"Schreiben ist keine Bitte um mildernde Umstände"
Jurek Becker in seinen Briefen
Von Axel Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDagegen, mit Anfang fünfzig noch einmal Vater zu werden, habe er sich anfangs "gesträubt wie ein Wahnsinniger". Gezwungen worden sei er, denn seine Frau Christine hätte ihn sonst nicht geheiratet, behauptete der Schriftsteller Jurek Becker. Doch dann empfand er den kleinen Johnny "wie ein Öfchen, an dem wir uns dauernd wärmen". Der "Piratenpapa", wie er einmal unterschreibt, will seinen "Mopsfrosch" zum Lachen bringen, wenn er wieder einmal in aller Welt umherreist. Ihm sagen, wie sehr er ihn vermisst. Die Postkarten Beckers sind Liebeserklärungen und literarische Kleinode zugleich. Etwa wenn der Schriftsteller seiner "Leseratte" auf der Rückseite Joan Miros "Le sourire des ailes flamboyantes" von 1953 wie folgt beschreibt: "[H]ast du schon je auf einer einzigen Postkarte ein solches Durcheinander gesehen? Ein Telefon, Sterne, ein flatterndes Segel, eine Sonne, ein abgenagter Fisch, eine Sanduhr und was nicht alles! Ich glaube, der Maler hatte ein bißchen viel Phantasie. Einen Regenwurm sehe ich auch noch." Oder wenn dem "liebe[n] Kugelpfirsich" die Lage eines Mannes "under pressure" erklärt wird: "Du fragst Dich, was der Mann unter dem Elefanten zu suchen hat, dabei ist das ganz klar: Der Auspuff des Elefanten war kaputt und mußte gelötet werden. Und der andere Mann fragt, wie lange es noch dauert, denn er hat es eilig und will auf dem Elefanten in den Urlaub reiten." Nachzulesen ist diese mitunter hinreißende Nonsense-Poesie in einem von Trude Trunk für Ullstein bearbeiteten Bildband der Postkarten Beckers an seinen 1990 geborenen Sohn Jonathan.
Auch sein langjähriger Freund Manfred Krug, dem Becker von 1986 an als Drehbuchautor der Serie "Liebling Kreuzberg" die Rolle des Anwalts Robert Liebling auf den Leib geschrieben hatte, bekam einige der kleinen Sprachkunstwerke, was ihn schwärmen ließ: "Hat Jurek etwas Schöneres geschrieben als diese Postkarten?" Schwer zu sagen. Ernste Themen, spielerische Leichtigkeit, Witz und Ironie charakterisieren nahezu alle Texte Beckers: die Geschichte des Juden Jakob, der im Ghetto zum Lügner wird, um anderen Hoffnung zu geben; die Auseinandersetzung zwischen Vätern und Söhnen: wie für den, der Auschwitz überlebte, Zukunft noch möglich sei; auch die Beschreibung des Alltags im skurril wirkenden Detail, die Lebendigkeit seiner Figuren bestechen durch ernste Leichtigkeit und leichte Genauigkeit. In "Amanda herzlos" und "Schlaflose Tage" porträtiert er mit ironischem Witz den Alltag in der DDR. Beides, die Shoah und das sozialistische Deutschland, hat Becker selbst erlebt. 1937 kam er in Polen als Sohn jüdischer Eltern zur Welt; es begann mit der Kindheit im Ghetto und im KZ Ravensbrück, eine Zeit, an die er sich später nicht mehr genau erinnern konnte. Nach dem Krieg zieht sein Vater mit ihm nach Ost-Berlin. Der neunjährige Jurek spricht kein Wort Deutsch, als er dort zum ersten Mal in seinem Leben zur Schule geht. Schreiben lernt er später, aber mit Leidenschaft: "Der Schreibtisch ist der einzige Ort, an dem ich ein klein bißchen fliegen kann." Weil man seine Romane nicht verlegt und er nicht mehr an den Sozialismus glaubt, reist Becker 1977 in den Westen aus. Mitte der achtziger Jahre gerät er für ihn selbst überraschend in ein Doppelleben als Drehbuch-Autor und literarisches Ausnahmetalent.
