Eine Psychografie arisch gesinnter jüdischer Intellektueller

Zu einer Neuausgabe von Theodor Lessings Schrift "Der jüdische Selbsthaß"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Parallel zu einem in den letzten Jahren zu beobachtenden Interesse an der Erforschung des Antisemitismus und seiner Geschichte ist auch ein besonderes Bedürfnis zu konstatieren, sich mit Fragen eines spezifisch jüdischen Antisemitismus zu beschäftigen. Die Neu- und Wiederbehandlung des jüdischen Selbsthasses in der wissenschaftlichen Literatur hat zu den Fragen angeregt, wo der Begriff herkommt und in welchem sozial- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang er in Gebrauch kam. Das typische Objekt, an dem man den jüdischen Selbsthass beschrieb, war das deutsche Judentum. Etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann die deutsch-jüdische Presse, den Terminus "Jüdischer Selbsthass" im Kontext des jüdischen Bürgertums zu verorten. 1902 wurde eine erste Sammlung von Aufsätzen aus der Feder Walter Rathenaus herausgebracht, in der auch der folgenreiche Aufsatz "Höre Israel" erschien, der nach Ansicht führender jüdischer Pressevertreter als Ausdruck militantesten antisemitischen Denkens zu werten sei: eine scheinheilige Predigt und eine offene Bewunderung des arischen Typs. Rathenau wurde öffentlich des Antisemitismus beschuldigt. Einige Monate später erschien das Buch eines jungen ehemaligen und neubekehrten Juden: Otto Weiningers "Geschlecht und Charakter". Während der überwiegende Teil der Schrift dem Dualismus zwischen Mann und Frau und der absoluten Minderwertigkeit der Letzteren gewidmet ist, behandelt ein langes und kompliziertes Kapitel die jüdische Frage, die Weininger in dem vorgenannten Dualismus spiegelt. Für Weininger ist in jedem jüdischen Mann ein bestimmtes weibliches Element enthalten. Der Antisemit, so stellt er fest, bekämpft das weiblich-jüdische Element in sich selbst, und jeder selbstbewusste Jude soll an diesem Kampf gegen sich selbst teilnehmen. Der jüdische Antisemitismus als Begriff, der nach Shulamit Volkov "eine öffentliche Haltung beschreibt", und der Selbsthass als Begriff, der "einen geistig-seelischen Zustand beschreibt", näherten sich um 1900 einander immer stärker an. Die in dieser Zeit zu konstatierende Interdependenz der Begriffe ist typisch für einen gewissen Abschnitt in der Geschichte der deutschen Juden in der Neuzeit: die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg.

Als Theodor Lessing 1930 zu seiner nachmalig viel zitierten Schrift über den "jüdischen Selbsthaß" ansetzte, war das Thema eigentlich schon veraltet. Die Gestalten, die er als Beispiel anführte, waren vor allem in den Jahren vor dem Krieg tätig, und so gab das Buch einem Problem nationale Ausmaße und Wichtigkeit, die es schon nicht mehr hatte, zumal zu einer Zeit, in der es angesichts des wachsenden Antisemitismus der Nationalsozialisten auch völlig nebensächlich geworden war; es sei denn, man würde es als Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und den eigenen gescheiterten Akkulturationsversuchen lesen. Was Lessing an der töricht ehrlichen, naiv selbstgefälligen Position der jüdischen Intellektuellen seiner Zeit am meisten empörte, ist deren Einfältigkeit, nicht wahrzunehmen, dass selbst die Akkulturation sie nicht davor schützen konnte, Ausgestoßene unter den Völkern Europas zu sein, wovor sie gerne die Augen verschlossen hätten.

Hans-Dieter Hellige beschrieb in diesem Zusammenhang den typischen jüdischen Künstler aus der zweiten Generation der Emanzipation, der in tiefem Konflikt zu seinem Vater steht und aus seiner ambivalenten Beziehung zu ihm zum Selbsthass gelangt. Die Reihe seiner Beispiele ist ebenso eindrucksvoll wie kompilatorisch: Für Berlin zählt er zum Beispiel den expressionistischen Dramatiker Carl Sternheim auf, den bekannten Theaterkritiker Alfred Kerr und natürlich auch Walter Rathenau, Schriftsteller, Industrieller und Staatsmann. Zu diesen kommen noch Rudolf Borchardt, Karl Wolfskehl und Jakob Wassermann, Fritz Mauthner und Franz Kafka, Franz Werfel, Stefan Zweig und Karl Kraus - alle aus der Intelligenzschicht von München, Wien und Prag, alle Zeugen des jüdischen Selbsthasses. Folgt man Hellige, so ist es, als ob die vielseitige Betätigung und Stellungnahme dieser Männer sich in einem erschöpfte: im seelischen Ausdruck des ihnen und ihrer Gemeinde eigenen Komplexes des Selbsthasses. Aus Helliges Untersuchung des Selbsthasses auf der persönlichen Ebene ergibt sich, dass er ein Ausdruck übertriebener Aggressivität ist, die sich gegen den Angreifer selbst richtet: Resultat der besonderen Kombination von Minderwertigkeitsgefühl und Überheblichkeit; Ausdruck des ungelösten Ödipus- oder Kastrationskomplexes; Andeutung homoerotischer oder sadomasochistischer Bedürfnisse und dergleichen mehr.

