Vom fluktuierenden Gewimmel der Interdiskurse

Eva-Maria Ziege unterzieht den völkischen Antisemitismus einer Diskursanalyse

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Historiker des modernen Antisemitismus haben dessen Neuartigkeit überwiegend in Begriffe gefasst, die über das normale politische Vokabular hinausgehen. Die Suche nach einer möglichst umfassenden Konzeptualisierung spiegelt die Tatsache wider, dass man sich der Komplexität und Bedeutsamkeit der Thematik bewusst war, die aber auch umso dringlicher wurde, je deutlicher der Zusammenhang zwischen Antisemitismus und anderen Ideen und Einstellungen erkennbar wurde. So hat etwa George Mosse die geistigen Zusammenhänge zwischen Antisemitismus und Rassismus, völkischen Vorstellungen und aggressivem Nationalismus herausgearbeitet und dabei die Rolle des Antisemitismus in einer von ihm so genannten "deutschen Ideologie" verortet. Fritz Stern erweiterte Mosses Konzept, indem er die Vorstellungen vom geistigen Kontext des Antisemitismus in Deutschland in einen größeren Rahmen gestellt hat. Danach hing der Antisemitismus nicht nur mit Rassismus und völkischem Nationalismus zusammen, sondern mit dem ganzen Komplex, den er "Kulturpessimismus" nennt. Sterns Quellen stammen aus der Geistesgeschichte, doch verbleibt sein Ansatz auf der interessanten Schwelle zwischen Ideen- und Mentalitätsgeschichte. Seine Analyse gilt nicht einem rationalen System von Ideen, sondern einer generellen Weltanschauung.

Ein Quantensprung in der Erforschung des Antisemitismus gelang Shulamit Volkov mit ihrem diskursanalytischen Ansatz, den Antisemitismus als "kulturellen Code" zu betrachten. Ihrer Meinung nach war der Antisemitismus weder identisch mit der umfassenden "germanischen Kultur" des wilhelminischen Reiches, noch war er bloß ein Element darin. Da er im Wesentlichen verbal blieb und für die Entscheidung der wichtigeren Tagesfragen wenig praktische Bedeutung hatte, war er umso besser geeignet, symbolischen Wert anzunehmen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war er nach Volkovs Ansicht zum "kulturellen Code" geworden. Das Bekenntnis zum Antisemitismus wurde zu einem "Signum kultureller Identität, der Zugehörigkeit zu einem spezifischen kulturellen Lager", wodurch man "die Übernahme eines bestimmten Systems von Ideen und die Präferenz für spezifische soziale, politische und moralische Normen" ausdrückte. Wichtig war natürlich der Umstand, dass die im deutschen Kaiserreich lebenden und agierenden Zeitgenossen möglichst schnell und umfassend lernten, diese Botschaften zu entschlüsseln; sie wurden Bestandteil ihrer Sprache, ein vertrautes und handliches Symbol. Der Antisemitismus war damit integraler Bestandteil einer neuen Kultur geworden, ein ständiger Begleiter des aggressiven Nationalismus und Anti-Modernismus. Bei den Nationalsozialisten nahm der Antisemitismus zunächst an Schärfe und politischer Bedeutung zu, um dann radikal verändert zu werden. Er verband sich nun mit der Politik der Gewalt, des Terrors und der Vernichtung, was sich auch in der weiterhin decodierbaren politischen und kulturellen Symbolik niederschlagen musste. Die vormals gebräuchlichen kulturellen Symbole zirkulierten in dem neuen sozialen, politischen und kulturellen Kontext des Nationalsozialismus weiter. Mehr noch: Die Kontinuität zwischen dem deutschen Kaiserreich und den Nachkriegsjahren beruhte in erster Linie auf dem ungeschmälerten Fortdauern der Kultur und ihres einheitlichen Vokabulars. Für die Nationalsozialisten war "Antisemitismus" - als wesentlicher Bestandteil einer verschärften "germanischen Ideologie" - ein Schlachtruf mit unmittelbaren Implikationen für das Handeln sowie ein Programm der Einschüchterung und Vernichtung. Für die Mehrheit der Bevölkerung aber war der antisemitische Diskurs weiterhin ein kultureller Code, ein vertrautes Bündel von Auffassungen und Einstellungen, dessen nationalsozialistische Umcodierung ihnen nicht ohne weiteres geläufig war. Mit Volkovs Worten: "Sie waren sich nicht bewußt, daß die Sprache sich verändert hatte und daß sie nicht mehr in der Lage waren, die Botschaften dieses neuen Antisemitismus zu entschlüsseln."