All das verleiht seinen brieflichen Hinterlassenschaften den Rang von historischen Dokumenten. Denn neben jenen Botschaften in den Johnny-Postkarten an die "alte Ananasbirne", das "olle Gummibärchen" oder die "liebe Gurkenzwiebel" hat Becker eine ganze Reihe von Briefen hinterlassen, die seine Witwe Christine zusammen mit Joanna Obrusnik für den Suhrkamp Verlag zusammengestellt hat. In dieser lesenswerten Auswahlausgabe, die allerdings einen detaillierteren und kundigeren Kommentar verdient gehabt hätte, finden sich vor allem Betriebliches aus einem Schriftstellerleben, Anfragen, Reisevorbereitungen, Reaktionen auf Einladungen und Veranstaltungen. Wovon die Briefe nahezu völlig frei sind, sind ästhetische und literarische Fragen, über die Jurek Becker nicht mit Hilfe des Mediums Brief diskutierte. Altmodisch und liebenswürdig zugleich wirkt der Umstand, dass Becker fast jede schriftliche Äußerung in Schulheften, in denen er auch seine Prosawerke und Drehbücher entwarf, vorformulierte und dann für den Empfänger abschrieb. Eine Gewohnheit, die sich für die literarisch interessierte Nachwelt als Glück erwies, denn ohne sie hätte es die beiden Bände in der vorliegenden Gestalt sicherlich nicht gegeben.
Jurek Becker formuliert in seinen Briefen direkt, klar und unmissverständlich. Mit Hilfe der ihm eigenen Ironie gelingt es ihm immer wieder, selbst unangenehme Nachrichten so vorzutragen, dass sie ihre Adressaten nicht verletzen, sondern ihnen lediglich ein schlechtes Gewissen machen. "Setz Dich lieber gleich hin", empfiehlt er der Suhrkamp-Lektorin Elisabeth Borchers 1973, deren 'Mitarbeit' ihn ein Leben lang begleitete, "diesmal ein Brief von ungewohnter Art, ich bin stocksauer und werde gleich losschimpfen. Wieviel Schuld du selbst an meinem Zorn hast, weiß ich nicht, aber einer muß es ja gewesen sein". Grund des Anstoßes war der Umstand, dass in Borchers' Lektorat sein Buch "Irreführung der Behörden" als DDR-Lizenzausgabe mit "37 Fehlern und Ungenauigkeiten" erschienen war: "Du wirst sicher Verständnis für meine Wut haben, denn wenn ich mich durchringen würde, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen, dann könnte ich mir gleich einen Beruf suchen, bei dem es auf Worte nicht ankommt." Überhaupt gehören die 25 Schreiben an Borchers zu den Höhepunkten der Auswahl, zeigen sie doch die erstaunliche Verwandlung der "[w]erte[n] Frau Borchers" zu "Süßelisabeth" und damit en passant, wie aus einer reinen Geschäftsbeziehung ein enges Vertrauensverhältnis wird.
Andere Briefe erzählen noch einmal, was es in einem Staat wie der DDR bedeutete, mit der Zensur kämpfen zu müssen, wie man sich für jedes offene Wort beim Ministerium für Kultur rechtfertigen musste. Von unmissverständlicher Deutlichkeit sind die wenigen Briefe in diesem Band, die von Beckers Auseinandersetzungen mit dieser Behörde und den offiziellen "Kulturträgern" in der DDR und den Ländern des Warschauer Paktes handeln. Dem Direktor des Hauses der Tschechoslowakischen Kultur schrieb er, man möge ihn mit weiteren Einladungen verschonen, weil "ich mit großer Sorge [beobachte], wie Künstler und Kulturschaffende in Ihrem Land Repressalien, Demütigungen und Verfolgungen ausgesetzt sind. Nun nachdem mein Kollege Václav Havel verhaftet worden ist, verspüre ich absolut keine Lust, an Veranstaltungen in Ihrem Haus teilzunehmen." Vehement setzte sich Becker für die Rehabilitierung Reiner Kunzes ein und trat 1977 aus dem Schriftstellerverband der DDR aus. Dem stellvertretenden Kultusminister Klaus Höpcke warf er im Herbst 1977 vor, ihn quasi als Agenten zu kriminalisieren, und beschloss einen Brief an ihn mit dem Satz: "Aber was soll ich denn anderes tun, als die Wahrheit zu sagen, so laut ich kann, oder, da selbstverständlich auch ich keinen Besitzanspruch auf Wahrheit geltend machen kann, das zu sagen, was ich für Wahrheit halte." Dass er mit diesem Anspruch an Grenzen stieß, zeichnete sich bald in aller Deutlichkeit ab. Und so teilte er dem DDR-Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann einen Monat später mit: "Seit geraumer Zeit lebe ich in Umständen, die mir von Tag zu Tag mißlicher erscheinen, unter denen ich nicht arbeiten kann und denen ich nicht länger ausgesetzt sein möchte. Ich halte es daher für die naheliegende Lösung, die DDR zu verlassen" - ein Umstand, der dann auch bald eintrat.
