Über-Helden, von Traumvisionen geleitet

Beda Allemann entwirft ein dramaturgisches Modell zu den Werken Heinrich von Kleists

Von Stephan SonntagRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Sonntag

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Sekundärliteratur zu Heinrich von Kleists Werken ließen sich ganze Bibliotheken füllen. Eigentlich überraschend, denn Kleist hat lediglich 18 größere Erzählungen und Dramen geschrieben. Fast 300 Jahre nach dem Tod des Dichters scheint damit das Suchen nach neuen Erkenntnissen regelrecht utopisch, der Entdeckung eines neuen Zugangs gebührt aus eben diesem Grund umso mehr Respekt. Den hat sich der 1991 verstorbene Literaturwissenschaftler Beda Allemann mit seinem Lebenswerk mehr als verdient.

"Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell" ist mehr als nur ein weiterer Staubfänger und Studentenbelästiger in der großen Kleist-Bibliothek. In über dreißig Arbeitsjahren hat Allemann ein Modell entwickelt, oder vielmehr ein Muster erkannt, dass sämtliche Werke Kleists in ihrem dramatischen Kern beinhalten und dem die Kleist'schen Helden allesamt verpflichtet sind: die Antizipationsformel. Ein hübscher Begriff, doch was steckt dahinter?

Die Antizipation im Sinne der Vorausdeutung hat in der Gattungspoetik bereits eine lange Tradition. Alle Tragödien Shakespeares etwa antizipieren früh das tragische Ende. Oft erfolgt diese Antizipation über eine bühnenwirksame Traumvision des Helden. Kleists Antizipations-Schema weicht jedoch fundamental, insbesondere in seiner dramaturgischen Funktion, von der Bühnentradition ab. "Kleistsche Helden wissen nichts anderes als ihr Traumbild und folgen ihm gleichsam unwillkürlich", lautet die zentrale Ausgangsthese Allemanns. Diese Unbedingtheit ihres Handelns löst unter den Mit- und Gegenspielern Verwunderung aus, die Helden erscheinen befremdlich und unverständlich. In dramaturgischer Hinsicht nehmen sie damit einen Gegenpol zur Bühnenhandlung ein. Die entscheidende Innovation Kleists gegenüber der Gattungstradition besteht darin, dass "die Antizipationsformel in der ganzen Grundverfassung des Helden thematisiert und zur zentralen inhaltlichen Bestimmung seines Agierens wie seiner Passion gemacht wird". Diese Grundverfassung stilisiert sie zu "Über-Helden", die für sich dementsprechend auch ein "Über-Drama" benötigen, um ihre Rolle ausspielen zu können.

Werk für Werk arbeitet Allemann die Antizipations-Formel in ihrer jeweiligen dramaturgischen Gestalt heraus. Der Schwerpunkt seiner Betrachtungen liegt dabei notwendigerweise auf den dramatischen Werken Kleists, von seinem Erstling "Die Familie Schroffenstein" bis zu seinem Meisterwerk "Prinz Friedrich von Homburg". Erst in diesem letzten Schauspiel gelingt es Kleist, die schier unüberbrückbaren Hindernisse zur idealen Verwirklichung des "Über-Dramas", die ihn noch am "Robert Guiskard" verzweifeln ließen, zu überwinden. Kleist gelingt "die Quadratur des Zirkels", indem er die Antizipation des Prinzen exponiert und das Stück in eine gemeinsame Antizipation aller Beteiligten münden lässt. Der eigentliche dramaturgische Konflikt des Stückes ist mit dem Zerreißen des Todesurteils durch den Kurfürsten ad absurdum geführt, die Schlussantizipation führt aber "dramaturgisch gesehen auf den Kern jeder noch möglichen dramatischen Verwicklung, nicht nur auf der Bühne, sondern in Wirklichkeit, zurück".

Allemann gelingt post mortem in gewisser Weise ebenfalls eine Quadratur des Kreises, indem er einen Gutteil der bisherigen Kleist-Forschung in seiner Begrenztheit kenntlich macht. Überzeugend vermag er seinen Ansatzpunkt in jedem Werk argumentativ nachzuweisen. Die Genialität des letzten Kleist'schen Meisterwerks stellt Allemann in der Abgrenzung zu den vorangegangenen Werken in beeindruckender Manier heraus. Bei aller zu Gebote stehenden sachlich-logischen Argumentationsweise schafft er es sogar noch, mit der literarischen Entwicklungsgeschichte Kleists den Leser zu fesseln. Einige biografische Rätsel, wie die Nichtvollendung des "Robert Guiskard", erscheinen trotz typisch Kleist'scher Überreaktionen nachvollziehbar. Denn schlussendlich stellt auch Allemann fest, dass der "unaussprechliche Mensch Heinrich von Kleist", wie er sich selbst in einem Brief bezeichnet hat, auf seine Mitmenschen oft ähnlich befremdlich gewirkt haben dürfte wie die Helden seiner Dramen. Der literarischen Vollendung des "Über-Dramas" folgt für Kleist eben auch nur noch das überdramatische Ende seines eigenen Daseins, womöglich ganz im Sinne seiner noch zu ermittelnden Antizipation. Die Kleist-Forschung ist also noch keineswegs am Ende.

Titelbild

Beda Allemann: Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell.
Aus dem Nachlaß herausgegeben von Eckart Oehlenschläger.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2004.
429 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3895284394

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