Avantgardistischer Realismus

Verena Holler wirft zwei Blicke auf Robert Menasses "Trilogie der Entgeisterung"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vier Bände umfasst Robert Menasses sich zwischen Avantgarde und Realismus bewegende brillante "Trilogie der Entgeisterung": die Romane "Sinnliche Gewißheit" (1988), "Selige Zeiten, brüchige Welt" (1991), "Schubumkehr" (1995) und als Nach-Schrift die Geschichte des verschwindenden Wissens, die "Phänomenologie der Entgeisterung" (1995). Vom Feuilleton einhellig als unterhaltsam erzählte, ironisch gebrochene Geschichten postmoderner Provenienz gefeiert, haben sie auch den Ruf Menasses als poeta doctus zementiert, da in den Texten nicht nur dessen Fabulierlust zu besichtigen ist, sondern auch die angewandte Technik der Zitat-Montage. Mit scheinbar postmoderner Lust verarbeitet Menasse in seiner "Trilogie" zahlreiche Zitate von Thomas Mann, Adalbert Stifter und Marcel Proust, von Hegel, Walter Benjamin, Georg Lukács, Heimito von Doderer, von Gottfried Keller, Heinrich von Kleist, Peter Handke, Laurence Sterne, um nur die augenfälligsten zu nennen. Sein inhaltliches Pendant findet dieses postmoderne Intertext-Potpourri nicht zuletzt in der Textgestalt des Romans, dem sich die Welt nur noch als Ansammlung von Zitaten erschließt - analog zu einem als postmodern konstatierten Zeitgeist, der durch den Verlust jeglichen Zusammenhangs begriffen wird. Der exemplarische Protagonist der "Trilogie", Roman Gilanian, wie auch der postmoderne Roman an sich leiden an denselben Symptomen des von Menasse beschriebenen Zeitgeists, ist seiner Meinung nach doch die postmoderne Literatur dadurch charakterisiert, dass sie - wie Wolfgang Neuber angemerkt hat - "aus der Geschichte zitiert, ohne am Geist des Zitierens interessiert zu sein, sie paraphrasiert, ohne die Bedeutung des Paraphrasierens zu vermitteln, und sie vermengt eklektizistisch, was ihr aus der Geschichte gerade einfällt, ohne es zu systematisieren". Für Menasse ist das postmoderne Bewusstsein "die Emphase von der Beliebigkeit der Beziehungen, die die Phänomene heute eingehen können, weil reale gesellschaftliche Vermitteltheiten keine Rolle mehr spielen, bzw. durch das Prinzip Beliebigkeit ersetzt sind: das allgemeine Bewußtsein ist eine Klitterung aus Versatzstücken der Geschichte, gereinigt von Geschichte, aus Zitaten, gereinigt vom Geist des Zitierten, Kopien, ohne Bewußtsein vom Original, also Original-Kopien, Farcen, die die Tragödien vergessen haben, die sie perpetuieren."

