Nicht alles ist dumm

Hans-Horst Henschens Übersetzung von Flauberts "Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich fühl's, vergeblich hab' ich alle Schätze / Des Menschengeists auf mich herbeigerafft" - diese pathetische Klage von Goethes Faust findet ein komisches Echo in Flauberts unvollendet gebliebenem Roman "Bouvard und Pécuchet", der 1881 postum veröffentlicht wurde. Die Titelhelden sind zwei Pariser Kopisten, die durch eine Erbschaft in die Lage versetzt werden, sich aufs Land zurückzuziehen und dort vielerlei Studien zu treiben, wobei ein Gebiet ziemlich abrupt vom nächsten abgelöst wird: Agri- und Hortikultur, Chemie, Geologie, Archäologie, Geschichte, Literatur, Politologie, Gymnastik, Magnetismus, Spiritismus, Philosophie, Theologie und Pädagogik. Der naive Dilettantismus der beiden Autodidakten und die Absurditäten in der konsultierten Fachliteratur führen dazu, dass jedem hoffnungsvollen Beginn ein klägliches Scheitern folgt. Notizen geben Auskunft, wie Flaubert das Ende geplant hat: Resignation und lähmendes Desinteresse werden überwunden, indem die beiden Freunde zu ihrem alten Beruf zurückkehren und alles kopieren, was ihnen in die Hände fällt, u. a. Exzerpte aus den zuvor gelesenen Büchern und alte Papiere, nach Gewicht gekauft in einer Papiermühle. Dabei herrscht "Gleichheit von allem und jedem, des Guten und des Bösen, des Schönen und des Hässlichen, des Bedeutungslosen und des Charakteristischen". Diese "copie" sollte der zweite Band von "Bouvard und Pécuchet" werden, ein Text, bestehend aus Zitaten, ohne Narration oder höchstens mit geringfügigen erzählerischen Einschüben, eine Art Quellendokumentation zum ersten Band.

Überliefert ist eine schier unübersichtliche Materialsammlung - Flaubert hat mehr als 1.500 Bücher zu Rate gezogen -, die sich einer systematischen Anordnung weitgehend entzieht und bei deren Publikation arbiträre editorische Eingriffe unvermeidbar sind. Bis heute liegen nur Auswahlausgaben vor. Zurzeit noch maßgeblich ist die Edition von Alberto Cento und Lea Caminiti Pennarola (1981). Doch an sie schließt sich die hier vorliegende erste deutsche Übersetzung nur bedingt an. Der renommierte Übersetzer, der 1997 den Johann-Heinrich-Voß-Preis erhalten und sich mit seiner 2003 erschienenen Übersetzung von "Bouvard und Pécuchet" bereits als Flaubert-Fachmann ausgewiesen hat, zeigt beachtlichen philologischen Ehrgeiz und hat archivalische Studien in der "Bibliothèque municipale de Rouen", wo Flauberts Materialien aufbewahrt werden, nicht gescheut. Seine Übersetzung ist in vielen Punkten eigenständig und außerdem umfangreicher als die bisherigen französischen Ausgaben. Darüber hinaus bietet ein broschierter Zusatzband die originalgetreue Transkription von aus dem Konvolut ausgewählten Passagen mit Übersetzung und Kommentar, wobei die Abbildungen einiger handschriftlicher Seiten den Eindruck von großer Authentizität vervollständigen.

Was Flaubert selbst "copie" nennt, trägt seit der Ausgabe von René Dumesnil (1945) den Titel "sottisier": 'Sammlung von Dummheiten, die bekannten Autoren unterlaufen sind'. Der Titel "Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit" für die deutsche Übersetzung wurde durch eine briefliche Äußerung Flauberts angeregt, derzufolge für "Bouvard und Pécuchet" der Untertitel "encyclopédie de la bêtise humaine" in Frage komme - Henschens Zusatz "Universal" ist redundant. Vielleicht ist der Hinweis angebracht, dass diese Enzyklopädie nicht verwechselt werden darf mit dem "Wörterbuch der Gemeinplätze", das ebenfalls im Zusammenhang mit "Bouvard und Pécuchet" steht und von dem Henschen in Kürze eine Neuübersetzung vorlegen will. Das "Wörterbuch" verzeichnet anonyme Floskeln und Banalitäten der bourgeoisen Konversation, während die Urheber der Zitate im "sottisier" meist namentlich bekannt und oft auch namhaft sind.