Legt man diesen Kriterienkatalog für die Verifizierung jüdischen Selbsthasses, der sich gegen die Person und alles, wozu sie gehört, richtet, zu Grunde, so bliebe aus der Reihe der genannten Personen allerdings lediglich Kafka übrig. In dem berühmten Brief an seinen Vater beschreibt Kafka seinen Widerwillen ihm gegenüber und allem, was er repräsentierte: Vor allem aber beschreibt er sich selbst: in seiner Jugend als schwaches, verschüchtertes und ruheloses Kind, später als kränklicher, leidender Mensch, der immer erfüllt von indefiniten Ängsten und von Krankheiten geplagt ist. Mit offenem Hass beschreibt er seinen Vater, dessen Gewalttätigkeit und Gefühllosigkeit, dessen intellektuelle Selbstherrlichkeit und drohende physische Überlegenheit. Aber dieser lange, furchtbare Brief schließt nicht mit dem Hass auf den Vater, sondern mit einer ausführlichen Kritik an sich selbst, die sich vor allem auf die eigene literarische Tätigkeit konzentriert. Sein Gebrauch der deutschen Sprache, wie der aller deutsch-jüdischen Autoren, sei nichts als ein Betrug, da man den jüdischen Tonfall nicht unterdrücken könne. In seinem berühmten Brief an Max Brod beschreibt er die Lage des deutsch-jüdischen Intellektuellen, die Lessings Definition des jüdischen Selbsthasses vorwegnimmt: "Weg vom Judentum, [...] wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es; aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters, und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration." In einem späteren Vergleich zog Kafka das Symbol der Brücke vor: "Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt. Im bröckelnden Lehm habe ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach [...]".

Ähnlich wie Kafka stand auch Theodor Lessing in seiner Jugend unter der Herrschaft eines pedantischen und hemmungslosen Vaters. Er war ein kränkliches und schwaches Kind, das jahrelang unter schweren Schlägen und unzähligen Beleidigungen zu leiden hatte. Lessing bewahrte sein ganzes Leben lang die tiefe Abneigung gegen seinen Vater und gegen alles, was mit ihm und seiner Welt verbunden war: Macht, Geld, Erfolg. Der einzige Lichtpunkt in seiner Kindheit war die Freundschaft mit Ludwig Klages, mit dem zusammen Lessing eine dualistische Weltanschauung entwickelte, wie sie damals nach der philosophischen Tradition Schopenhauers, Nietzsches und Kierkegaards unter Juden und Nichtjuden weit verbreitet war. Die Welt der beiden jungen Männer bewegte sich um den Gegensatz zwischen Geist und Natur, und es dürfte kein Zufall sein, dass beide später ähnliche philosophische Schriften verfassten, mit vitalistischer Kritik am modernen deutschen Kapitalismus. Aufgegriffen und weitergeschrieben wurde auch die arisch-jüdische Dichotomie, nach der der Jude der Vertreter des Geistes, des Intellekts und der lähmenden Moral war, der Arier hingegen die Natur, die Sinne, die Mystik und den Willen vertrat. In diesen Unterschieden manifestierte sich die geistige Grundlage, im Gegensatz zu der psychologischen, die die negative Haltung gegenüber dem Judentum als Idee und dem Juden als Typus erklären kann. Die größte Gefahr sieht Lessing in seiner Schrift über den jüdischen Selbsthass daher auch fast folgerichtig in dem jüdischen Streben nach Universalität: Die Juden seien nicht bereit, sich Traditionen und Idealen zu beugen, wenn sie diese nicht für allgemein gültig halten. Lessing fordert deshalb von den jüdischen Intellektuellen, dem "Geist" die einseitige Treue aufzukündigen und zum "Leben", zu den ursprünglichen jüdischen Volkstraditionen, zurückzukehren. Boris Groys bemerkt zu Recht in seinem Vorwort der Neuausgabe von Lessings Schrift "Der jüdische Selbsthaß", dass Lessings Appell, zu den authentischen jüdischen Traditionen zurückzukehren, "eher als Hinweis [dient], daß der jüdische Selbsthaß tiefere Wurzeln hat, als nur die innere Reaktion auf jahrhundertelange Verfolgung zu sein - dieser Selbsthaß gründet in der jüdischen Religion, derzufolge ein Jude aufgrund seines weltlichen Lebens immer vor Gott schuldig ist. Der Selbsthaß erweist sich damit als jüdisches Los von alters her, aus dem es kein Entrinnen gibt."

