"Im Zwischenraum zwischen Welt und Spielzeug"

Ruth Hermanns Studie zur poetologischen Dimension der Kindheit im Werk Rainer Maria Rilkes

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ruth Hermanns im Jahr 2002 im Verlag Königshausen & Neumann erschienene Dissertation unternimmt den Versuch, eine "Poetik der Kindheit bei Rilke" zu formulieren. Ausgehend von der These, dass das Kind in Rilkes Werk eine Randfigur darstelle, die "neben Gestalten wie Orpheus, dem Engel oder auch nur der Rose" eine untergeordnete Rolle spiele, geht die Autorin der Frage nach, wie Kindheit in Rilkes Texten vorkommt und ob sich darin ein Niederschlag seiner eigenen Kindheitserfahrung wiederfindet.

Dass die Figur des Kindes im Werk Rilkes lediglich am Rande auftaucht, bezieht sich, so die Verfasserin, nicht allein auf deren spärliches Vorkommen: Der Rand kann, wo es um Texte geht, auch "den Rand der Sprache selbst" bedeuten. Kind und Kindheit bewegen sich, dies eine zentrale Beobachtung Hermanns, bezüglich der Sprache in einem Grenzgebiet, wobei die sprachliche Unzugänglichkeit der Kindheit dazu auffordert, die Grenzen der Sprache zu erweitern.

Im ersten Teil ihrer Studie untersucht die Autorin die Beziehung Rilkes zu seiner dichterischen Arbeit wie zu seiner Kindheit, wobei sie für ihre Darlegungen primär Rilkes Briefwerk heranzieht. Im zweiten Teil steht das dichterische Werk im Mittelpunkt ihres Interesses. Das behandelte Textkorpus rekrutiert sich dabei aus drei Gedichten und einer (Fragment gebliebenen) Elegie zur "Kindheit", die die Jahre 1905 bis 1924 umspannen.

Im biografisch angelegten ersten Teil definiert Hermann das Schreiben als "Existenz" Rilkes: "Schreiben (war) nicht nur Rilkes 'Beruf', sondern seine Existenz". Sie konstatiert eine Tendenz Rilkes, das Eigene im Werk aufzulösen, das Ich in der Dichtung einzulösen. Für Rilkes lyrischen Schaffensprozess spiele "das Unbewusste" eine bedeutsame Rolle, das seinerseits in Verbindung mit der Kindheit zu sehen ist: Rilkes Dichtungskonzeption verknüpft das Wirken einer unbegreiflichen, göttlichen Macht mit Kindheit und Kindlichkeit des Dichters.

Die Aufgabe, die Rilke bezüglich seiner Kindheit sich zugeteilt gesehen hat, war - so die Autorin -, das Unbewältigte der Kindheit nicht aufzulösen, sondern es aufzubrauchen, "und zwar in einer sehr besonderen Art: nämlich es 'in Erfundenem und Gefühltem verwandelt' aufzubrauchen". Rilkes Ausweichen vor der Bewältigung seiner Kindheit, die auch in seiner Angst, dass eine Psychoanalyse den dichterischen Prozess unterbinden könne, zum Ausdruck kam, war Teil einer poetologischen Strategie, die das Unbewältigte der Kindheit wirksam werden lässt für die dichterische Produktion, insofern aus diesem Unbewältigten Gestalten entstehen, "gerade und indem es selber ungestaltet, der Gestaltung unzugänglich" bleibt. Das Verdrängen von Kindheitserfahrungen wird so zu einer Voraussetzung dichterischer Produktivität - ein Verfahren, das an Prousts Konzept der "mémoire involontaire" erinnert.

Im Prozess, der den dichterischen Text hervorbringt, bezeichnet "Kindheit" einen Ort und einen Zustand, der, namenlos und unbenennbar, der Realisierung des Kunstwerks vorausgeht und zugleich, als Namenloses und Unbenennbares, dessen unerreichbares Ziel ausmacht. Dichterisch sprechen lässt sich laut Hermann nicht in der Kindheit, aber aus ihr heraus: von ihr herkommend und aus ihr austretend. Zentrale Essenz der Kindheit ist ihre Unbewusstheit; diese Unbewusstheit soll bewahrt werden, woraus das Werk entsteht. Zugleich wird die von Rilke entworfene Kindlichkeit des Dichters gebrochen durch seine technische Meisterschaft wie durch seine reflexive Haltung: Sein Dichten geht nicht nur aus einer kindlich-naiven, unschuldig empfangenden Haltung der Sprache gegenüber hervor, sondern ebenso sehr aus ihrer meisterhaften Beherrschung und gekonnten Handhabe. Zu konzedieren ist ein Wechselspiel von Naivität, Magie und reflexiver Intellektualität.