Der Begriff 'Dummheit' entzieht sich genauer Definition; und was schon allgemein gilt, gilt erst recht für den Sprachgebrauch Flauberts. In dessen letzten Lebensjahren, so Henschen, konzentrieren sich "alle - mentalen wie physischen - Strebungen und Energien im dem geradezu unbändigen Hass [...], mit dem er die bêtise umkreist, sein Schlüsselwort, aber auch sein Fahnen-, sein Losungswort, sein Vor- und Nachwort, sein Codewort, Kraftwort, Schimpfwort, sein Sprich-, Stich- und Schlagwort, kurz: sein Kennwort, sein psychisch extrem überbesetztes 'Zauberwort'." Alles, was ihm ein Ärgernis ist, erklärt er zur Dummheit, die eben mehr ist als nur ein intellektueller Makel, sondern der Gegenpol schlechthin zu den von ihm vertretenen Werten. Deswegen wird auch das ästhetisch Anstößige als Dummheit eingestuft. Das belegen nicht zuletzt die zahlreichen Exzerpte aus Werken prominenter Autoren - unter ihnen Corneille, Pascal, Racine und Voltaire. Der hochempfindliche Stilist leidet unter sprachlichen Idiosynkrasien, die neurotisch anmuten. Doch muss der Eindruck, den die Übersetzung davon vermittelt, vage bleiben. Die Abneigung z. B. gegen die Häufung von que-Sätzen lässt sich mit Hilfe des deutschen Wortlauts kaum nachvollziehen. Dankenswerterweise bietet der Kommentar in diesen und ähnlichen Fällen den Originaltext. Auch bei den Beispielen für Kitsch und andere ästhetische Entgleisungen wünschte man sich so etwas wie einen Paralleldruck. Er böte eine Grundlage für reizvolle Übersetzungsstudien.

Näher beim landläufigen Begriff von Dummheit liegen die Beispiele für weltanschaulich und religiös bedingte Borniertheit, obschon auch hier Mangel an intellektueller Befähigung nicht ohne weiteres gegeben sein muss, da oft eine bewusst eingenommene Haltung zum Ausdruck kommt. Zwar verweigert der Individualist und Skeptiker Flaubert jeder Ideologie die Gefolgschaft, doch seine ganz besondere Aversion gehört dem Katholizismus. Für ihn ist das Katholische fast immer das Dumme. Die Heftigkeit der Ablehnung wird allein schon durch das Stichwort "Katholischer Unrat" belegt, das er über ein Zitat aus einem erzbischöflichen Hirtenbrief setzt: "Ehegatten, die dieses Namens unwürdig sind, beschmutzen heute die Heiligkeit des Ehebundes und nehmen sich in ihrer Begehrlichkeit und ihrem Misstrauen gegenüber der Vorsehung selbst das Recht heraus, der Schöpfung menschlichen Lebens Grenzen aufzuerlegen." Unschwer lässt sich vorstellen, wie sein Urteil über den heutigen christlichen Fundamentalismus ausfallen würde. Für katholische Gelehrte, die den kirchlichen Lehren Vorrang vor der Wissenschaft einräumen, hat er kaum mehr als Hohn übrig, der angesichts eines Exzerpts wie dem folgenden verständlich ist: "Trotz ihrer Fortschritte hat die Wissenschaft der Genesis nichts entgegenzusetzen, und wir besitzen Dogmen, in denen alle Erklärungen dafür gegeben werden." Trotz gelegentlicher Vorbehalte bleibt er dem Geist des achtzehnten Jahrhunderts verpflichtet, und seine Hauptgegner sind die klerikalen Autoren, die Aufklärung und Französische Revolution rückgängig machen wollen, an ihrer Spitze der Staatsphilosoph Joseph de Maistre, Flauberts bête noire und im "Sottisier" meistzitierter Autor.

