Spieltrieb statt Moralpredigt?

Hat Jürgen Wertheimer den wahren Schiller entdeckt?

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Friedrich Schiller gilt allgemein als Dichter des Pathos und des Erhabenen. Es fällt daher schwer, ihn mit Leichtigkeit, Ironie und Verspieltheit in Verbindung zu bringen. "Eine unendliche Leichtigkeit des Seins", meint Jürgen Wertheimer, Professor für Komparatistik und Germanistik an der Universität Tübingen, sei in der Tat nicht seine Sache gewesen, wohl aber eine souveräne artistische Leichtigkeit des Spiels und ähnliche Qualitäten, die man lange Zeit bei ihm übersehen habe. Immerhin habe Schiller in seinem Aufsatz "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" (1794) beschrieben, wie man den Menschen spielerisch zu sich selbst bringen und eine andere Form der Menschlichkeit lustvoll entdecken könne. Spieltrieb statt Moralpredigt?, fragt Wertheimer und hält diese Alternative für möglich und wünschenswert.

Richtig zu spielen, erläutert Wertheimer in seinem bemerkenswerten Essay "Schillers Spieler und Schurken", hieß für Schiller, mit allen Sinnen zu agieren, mit dem Spiel leicht und schwerelos zu werden und das Spielen selbst als eine "Revolution" der gesamten Wahrnehmungsfähigkeit zu begreifen. "Der Mensch [...] ist nur da ganz Mensch, wo er spielt", sagt der Dichter. Denn wer spielt, ist engagiert und distanziert zugleich. Wertheimer entdeckt in Schiller einen völlig illusionsfreien Dichter, der politische Entwicklungen und Entwicklungsverfahren schonungslos transparent gemacht und den Aufklärungsprozess radikalisiert und gelegentlich sogar spielerisch ad absurdum geführt hat.

Schillers Denkfiguren, führt Wertheimer weiter aus, verformen und verwandeln Gedanken in Realitäten. Wie bei Kafka geraten seine Figuren in die Labyrinthe ihres eigenen Sensoriums, die Monstren gebären und Teil eines neuronalen Netzwerks der Unterdrückung und der Befreiung werden. Lange vor der Moderne des 20. Jahrhunderts sei das Phänomen der Wahrnehmung und ihrer sprachlichen Verfertigung an die Stelle der so genannten Wirklichkeit getreten. Schiller habe das im Ansatz deutlich gespürt und dokumentiert und seine Ideen "durchs Feuer seiner Szenen" getrieben. Dabei sei er vor der Ironie der Selbstdemontage des Pathos durch Überzeichnung nicht zurückgeschreckt. Schemenhaft und mit gelindem Erschrecken könnten auch wir uns im Spiegel seiner Stücke erkennen, glaubt der Autor und untersucht unterschiedliche Spiel-Ordnungen und -Szenen aus Schillers Leben und seinen großen Dramen, wobei er zur Verdeutlichung in seine Ausführungen lange Schiller-Zitate mit eingearbeitet hat.

Schon früh, nämlich im Jahr 1773, trat in Schillers Leben, "an die Stelle von Spielereien [...] das strikte Erziehungssystem, die totale Disziplin". Denn in der "Militär-Pflanzschule", der späteren Karlsschule des württembergischen Herzogs Karl Eugen, fand Schiller eine Reibungs- und Widerstandsfläche für seinen Impuls nach Freiheit. Hier begannen seine Studien zur Mechanik der "Maschine Mensch". Nicht von ungefähr trifft man in seinen Dramen faszinierende Bösewichter an, ehrwürdige Missetäter, majestätische Ungeheuer, Geister, die das abscheuliche Laster reizt um der Größe willen, sowie wahnsinnige Jungfrauen und blutige Bräute.

