärkter Agitation im politischen System noch keine Chance, doch existieren für die Rechten starke Anknüpfungspunkte zu Teilen der radikalen Linken wegen deren antisemitisch motiviertem Antiimperalismus, Antizionismus und Antiamerikanismus, die sich seit der '2. Intifada' und den Terroranschlägen des 11. September 2001 durch Verschwörungstheorien noch verstärkt haben. Diese teils bewussten, teils unbewussten antisemitischen Motive und Muster fungieren links wie rechts als gegen die kapitalistische Globalisierung gerichtete Welterklärungen. Der Antizionismus bedient vielfach den auch in Teilen der Linken verbreiteten Wunsch nach Schuldabwehr durch Täter-Opfer-Umkehr. Die ideologische Nähe und Konvergenz von rechtem (offenem) und linkem (codiertem) Antisemitismus sei eine neue Dimension, deren Auswirkungen auf die politische Kultur spürbar seien: "Israelfeindschaft, Ressentiments gegen die 'US-Ostküste', Verschwörungstheorien und Vorstellungen von einer weltumspannenden 'zionistischen Lobby', die allesamt dem ideologischen Arsenal des politischen Antisemitismus und Rechtsextremismus entstammen, finden heute teils Resonanz in der demokratischen Öffentlichkeit."

Zwei zentrale öffentliche Auseinandersetzungen aus Rensmanns Dissertation sollen hier kurz vorgestellt werden. Nach Rensmann hatte die Walser-Bubis-Debatte eine wichtige Katalysatorfunktion für Grenzverschiebungen zugunsten des Antisemitismus. Ausgelöst wurde der Streit durch Martin Walsers sekundär-antisemitische Friedenspreisrede im Oktober 1998. Dem populären Schriftsteller sei es durch seine öffentlichen Auftritte mit stereotyper Wiederholungsrhetorik und dank zahlreicher Unterstützung in Medien und Politik gelungen, so Rensmann, den Grad der sozialen Akzeptanz von antisemitischen Ressentiments in der Öffentlichkeit zu erhöhen. Bei diesem ersten Antisemitismus-Streit habe sich ein starker Normalisierungsdiskurs gezeigt, der von der Sehnsucht nach nationaler Identität und Größe geprägt worden sei, die wiederum durch 'Auschwitz' und jüdische Mahner wie Ignatz Bubis nachhaltig gestört worden sei. In diesem Konflikt hätten sich die antisemitischen Projektionen gegen die Kritiker des Schlussstrichs unter die NS-Verbrechen gerichtet.

Den zweiten Antisemitismus-Streit im Frühjahr 2002, den der selbsterklärte 'Tabubrecher' Jürgen Möllemann gegen Ariel Sharon, Michel Friedman und deren angebliche 'Meinungsmonopole und Verbote' inszenierte, weist Rensmann anhand vieler Aussagen führender FDP-Politiker als gezielte antisemitische Wahlkampagne der FDP nach. Eine Mehrheit der Medienöffentlichkeit und viele Politiker hätten nicht den offenen Antisemitismus in der FDP kritisiert, sondern eher den "Antisemitismus-Vorwurf". Dieser erste antisemitische Mobilisierungsversuch einer etablierten demokratischen Partei seit 1945 ist zwar bei der Bundestagswahl für die FDP aus unterschiedlichen Gründen gescheitert. Andererseits wurde der 'sagbare' Antisemitismus in der Demokratie ausgeweitet.

Während vergangenheitspolitische Schlussstrich- und Normalisierungs-Debatten vor allem ein umkämpftes Diskursfeld des konservativen Spektrums sind, dominieren im bürgerlich-liberalen sowie im linken Spektrum laut Rensmann eher Israelfeindschaft und teilweise Antiamerikanismus als Bezugspunkte für Antisemitismus. Dabei fallen die beiden Diskursfelder 'Vergangenheitsbewältigung' und 'Israel' in der breiten politischen Kultur inzwischen immer häufiger zusammen und mobilisieren verstärkt codierte antisemitische Bilder in allen politischen und gesellschaftlichen Gruppen. Gleichzeitig diffundieren im Zuge der Globalisierung antisemitisch motivierte globalisierungs- und israelfeindliche sowie verschwörungstheoretische Ideologien und Ressentiments von Rechts- und Linksaußen in Deutschland und Europa in die gesellschaftliche Mitte. Sie interagieren dort mit Akteuren in Politik und Medien, wenngleich ein offener Antisemitismus im politisch-parlamentarischen System weiter ausgegrenzt bleibt (wie beim Fall Hohmann oder die derzeitige Situation der NPD im sächsischen Landtag). Rensmann weist auch auf die noch funktionierenden Grenzlinien für den politischen Antisemitismus und die demokratischen Gegenkräfte hin.

Abschließend plädiert Rensmann für entschiedenes Handeln gegen Antisemitismus durch Sanktionierung und Skandalisierung. Gleichzeitig bleibt die kritische Be- und Verarbeitung der NS-Vergangenheit eine anhaltende Herausforderung. Welches Bild von Juden und vom Judentum sich in der Demokratie jedoch durchsetzt, hängt vom Prozess der politischen Kommunikation sowie der Aufarbeitung von Ursachen, Dynamiken und tradierten Mustern des Antisemitismus ab. Der Ausgang ist weiter offen.

Mit der theoretisch wie empirisch fundierten politischen Kulturforschung setzt Rensmann neue Maßstäbe für die aktuelle Antisemitismus-Forschung. Sein Buch hat eine breite Beachtung in Wissenschaft, Politik, Medien und politischer Bildung verdient.

Titelbild

Lars Rensmann: Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland.
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004.
541 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-10: 353114006X

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