Viele Zitate aus dem Werk de Maistres sind in der Tat geeignet, Befremden hervorzurufen. Doch zuweilen hilft Flaubert nach, so z. B. wenn er unter dem Stichwort "Moral. Lob der Sklaverei" notiert: "Rechte Ordnung wird erst herrschen, wenn die Sklaverei oder die Religion wieder eingeführt sind." Der ursprüngliche Kontext ist differenzierter: Es geht um das von katholischer Seite häufig vorgetragene Argument, das Christentum habe die Sklaverei abgeschafft. "Überall da", so de Maistre, "wo eine andere Religion herrscht als die unsere, ist die Sklaverei rechtens, und überall da, wo diese Religion sich abschwächt, wird die Nation, im genau entsprechenden Verhältnis, immer weniger für die allgemeine Freiheit tauglich. Wir haben gerade gesehen, dass der Sozialstaat bis in seine Grundfesten erschüttert ist, weil es zu viel Freiheit in Europa und nicht genug Religion gab. Es gibt noch andere Erschütterungen, und die rechte Ordnung wird erst dauerhaft wiederhergestellt sein, wenn die Sklaverei oder die Religion wieder aufgerichtet ist." Gewiss, das klingt in liberalen Ohren unerfreulich; doch es ist ein Lob der Kirche, nicht der Sklaverei und wird zur Dummheit erst durch grobe Verkürzung.

Je genauer die Lektüre des "Sottisier", desto größer das Misstrauen gegenüber der Zitierweise. Als weiteres Beispiel eine Stelle aus der Rede des Dramatikers Eugène Scribe, gehalten 1836 bei seiner Aufnahme in die Académie française: "Die Komödie von Molière - belehrt sie uns über die großen Ereignisse des Jahrhunderts von Ludwig XIV.? Sagt sie uns ein Wort über die Irrtümer, die Schwächen oder die Fehler des großen Königs? Spricht sie von der Widerrufung des Edikts von Nantes?" Dazu Flauberts Randnotiz: "Molière gestorben 1673. Widerrufung des Edikts von Nantes 1685." Scribe wird also der Ignoranz bezichtigt. Es muss jedoch hinzugefügt werden, und wiederum versetzt der nicht genug zu würdigende minuziöse Kommentar dazu in die Lage, dass Kontext und unverfälschter Wortlaut des Zitats einen solchen Vorwurf zumindest abschwächen: "Ich glaube nicht, daß der komische Autor Historiker sein sollte: Das ist nicht seine Aufgabe. Ich glaube nicht, dass man bei Molière selbst die Geschichte unseres Landes wiederfinden kann. Die Komödie Molières oder seiner Zeitgenossen [!], belehrt sie uns über die großen Ereignisse des Jahrhunderts von Ludwig XIV. [Es folgen die exzerpierten Sätze]." Scribe spricht also nicht ausschließlich von Molière; und wenn das Zitat in Flauberts Verkürzung so aufgefasst werden könnte, als würde Molière wegen seiner politischen Enthaltsamkeit kritisiert, so besagt der vollständige Wortlaut nur etwas über den nach Scribes Meinung grundsätzlich unpolitischen Charakter der Komödie schlechthin. Ist das schon Dummheit, oder wird die Dummheit erst erzeugt, um Scribe und mit ihm der Akademie eins auszuwischen?