Verena Holler hat jüngst in ihrer ausgezeichneten Dissertation "Felder der Literatur. Eine literatursoziologische Studie am Beispiel von Robert Menasse" (eine bearbeitete und erweiterte Fassung einzelner Passagen findet sich auch im "Dossier"-Band über Menasse) darauf aufmerksam gemacht, dass sich Menasses "Trilogie" auf den zweiten Blick jedoch "geradezu als eine Negation der bloßen postmodernen 'Lesbarkeit'" verstehen lässt, da er hier "dem Obsolet-Werden der Totalität in der Postmoderne beharrlich Hegels Satz 'Das Wahre ist das Ganze' [...] bzw. dem in der Postmoderne wieder zu literarischen Ehren gekommenen sinnentleerten delectare eine an der Lukácsschen Ästhetik orientierte Poetologie des totalen Romans" entgegensetzt. Im Mittelpunkt von Menasses Romanen stehe mithin der an Lukács orientierte Versuch, eine verloren gegangene Totalität aufzudecken, inhaltlich über die Romanfiguren, die sich in ihrem Streben nach Totalität als Suchende im Sinne von Lukács fassen lassen, als auch formal, etwa durch die Wechsel der Perspektive zunächst vom Ich- zum Er-Erzähler und schließlich durch das Verschwinden jeglicher Erzählerfigur. Für Menasse selbst sollte die "Trilogie" "die Erzählung zeitgenössischer Bewußtseinsentwicklung sein. Das Konzept war einfach dieser Dreischritt. Im ersten Roman muß es einen Ich-Erzähler geben, also einen, der glaubt, noch Ich sagen zu können. Im zweiten verschwindet er. Die Authentizität des individuellen Lebens verschwindet da sozusagen. Es gibt den auktorialen Erzähler, der diese Ich-Gewißheit nicht mehr zuläßt. Und in Schubumkehr verschwindet auch der. Da gibt's überhaupt keinen Erzähler mehr, nur mehr die Videoaufnahme, die technische Reproduktion von Realität. Und die als zufällige. Also das Ich verschwindet im Allgemeinen und das Allgemeine verschwindet ganz. Das war der geplante Dreischritt für die Trilogie, und das konnte ich damals auch jederzeit literaturtheoretisch begründen". Was Menasse hier andeutet, ist die "vollkommene Inversion des klassischen Bildungsromans". Seiner Ansicht nach kann ein "zeitgenössischer Entwicklungsroman [...] nur ein Rückentwicklungsroman sein und das war dann auch die Grundidee, das Konzept der ganzen Trilogie, diese Rückentwicklung des Individuums zu zeigen - vom Ich zum Nichts".

Beschreibt Menasses "Trilogie" einerseits die Unwiederbringlichkeit der (gesellschaftlichen, erzählerischen) Totalität, so zeichnet die Romane doch der Anspruch aus, ein solches Bild der zeitgenössischen Realität - als Posthistoire - in ihrer Totalität einzufangen. Dementsprechend werden - wie Verena Holler hervorhebt - "[d]ie 'Risse und Abgründe' [...] bei Menasse nicht nur thematisiert, sondern dergestalt in der Komposition des Romans selbst aufgehoben. Auch die Prozeßhaftigkeit, die Lukács als wesentliches Merkmal des Romans ausmacht, scheint bei Menasse geradezu idealtypisch realisiert, zielt seine Suche nach der gesellschaftlichen Totalität über das Erzählen von Geschichten doch unmittelbar auf die Geschichte selbst". Ähnliches klingt in einer Bemerkung Menasses an: "Aber so faszinierend ich also die Vielfalt literarischer Techniken und Schreibweisen fand und finde, so langweilig erscheint sie mir dort, wo sie sich in sich selbst erschöpft; als Avantgarde, die ununterbrochen Sprachspiele macht und behauptet, damit dem Schreiben neue Möglichkeiten zu eröffnen. Da sag ich mir dann, wenn der eine neue Möglichkeiten des Schreibens gefunden hat, dann soll er sie anwenden und mir zeigen: Dafür habe ich diese Möglichkeit eröffnet. Es sollte also dann auch was erzählt werden. Nicht nur das Wie, auch das Was ist wichtig. Wozu soll man einen zeitgenössischen Autor lesen? Um über seine Zeitgenossenschaft was zu erfahren und sich als Zeitgenosse selbst zu reflektieren. Es geht also darum, in welcher Form bzw. in welchen Formen welcher Stoff zu erzählen ist".