Anderen etwas vorzumachen war nicht Beckers Art. In seiner Korrespondenz erweist er sich als das Gegenteil eines Aufschneiders, was ihn im Literaturbetrieb einsam machte. Mitunter stellt sich beim Lesen der Briefe die Frage, ob dieser fulminante Schriftsteller überhaupt zum Literaturbetrieb gehörte. Mit Frisch, Grass, Hermlin und Stefan Heym fühlte er sich freundschaftlich verbunden, doch Autorenversammlungen und Akademietagungen blieb er in der Regel fern. "Die wenigen Schriftstellerkongresse, an denen ich bisher teilgenommen habe, haben mich zuverlässig in ein Stimmungstief versetzt, das Wochen anhielt", gestand er dem Leiter eines Goethe-Instituts 1993, und das war wohl keine Pose. Alle Briefe belegen Satz für Satz, wie unmissverständlich Becker war, wie deutlich er sich im Verhältnis zu seinen Korrespondenten definierte; aber auch, wie wichtig es ihm war, dass seine Briefpartner Klartext redeten. An Elisabeth Borchers schrieb er bereits 1972: "Schreiben ist keine Bitte um mildernde Umstände, da haben die Fetzen zu fliegen, Rücksichten hierbei sind fast immer falsche Rücksichten, und ich verfüge über keinen falschen Hals, in den ich Kritik kriegen könnte [...]". Denn, so ein Jahr später zum gleichen Thema, "mich [lassen] alle Kritiken, ob jubelnde oder verurteilende, kalt [...]. O.K., ich denke über sie nach, aber für meine Arbeit spielen sie überhaupt keine Rolle." Dennoch ärgerte sich Becker vehement über negative Kritik, vor allem, wenn diese dumm war. An den damaligen Literaturchef der "Zeit", Fritz J. Raddatz, schrieb er 1978: "wie bei nahezu allen Ihren Rezensionen, weiß ich auch gegen die Besprechung der Schlaflosen Tage so gut wie nichts einzuwenden. Ich hoffe von Herzen, Sie mögen mit der Bemerkung recht haben, es sei mein bisher schwächstes Buch." Entscheidend ist allerdings der Nachsatz: "Nur eins kann ich Ihnen unmöglich durchgehen lassen: das Bild. Ich bin seit über zwei Jahren Nichtraucher und unmäßig stolz darauf. Da man von der 'Zeit' die größte Aktualität gewohnt ist, wird jetzt jeder Bekannte, der mich dort sieht, sofort an Rückfall denken. Und so weit, meine ich, sollte eine Rezension nicht gehen".
Die Briefe Beckers spiegeln viele Facetten eines viel zu kurzen Lebens wider. Gleichwohl kann man sich der Frage nicht erwehren, warum die persönlichen Dokumente nur so spärlich vorhanden sind. Hat er seinen engsten Freunden, den Söhnen und seinen beiden Frauen tatsächlich so wenige bedeutende Briefe geschrieben? Wo sind etwa die Briefe an Manfred Krug? Das mag in erster Linie damit zu erklären sein, dass Becker "ein Mann des unmittelbaren Gesprächs" war, wie Heinz Ludwig Arnold treffend bemerkt hat, "da gab es möglicherweise gar kein Bedürfnis nach schriftlichem Austausch".
Einen, den er nach eigenem Empfinden viel zu selten sah, war der abgöttisch geliebte Sohn Johnny, der, als Becker am 14. März 1997 im schleswig-holsteinischen Sieseby an Krebs starb, gerade einmal sechs Jahre alt war. Wie ein Vermächtnis liest sich die Postkarte, die Becker anlässlich der Einschulung Johnnys am Anfang August 1996 verschickt: "[L]etzte Nacht habe ich von einem Zauberer geträumt, der zu mir kam und sagte, daß er mir alle Fragen beantworten kann. Also fragte ich: Wie wird die Schule Johnny gefallen? Er sagte: Meistens gut. Ich fragte: Wird Johnny ein guter Schüler? Er sagte: Johnny wird ein toller Schüler. Ich fragte: Und wird er in der Schule viele Freunde finden? Er sagte: Nicht viele, aber ein paar sehr gute. Und Freundinnen natürlich auch."
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