Als Erstes entstanden die enthusiastisch aufgenommenen "Räuber" mit Franz und Karl Moor, zwei Charakteren, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten: Franz, die korrupte Kanaille, und Karl, der gefallene Engel. Aber das, wonach das 18. Jahrhundert lechzte - Versöhnung, Ausgleich, Verständigung, Gnade, Reue, Verwandlung - findet in dem Stück nicht statt. Vorgeführt wird stattdessen eine Generation, in der es heftig gärt. Repräsentierten doch auch die anderen - Spiegelberg, Schweizer, Roller, Grimm, Razmann, Schufterle, Kosinsky, Schwarz - einen Typus, der aus dem Raster der Aufklärung herausgefallen ist. Nur die Älteren wissen oder glauben zu wissen, wohin sie gehören. "Die Räuber" enden fulminant, ohne Bekehrung und ohne Belehrung, mit einem schaurig-suggestiven Finale. So habe Schiller am Einzelfall spielerisch erprobt, was wenig später Jahrhundertsignatur werden sollte. Der Dichter trägt zwar dick auf, gibt Wertheimer zu, doch seien die Ironiezeichen eigentlich unübersehbar. Nur habe sie bisher kaum einer wahrgenommen.

"Kabale und Liebe" wiederum hält der Tübinger Germanist für "ein todernstes Zumutungsspiel", das über Leichen geht und in dem sich das Unheil in der grausamst möglichen Form realisiert, mit dem Amoklauf eines Individuums gegen ein System. Im "Fiesko" wird ein durchgängig und konzeptionell politisch bestimmtes Szenarium entwickelt, in dem keine Kriminellen, sondern Politiker agieren, und in dem keine beliebigen Überfälle stattfinden, weil hier der gezielte Umsturz eines Systems das Ziel ist. Die Suche nach einer Staatsform der Zukunft, diese theatralische Recherche, wird dann intensiv und systematisch im "Don Karlos" betrieben, einem psycho-politischen Schlachtfeld exquisitester Natur, in dem mit dem Auftritt des greisen, geisterhaften Großinquisitors am Ende des Dramas das Doppelspiel um Macht und Ohnmacht seinen fast surreal anmutenden Höhepunkt erreicht. In Schillers Dramen glauben große Figuren mit ihresgleichen spielen zu können. Am Ende indes stellt sich wohl oder übel heraus, dass nicht Menschen mit Systemen, sondern (menschengemachte) Systeme mit Menschen spielen.

Und wer war Wallenstein? Im Grunde nur ein Condottiere, findet der Autor, ein Söldnerführer wie viele andere auch, ehrgeizig, gesinnungslos, gierig, militant, ein selbstverliebter Spieler. In diesem Stück wird der Zuschauer zum Beobachter eines Geschehens, dessen Kräfte von so überwältigender Anonymität und Unwiderstehlichkeit sind, dass der Einzelne chancenlos ist. Auch hier zieht Wertheimer eine Parallele zu Kafka, da unsichtbare Machtmaschinen, ungreifbare Instanzen über den Mächtigen und ihren Adepten kreisen. Alles wird aufgesogen von Machtinstitutionen, deren inneren Gang, deren Mechanik und Unerbittlichkeit selbst ihre Benutzer nicht verstanden haben. Natürlich hat in derartig unmenschlichen Systemen ein Liebespaar wie Max und Thekla von Anfang an keine Chance, genauso wenig wie Ferdinand und Luise. Doch nicht nur die Unschuldigen, nicht nur die relativ Ohnmächtigen geraten bei Schiller in den Sog politischer, machtstrategischer Notwendigkeiten. Selbst die mächtigsten, dominantesten Figuren kommen unter die Räder der Macht-Maschinerie, einschließlich Wallenstein in dem gleichnamigen Theaterstück, einem Spiel ohne Katharsis und ohne Moral. Letztlich spielen sich Schillers Spieler um Kopf und Kragen. Selbst Wilhelm Tell gehorcht den "Todestrieb"-Spielregeln. Während in der "Jungfrau von Orleans" Grenz- und Übergangszonen zwischen Spiel und Wirklichkeit, Illusion und Realität, Traum- und Wachzuständen systematisch und radikal ausgeleuchtet werden, hätte der "Demetrius", wäre es Schiller vergönnt gewesen, ihn zu vollenden, gewiss alles bisher Dargestellte in den Schatten gestellt, vermutet der Autor.

So habe Schillers Arbeit, schreibt er weiter, vorbereitend und präformierend in Denkprozesse des 19. Jahrhunderts eingegriffen. Wo die Aufklärung noch lauter mentale Zeitgenossen zu erkennen glaubte, treten bei ihm schon historische Brüche zutage, wird der geschichtliche Raum als Territorium erkundet und damit begehbar sowie Zeitabstürze auf erschreckende Art und Weise erkennbar gemacht.