Was hier ansichtig wird, ist - bleibt man doch noch einen Moment bei den von Menasse kritisch hinterfragten Sprachspielen - gewissermaßen post-postmoderne Ästhetik, wenn die künstlerisch avancierten Techniken der Avantgarde mit dem gegenwartsbezogenen Erkenntnisanspruch neorealistischer Literatur verknüpft werden sollen. In diesem Sinne ist auch folgender Vermerk in Menasses Arbeitsjournal zur "Sinnlichen Gewißheit" zu interpretieren: "Nichts von dem, was ich geschrieben habe, ist 'wahr'. Es ist eine Montage, ein System von literarischen Paraphrasen und Zitaten. Und doch drücken sie aus, was den Zustand des allgemeinen Bewusstseins betrifft, unsere Zeit aus. Wenn also auch nicht 'wahr' ist, was ich geschrieben habe, so ist es doch die Wahrheit, daß es so ist." Mit diesen Überlegungen über Realismus, Mimesis und den Begriff der 'Wahrheit' im literaturtheoretischen Sinne stellt sich Menasse deutlich postmoderner Ästhetik entgegen, die angesichts einer zunehmenden Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion den Mimesis-Begriff re-formuliert. Nicht zuletzt hier sieht Verena Holler Menasses Programm eines "avantgardistischen Realismus" verwirklicht, "wodurch die Ebene dieser literarischen Selbstbespiegelungen wiederum mit jener der Gegenwartsdiagnostik verknüpft ist, versucht sie doch durch diese Spielart des Realismus genau das aufzuheben, was sie als Zeitgeist beschreibt". Nach Holler reaktiviert Menasses "Trilogie" "ein an Lukács orientiertes Modell realistischen Schreibens und gibt sich als Resultat einer bewußten Auseinandersetzung mit der Geschichte des literarischen Feldes, die einem sinnentleerten postmodernen Unterhaltungsanspruch ebenso eine Absage erteilt wie dem abbildenden Realismus oder dem avantgardistischen Formalismus".

Robert Menasse hat in einem Gespräch mit Ernst Grohotolsky für den "Dossier"-Band auf exakt diesen 'blinden Fleck' der "Trilogie" verwiesen, wenn er von einem schizophrenen Umgang seiner Generation mit Geschichte spricht: "Wir sind doch die, die den Auftrag von Kindheit an mitbekommen haben, niemals zu vergessen, was unmittelbar vor unserer Geburt war. Also wir müssen das immer bedenken, mitschleppen. Wir müssen immer zurückschauen und uns das vor Augen halten, damit das nie wieder passieren kann usw. Und wir haben den Auftrag, das Nichterzählte zu rekonstruieren und die Lügen zu entlarven. Wir haben immer den Kopf umgedreht bekommen im Hinblick auf die jüngste Vergangenheit. Und gleichzeitig war es auch unsere Generation, die den Auftrag bekommen hat, eine bessere Zukunft zu bauen. Und in Wahrheit ist damit genau das passiert: Es wurde eine gesamte Generation mit dem Rücken voran in die Zukunft, aber mit dem Blick voran in die Vergangenheit, auf den Weg geschickt. Das ist natürlich ein Verhängnis, das sich vor allem in dem Moment dramatisch zeigt, wenn man merkt, dass man in jedem Augenblick in seiner Zeitgenossenschaft zu kurz kommt". Der verdrehte Kopf, der sich als Zitat von Klees "Engel der Geschichte" und Benjamins Exegese dieses Bildes lesen lässt, steht bei Menasse für den Trümmerhaufen der Geschichte. Während bei Benjamin allein der Engel den katastrophischen Zustand der Vergangenheit wahrnimmt und ihm die Aufgabe zukommt, deren Trümmer in der Stillstellung von Zeit zusammenzufügen, steht der Engel bei Menasse selbst für den historischen Fehler, das vermeintliche Geschichtsziel ins Auge gefasst zu haben; ihm bleibt nur die Möglichkeit, Stadien und Phasen der Vergangenheit zu durchlaufen. Aus dem rückwärts und blindlings vorangetriebenen Engel der Geschichte wird damit der Engel der Posthistorie, dem Gegenwarts- und Zukunftsbewusstsein abhanden gekommen sind.

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Verena Holler: Felder der Literatur. Eine literatursoziologische Studie am Beispiel von Robert Menasse.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
339 Seiten, 56,50 EUR.
ISBN-10: 3631508840

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Titelbild

Kurt Bartsch / Verena Holler (Hg.): Robert Menasse. Dossier 22.
Literaturverlag Droschl, Graz 2004.
312 Seiten, 31,00 EUR.
ISBN-10: 3854206747

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