An die Entfaltung biografischer Bezüge und Zusammenhänge schließt sich die Diskussion einer Auswahl lyrisch-elegischer Texte Rilkes an. Die im Jahr 1905/06 entstandenen zwei Gedichte namens "Kindheit", entnommen dem "Buch der Bilder" und den "Neuen Gedichten", beschreiben und benennen Szenen einer kindlichen Welt und stellen, so Hermann, zugleich die Schwierigkeit, sogar Unmöglichkeit dar, von Kindheit zu sprechen. Gehandelt wird vom Verlorenen, das die Kindheit sei. Die Beschreibung des Verlorenen führt den Leser zum "Verlorengehen des Verstehens", in welchem er dem Geschehen des Gedichts direkt begegnet: "Sobald wir zu verstehen beginnen, beginnen wir es zu verfehlen". Beide Gedichte ziehen nach Hermanns Beobachtung ihr eigenes Sprechen in Zweifel, indem sie das Sprechen über Kindheit als zweifelhaft bzw. als unmöglich erweisen. Vor diesem Hintergrund müsse es nur folgerichtig erscheinen, dass Rilkes im Dezember 1920 entstandene Elegie zum Thema Kindheit abbreche: "Abbruch folgt auf Namenlos. Das Beibringen von Namen endet, wenn das Gedicht aufhört zu sprechen". Die Kindheitselegie zeige, dass ein sich figurierendes Gedicht, dass das Schreiben abbrechen könne: "Davon möchte Rilke nichts wissen".

Abschließende textanalytische Überlegungen Hermanns beziehen sich auf das im Juli 1924 geschriebene Gedicht "Das (nicht vorhandene) Kindergrab mit dem Ball", in dem sich die Präsenz und Absenz von "Kindheit" thematisch behauptet im Thema des Todes, jener radikalsten Abwesenheit, im Kindergrab. Die Kindergrab-Trilogie führt die figurale Kraft des Ballspiels gegen die metaphorische in einen kaum sichtbaren Widerspruch und inszeniert ausdrücklich ein Spiel mit der Fiktion, ein Spiel mit Silben, Lauten und Buchstaben.

Gebe es bei Rilke eine Poetik der Kindheit, so lauten Hermanns zusammenfassende Überlegungen, dann gehe sie Hand in Hand mit der Poetik der Figuration. Die Gedichte zum Thema Kindheit erzählen und zeigen solcherart eine Geschichte des Figurationsprozesses, eine Entwicklungsgeschichte sozusagen: wie "die Figur sich bildet, wie sie abbricht, wie sie sich auflöst". So gesehen schildert die Poetik der Kindheit die Geschichte der Figuration, der Vorgänge und Prozesse der Figur, und das Schicksal des Kindes und der Kindheit kann darin gelesen werden als eine Allegorie der Dichtung - als Allegorie ihrer ständigen Gefährdung, ihrer Situierung am Rand der Sprache.

Diese so beiläufig daherkommende abschließende Bemerkung erweist sich bei genauerer Betrachtung als zentraler Aussagekern, den es zu entfalten gegolten hätte, womit der "Schluss" zum eigentlichen Ausgangspunkt der Studie avanciert: Die Figur des Kindes und die Thematik der Kindheit wären solcherart selbstreflexiv zu lesen als Metapher für Dichtung und die Entstehung lyrischer Texte, für das autoreferenzielle Spiel der Literatur mit sich selbst in l'art pour l'art-Manier, für den Rückbezug der entreferenzialisierten Zeichen und Zeichenräume auf sich selbst, für eine Feier der Bezuglosigkeit. Der von Hermann angeführte Begriff des "Zwischenraums" könnte sich für eine solche Pointierung als überaus fruchtbar erweisen: Im Zwischenraum, im Interstitium, im ortlosen, heterotopen Ort eines verweislosen Spiels entfaltet sich die Thematik von Kindheit und Literatur.