Oft jedoch ist der ursprüngliche Kontext gar nicht vonnöten, um an der behaupteten Dummheit eines Zitats zu zweifeln. Als geistreiches Paradoxon ließe sich folgende "Moral der Trappisten" auffassen: "Der Dämon der Hoffart frohlockt, wenn er die Tugenden wachsen sieht." Ähnlich wäre ein Satz Bérangers zu bewerten: "Ich habe oft gesagt, dass ich nur dann gearbeitet habe, wenn ich nichts Besseres zu tun hatte." Ist die Einschätzung Friedrichs des Großen durch de Maistre fraglos dumm, wenn dieser schreibt: "Ich habe, seit ich denken kann, eine besondere Abneigung gegen Friedrich II., den ein rasendes Jahrhundert in aller Eile zum großen Mann ausgerufen hat, der im Grunde aber nur ein großer Preuße war"? Solche Fragen häufen sich. Weil jede abgedruckte Stelle unter "Dummheitsverdacht" steht und der Leser sich dazu aufgerufen fühlt, diesen Verdacht zu überprüfen, ihn zu bestätigen oder zurückzuweisen, wird seine Lektüre ungewöhnlich aktiv und selbstständig. Das macht die Materialsammlung anregender als den Roman selbst, in welchem der erzählerische Rahmen die Perspektive vorgibt und der Leser die Freiheit zum eigenen Urteil in weit geringerem Umfang hat.

Die im Roman inszenierte epistemologische Kakophonie entsteht weniger durch einzelne Dummheiten als vielmehr durch die anhäufende Zusammenstellung von divergierenden Aussagen und Meinungen, die durch Dekontextualisierung ihres eigentlichen Sinns weitgehend beraubt sind. Für dieses Verfahren gibt es im "Sottisier" bereits einige Hinweise, und Henschen hat, inspiriert von Freud, eine ebenso hübsche wie zutreffende Formulierung parat: "Wo Sinn war, soll Unsinn werden". Womöglich ist die Einstellung Flauberts zur "bêtise" gar nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, sondern ambivalent: Während er persönlich unter der Dummheit der anderen leidet, braucht er sie als Satiriker und hat sie als solcher nicht ohne Genugtuung aufgespürt und mitunter sogar erst hergestellt. In seinem Werk ist ja die ästhetisch reizvolle Darstellung von Dummheit kein Einzelfall, als Beispiel sei nur an das berühmte Kapitel über die Versammlung des landwirtschaftlichen Vereins in "Madame Bovary" erinnert.

Noch an einen anderen Roman der Weltliteratur ist zu denken, an Voltaires "Candide", mit dem "Bouvard und Pécuchet" zu Recht oft verglichen wird: Beide Romane sind satirische Darstellungen von etwas, was prägend am Weltbild des jeweiligen Jahrhunderts teilhat, philosophischer Optimismus im achtzehnten Jahrhundert, Wissenschaftsgläubigkeit im neunzehnten, und bei beiden Romanen ist das Vergnügen an der witzigen Karikatur des Angriffsziels literarisch nicht geringer zu veranschlagen als der sachlich begründete Unwille.

Nicht nur aus Ablehnung und Entrüstung, sondern auch aus der Freude an der satirischen Aggression dürfte Flaubert die Kraft geschöpft haben, jahrelang mit so viel Mühe eine so umfangreiche Materialsammlung zusammenzutragen. Hinter den Kollektaneen verbirgt sich ein ästhetischer Antrieb, der auch in Henschens Übersetzung spürbar ist. Nicht weniger Anerkennung als die Übersetzung verdient der Kommentar, dessen stupende Gelehrsamkeit fast unentbehrlich ist, um Eigenart und Vielschichtigkeit der "Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit" zu erfassen.

Titelbild

Gustave Flaubert: Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit. Ein Sottisier.
Herausgegeben von Hans-Horst Henschen.
Übersetzt aus dem Französischen von Hans Horst Henschen.
Eichborn Berlin, Berlin 2004.
732 Seiten, 36,90 EUR.
ISBN-10: 3821807393

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Titelbild

Gustave Flaubert: Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit. Transkribierte Handschriften und Kommentare.
Herausgegeben von Hans-Horst Henschen.
Übersetzt aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen.
Eichborn Berlin, Berlin 2004.
207 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3821807407

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