An sechs Personen des öffentlichen Lebens, prominenten jüdischen Deutschen, versucht Lessing sozialpsychologisch jenes Phänomen des jüdischen Selbsthasses zu erklären. Einige der sich selbst hassenden Juden, die Lessing in seinem Text auftreten lässt, vertraten eine dualistische Weltanschauung ähnlich der seinen. Der besondere Gehalt dieses Dualismus änderte sich, aber bei allen wurde der jüdische Intellektuelle der negativen Seite der Anschauung gleichgestellt. Otto Weininger und Max Steiner, die sich beide in frühen Jahren das Leben nahmen, bauten sich jeder eine Welt von Gegensätzen auf metaphysischer Ebene auf. Arthur Trebitsch und Walter Calé errichteten ein ähnliches Bild auf gesellschaftlich-politischer Ebene. Lessing zeichnet, wie Groys bemerkt, "eine Galerie psychologischer Porträts, deren Helden alle jüdische Intellektuelle sind, welche der Bruch mit ihrem Volk infolge der Aufklärung innerlich vergiftet hat; sie hassen ihr Jüdischsein und sind hingerissen vom Ariertum, jedoch unfähig, sich damit zu identifizieren. Womöglich sind Lessings arisch gesinnte Juden noch viel romantischer und raffiniert-dekadenter, leben noch mehr im Nichts als die romantischsten Arier - und für den aufmerksamen Leser ist dies bereits ein Hinweis, daß mit dem arischen Traum nicht alles in Ordnung ist." Lessings Text lässt sich als ein krasseres Beispiel jüdischen Selbsthasses lesen als alles, was er darin beschreibt: In seiner eigenen Abkehr von jüdischen Traditionen vollzieht Lessing nicht nur den Bruch mit dem Judentum, wie die im Text beschriebenen jüdischen Intellektuellen, sondern er beabsichtigt sogar, diese Traditionen zu vernichten und das Leben auf völlig anderer Grundlage neu aufzubauen: Was nach Lessing die wahre Tragödie der Juden jener Zeit ausmachte, war, dass sie sich verstärkt daran gewöhnten, von den Antisemiten Bestätigungen für ihre historische Prädestination entgegenzunehmen, selbst aber den Glauben an ihr Erwähltsein verloren hatten und ihren "Erwähltheitskomplex" anderweitig zu realisieren suchten.

Lessing stellte die Juden in eine Mittelstellung zwischen zwei Welten. Aber im Gegensatz zu Kafka war dies nicht die zum Einsturz verurteilte Brücke, sondern ein Übergang zur Erlösung. Trotz seiner unterdrückten Jugend und der Krise der Trennung von seinem Freund Klages, der bekanntlich zu einem expliziten Antisemiten mutierte, war der Selbsthass bei Lessing nicht das letzte Wort: Als Lessing im August 1933 in seinem Zimmer in Marienbad von den örtlichen Nationalsozialisten ermordet wurde, hatte er Jahre der Tätigkeit als Mitglied der Frauenrechtsbewegung hinter sich, als Gründer des Kampfes für Umweltschutz, als aktiver Sozialarbeiter, als ausgesprochener Oppositioneller gegenüber allen nationalistischen Strömungen in der Weimarer Republik - und noch dazu als Zionist. Von seiner scharfen Kritik an Juden und Nichtjuden kam Lessing zur absoluten Ablehnung der bürgerlichen, von persönlichem Erfolg und Selbstgefälligkeit erfüllten Existenz und fand später den Weg zu einem tatkräftigen Leben, gleichwohl wissend, dass er aus der Position des Außenseiters niemals herausfinden konnte: "Nur wer sie selbst kennt, mag die ungeheure Bitterkeit ermessen, die darin liegt, dorthin zu gehören, wo man 'nicht' hingehört, nicht sein zu dürfen, was man 'ist', und im letzten Grunde es nicht sein zu 'können'."

Titelbild

Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß. Mit einem Vorwort von Boris Groys.
Matthes & Seitz Verlag, München 2004.
272 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3882213477

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