Hermanns Studie weist, neben einer großen methodischen Schwäche - als methodische Begründung einer Dissertation kann der Satz "meine Arbeits-Methode [...] basiert auf einer möglichst präzisen und zugleich möglichst vielfältigen Lektüre ausgewählter Texte" nicht ausreichen -, zahlreiche Leerstellen und blinde Flecken wie einen hochgradig unkritischen Umgang mit Begrifflichkeiten sowie literaturtheoretischen und -geschichtlichen Zusammenhängen auf. Jahrzehnte aktueller literaturwissenschaftlicher Entwicklung und Begriffsbildung werden einfach übergangen bzw. ausgeblendet. Das terminologische Verständnis so zentraler und voraussetzungsreicher, theoriegesättigter Begriffe wie "Metapher", "Figur" oder "Figuration" bleibt vollständig unklar, so, als ob a priori und allgemein gültig klar sein müsse, was mit "Metapher" oder "Figur" gemeint sei. Die herangezogene, kaum diskutierte Sekundärliteratur beschränkt sich auf ein kleines, größtenteils stark veraltetes Textkorpus (lediglich fünf der weitestgehend völlig entkontextualisiert zitierten Werke sind jüngeren Erscheinungsdatums als 1990, lediglich eines jünger als 1996).

Dazu kommt, verknüpft mit der unsäglichen Frage nach der Autor-Intention, nach dem, was Rilke "wirklich gemeint" haben könnte, die passim sich zeigende Gleichsetzung der Instanzen "Autor" und "Werk". So wird beispielsweise der "Malte" im Hinblick auf die Frage diskutiert: "Ist Malte Rilke? Ist Rilke Malte?" Dabei hätten sich gerade die "Aufzeichnungen" für eine dezidierte und pointierte Schreibung einer Poetik der Kindheit bei Rilke angeboten! Neben einem vergleichenden Blick auf eine auch kulturhistorische Genese von "Kindheit" sowie auf literarhistorisch divergente fiktionale Kindheitsentwürfe, auf spezifische fiktionale "Familienmuster - Musterfamilien" (so der Titel eines Sammelbandes von Claudia Brinker-von der Heyde und Helmut Scheuer, 2004) der (späten) Jahrhundertwende, auf die literarisch ausgestaltete Thematik von Dekadenz und Ästhetizismus, hätte der "Malte" ein Paradebeispiel abgeben können für die Verschränkung von Kindheits- und Literaturentwurf: In der reflexiven Textualität der Erinnerung, Imagination und Sinnlichkeit der "Aufzeichnungen", für die die Kindheitserinnerungen des Protagonisten in inhaltlicher wie formaler Hinsicht konstitutiv sind, fungieren die erinnerten und im Erinnern je neu erschaffenen, illusionär evozierten Räume der Kindheit als Orte des Unsagbaren, als mediale Gefäße der Transformation und Metamorphose. Exemplarisch mag auf jene Textstelle verwiesen sein, in der der junge Malte gemeinsam mit seiner Maman kleine Klöppelspitzenstücke betrachtet: "Dann war auf einmal eine ganze Reihe unserer Blicke vergittert mit venezianischer Nadelspitze, als ob wir Klöster wären oder Gefängnisse. Aber es wurde wieder frei, und man sah weit in Gärten hinein, die immer künstlicher wurden, bis es dicht und lau an den Augen war wie in einem Treibhaus [...]". Die Beschäftigung des Kindes Malte mit den dekorativen Stücken aus Spitze ist, wie Annette Simonis in ihrer Studie zum "Literarischen Ästhetizismus" (2000) dargelegt hat, lesbar als eine Lektüre ästhetischer Strukturen in ihrer konkreten Materialität. Aus der Perspektive des jungen Malte heraus verwandeln sich die Spitzengewebe in rätselhafte Kunstwerke, werden sie zu "Text-Geweben", die ihrerseits imaginäre Räume entstehen lassen.

Darüber hinaus hätten die "Aufzeichnungen", diskutiert als Entwurf einer Poetik der Kindheit bei Rilke, unbedingt auf die in ihnen ausgestalteten fiktionalen Modelle von Subjektivität und Raum hin untersucht werden müssen: In welchen - "realen" wie "imaginären" - Räumen bewegt sich das Kind Malte? Wie konstitutiert sich hier Subjektivität - exemplarisch dargelegt beispielsweise an dem verwirrenden Maskenspiel, das die Thematik von "Gesicht"-"Sicht"-"Ich" eng miteinander verknüpft und Identität radikal infrage stellt?

"Im Zwischenraum zwischen Welt und Spielzeug" - in diesem Zwischenraum, der niemals eindeutig festgeschrieben werden kann - bewegt und entfaltet sich nicht allein Kindheit, sondern eine Literatur, die mit ihrem Material, der Sprache, spielt, und die auf nichts verweisen will als auf sich selbst. Von hier aus müssten die Ergebnisse von Ruth Hermanns Studie weitergedacht und weitergeschrieben werden.

Titelbild

Ruth Hermann: Im Zwischenraum zwischen Welt und Spielzeug. Eine Poetik der Kindheit bei Rilke.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002.
168 Seiten, 20,50 EUR.
ISBN-10: 3826022734

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