Schiller wollte, behauptet Wertheimer weiter, das Theater gern als eine ästhetische "Wirklichkeitsveränderungsmaschine" gestalten und den Zuschauer dadurch befreien, dass die wahre Kunst eine Kraft in ihm erweckt, die imstande ist, die sinnliche Welt in eine objektive Ferne zu rücken, in ein freies Werk unseres Geistes zu verwandeln und "das Materielle durch Ideen zu beherrschen". Schiller wollte nämlich keineswegs als Erstes die soziale Welt verändern, sondern die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen mit den Mitteln der Kunst so schulen, dass daraus eine zunächst individuelle, im Weiteren möglicherweise auch gesellschaftliche Veränderung resultieren könnte. In diesem Sinne und mit dieser Absicht habe der "Brecht-Vorläufer Schiller" an ästhetischen Veränderungstechniken gearbeitet, hebt der Verfasser hervor.

Vorgeführt werden freilich in Schillers Stücken alle Arten, "falsch" zu spielen oder mit dem Falschen zu spielen. An keiner seiner Bühnenfiguren habe Schiller auch nur andeutungsweise dargestellt, was mit seinem Konzept der spielerischen Überwindung der Gravitationskraft der äußeren und inneren Zwänge gemeint sein könnte. Alle spielen falsch oder zappeln hilflos im Netz ihrer Verpflichtungen, Abhängigkeiten, Bedürfnisse oder "Triebe". Das Spiel der Schönheit - und genau darum ging es Schiller - als Chiffre für eine Kultur der Fantasie, der Imagination, der Freisetzung kreativer Impulse beherrscht keiner seiner theatralischen Spieler und Schurken. Vielmehr beschreiten sie entwicklungspsychologische Holzwege, sind Gefangene von Systemen oder werden zu Gefangenen gemacht.

Jürgen Wertheimer, der sein Buch als "ernsthaftes, wenngleich essayistisches Spiel mit dem Text und keinesfalls als ein gewichtiges Stück klassischer Schiller-Philologie" verstanden wissen will, weist darauf hin, dass Schiller keine Nationalfigur kreiert, sondern gezeigt hat, wie der Prozess, nationale Ikonen zu verfertigen, funktionieren kann. Wertheimer sieht darin eine verspätete Abrechnung mit den Erfahrungen der Französischen Revolution und der Gewaltfrage. Nebenbei räumt er mit törichten Schiller-Klischees auf, vor allem mit der häufig wiederholten Auffassung, der Dichter habe keine überzeugenden Frauenfiguren konstruieren können. Für Wertheimer stehen Schillers Frauengestalten im Bann der Machtdiktate, in die sie geraten sind. Sie seien durchweg hellsichtige, hoffnungslose oder laienhafte Mitwirkende und versuchten, im Spiel der Männer nach besten Kräften zu agieren bzw. zu reagieren. Aber für all die großen eigenmächtigen Frauenfiguren gibt es in den straff organisierten männlich dominierten Machträumen keinen Platz, auch wenn all die starken Frauen Schillers von der Realität mehr begriffen haben als die Männer. Während viele der männlichen Protagonisten über ein gewisses Spieler-Naturell verfügten, spielten Schillers weibliche Hauptfiguren nie oder wenn, dann nur unter sehr starkem Druck, was das Spielerische letzten Endes ausschließt.

Ob Schiller uns tatsächlich den Schlüssel zu einem neuen Lebensgefühl liefert? Das eben ist die Frage. Gleichwohl fasziniert sein Projekt, das Leben mittels der "Kunst des Scheins" zu spielen, noch heute. Vieles von dem, was Wertheimer in seinem Buch ausführlich darlegt und erläutert, frappiert auf den ersten Blick, leuchtet bei weiterem Nachdenken ein und vermag durchaus auch zu überzeugen. Zumindest macht er uns mit einer ungewohnten Seite von Schiller vertraut und ermöglicht eine neue Sicht auf den Dichter. Ob indes damit im Gedenkjahr 2005 wirklich schon der ganze Schiller entdeckt worden ist, wie es der Klappentext kühn verheißt, das möge jeder Leser selbst entscheiden.

Titelbild

Jürgen Wertheimer: Schillers Spieler und Schurken. Essay.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2005.
191 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 388769337X

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