Eva-Maria Ziege hat in ihrer Potsdamer Dissertation den Ansatz von Volkov aufgegriffen und mit dem Instrumentarium der Diskursanalyse den Antisemitismus im völkischen Diskurs beschrieben, um die neue Radikalisierungsdynamik freizulegen. Zweiter Anknüpfungspunkt ist Pierre Bourdieus Modell der sprachlichen Produktion und Zirkulation, wonach Wert und Sinn von Diskursen erst im pragmatischen Zusammenhang mit einem Feld zustande kommen, das wie ein (kommunikativer) Markt funktioniert. Die Untersuchung zeichnet die Entwicklung des Antisemitismus von der Weimarer Republik bis zur Frühphase des NS-Staates im Hinblick auf seine Genese, seine Produzenten, seine Mechanismen der In- und Exklusion sowie seine Regeln, Redeformen und Redewirkungen im zeitgeschichtlichen Kontext nach. Hervorgehoben werden zum einen die Vieldeutigkeit, Widersprüchlichkeit, das Ambivalente und Antagonistische des völkischen Diskurses, zum anderen dessen Vernetzung mit anderen nicht-völkischen Diskursen. Demzufolge steht im Mittelpunkt der Studie die Frage, "wie die Juden auf der Ebene der Diskurse in der Weimarer Republik bereits vor der Machtübergabe 1933 und nach 1933 in den ersten Stufen des Prozesses der schrittweisen Diskriminierung, sozialen Pariaisierung, Segregierung, Auswanderung, Aussiedlung und letztlich Vernichtung diffamiert und Angriffe auf sie 'annehmbar' gemacht, ja enttabuisiert wurden."

Eva-Maria Ziege deutet mit Bourdieu den "völkischen Diskurs" als einen "Interdiskurs", als ein "widersprüchliche[s], unsystematisierte[s], fluktuierende[s] Gewimmel" anderer Diskurse, die von ihm "selektiv absorbiert" und - mit den Worten Jürgen Links - "konnotativ reintegriert" wurden. Als Oberbegriff bezeichne er das gesamte Spektrum der heterogenen politischen Bewegung, das vielfach mit dem Etikett "Konservative Revolution" versehen wurde und in den NS-Staat mündete, da er dessen gemeinsamen Nenner erfasste. Während die bisherige Forschung Antisemitismus als männerspezifisches Syndrom von Judenfeindschaft und Misogynie verstanden hat, zeigt Ziege in ihrer Arbeit unter anderem recht anschaulich, wie er durch antisemitische Gegendiskurse von völkischen Frauen radikalisiert wurde. Weiterhin gelangt die Verfasserin zu der Erkenntnis, dass sich als ein zentrales Moment ferner sein Schwanken zwischen Naturwissenschaft und Religion erweist. Dass der Nationalsozialismus als 'politische Religion' gedeutet werden kann, haben verschiedene Arbeiten der letzten Jahre gezeigt, dass jedoch auch hier von einer Vermischung von naturwissenschaftlichen und religiösen Diskursen im völkischen Diskurs auszugehen ist, die zu einer "strukturellen Ambivalenz" führt, zeigt Zieges Arbeit sehr deutlich. Drittens erbringt die vorliegende Studie neue Erkenntnisse dahingehend, dass "der Antisemitismus in der konnotativen Verschränkung des völkischen Interdiskurses mit verschiedenen Spezialdiskursen wie Medizin oder Anthropologie und zum Teil antagonistischen religiösen, politischen und sozialpolitischen Bewegungen wie der Rassenhygiene, der Jugendbewegung oder der Frauenbewegung in einem dynamischen Prozeß einer strukturellen Radikalisierung vorangetrieben wurde [...]. Trotz der sektiererisch aufgesplitterten Antagonismen beruhte die mythische Kohärenz dieses zirkulär vernetzten Ganzen darauf, daß all seine widersprüchlichen Elemente einem gemeinsamen Zweck dienten: 'die Juden zu diffamieren'". Eingearbeitet werden in diesen Rahmen materiale Analysen unterschiedlicher Textsorten genuin nationalsozialistischer Provenienz, in denen - in Abstufungen vom Lehrbuch bis zum Essay oder Pamphlet - die interdiskursive Funktion überwiegt und die das polyseme Schwanken zwischen stetig wechselnden, mitunter paradoxen diskursiven Positionen von mythischer Kohärenz zeigen, aus denen eine strukturelle Radikalisierung des Antisemitismus entstand.

Legt man die gewichtige Annahme Roland Barthes' zugrunde, nach der ein Text "nicht auf einer internen, geschlossenen, verbuchbaren Struktur [gründet], sondern auf der Einmündung des Textes in andere Texte, andere Codes, andere Zeichen", so steht die Antisemitismus-Forschung auf der Schwelle, den seit 1918 zu beobachtenden und stetig wachsenden völkischen Diskurs nicht als monosemes Gebilde zu betrachten, sondern stärker als 'Interdiskurs', als Sammelbewegung, die ihren Ausgang mit der Etablierung des Antisemitismus als 'kulturellem Code' in der Kaiserzeit nahm, bis sie von den Nationalsozialisten seit 1930 absorbiert und 1936/37 "gleichgeschaltet" wurde. Eindimensionale Antworten auf die Frage nach dem Wesen des Antisemitismus verbieten sich fortan von selbst; die eindrucksvolle Studie von Eva-Maria Ziege ist ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung.

Titelbild

Eva M. Ziege: Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2002.
302 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3896697676

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