Nachrichten aus der Kinderstube der Literatur

Barbara Becker-Cantarino hat den Band zum 18. Jahrhundert in der für die Auslandsgermanistik zentralen Camden-House-Literaturgeschichte herausgegeben

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jede Epoche hat ihre Medien ("Every era creates its own media"), stellt Helga Brandes zu Beginn ihres Beitrags fest, der sich mit dem literarischen Markt und insbesondere mit der Zeitschrift als Medium der Aufklärung beschäftigt. Abgewandelt lässt sich auch sagen: Jede Zeit hat ihre Literaturgeschichten. Orientierte man sich früher an den Geistesgrößen und deren Werken (noch nachvollziehbar in dem immer wieder neu aufgelegten einbändigen Werk Fritz Martinis), folgte in den 1970er Jahren ein radikales Umdenken, die Sozialgeschichte hielt Einzug in die Bibliotheken. Sie erweiterte den Blick auf die gesamte schriftsprachliche Produktion der Zeit und deren Entstehungsbedingungen. Später kamen die anderen Medien hinzu, auch ideengeschichtliche Grundlagen wurden stärker einbezogen. Die relative Beliebigkeit der Themenauswahl und die sich zur Ideologie verfestigende antiideologische Tendenz, gespeist aus der marxistischen Literaturwissenschaft, sorgte allerdings für immer größeres Unbehagen, mit der Folge, dass die Literaturgeschichten seit den 1990er Jahren stärker versuchen, implizite politische Festlegungen zu vermeiden. Zugleich wird der literarische Text wieder in den Mittelpunkt gerückt, in der unausgesprochenen Annahme, dass im Zentrum der Literaturgeschichte die Literatur steht und deren geschichtliche Bedingungen als Voraussetzungen mit zu berücksichtigen sind. Literatur ist aber nicht mehr nur der Solitär des Texts, sondern auch die Bedingung von Produktion und Rezeption.

Insofern ist dieser Band der gerade im Erscheinen befindlichen (drei Bände lassen noch auf sich warten) Camden-House-Literaturgeschichte ganz auf der Höhe der Zeit. Wegen eines eigenen Bandes zum Sturm und Drang (der nachfolgende Band 6) rückt die Literatur der Aufklärung in den Mittelpunkt des Interesses, berücksichtigt wird auch die gern als Epoche bezeichnete, mit der Aufklärung aber verwandte Empfindsamkeit. Der Band ist, von einer kurzen Einleitung, dem Literaturverzeichnis und Register abgesehen, in zwölf Kapitel unterteilt, geschrieben von Autorinnen und Autoren aus den USA, Schottland, England, Österreich, der Schweiz und Deutschland - ein internationales Projekt also, auch wenn die Beiträge durchweg auf Englisch geschrieben bzw. ins Englische übersetzt worden sind. Schon optisch ist der Band gelungen, der hochwertige Einband mit schön gestaltetem Schutzumschlag und die zwölf großformatigen Abbildungen sorgen dafür, dass man ihn gern in die Hand nimmt. Anders als heute in vielen deutschprachigen Produktionen üblich gibt es kein unruhiges Layout mit Marginalspalten, Balken und sonstigem Schabernack (als Vorboten einer illiteraten Gesellschaft), sondern eine gut zu lesende, ausreichend große, satte Schrift mit nicht zu kleinen Rändern.

Im einleitenden Beitrag der Herausgeberin werden zwei Begriffe in den Mittelpunkt gerückt: "Enlightenment" (Aufklärung) und "Sensibility" (Vernunft). Sie bilden den roten Faden, der sich durch den Band zieht, auch wenn der Faden je nach Fokus dicker oder dünner wird. Dieser erste Beitrag spannt kundig und spannend zu lesen einen Bogen vom Ende des Barock bis zum Beginn der Romantik. Es folgt Kai Hammermeisters Skizze der Entwicklung philosophischen Denkens von Leibniz bis Kant. Katherine Goodman zeigt danach Gottsched als zentrale Figur der Frühaufklärung, und zwar gegen die alte Tendenz der Forschung, diesen anfangs ausgesprochen innovativen und wichtigen Autor abzuwerten. Goodman glorifiziert Gottsched aber nicht, vielmehr hebt sie seine Stärken als "synthesizer, promoter, and popularizer" hervor, "arguably the greatest in German cultural history". Auch auf die bisher nicht ausreichend gewürdigten, außerordentlichen Fähigkeiten von Gottscheds Frau Luise Adelgunde wird nachdrücklich hingewiesen.

Helga Brandes geht näher auf die Entwicklung der Buchproduktion und des neuen Mediums Zeitschrift ein, unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung der Zeitschrift für die kulturelle Entwicklung der Epoche. Deutlich wird das außerordentliche Spektrum in redaktioneller, quantitativer und qualitativer Hinsicht, das sich in vergleichsweise kurzer Zeit bildete, vom vielseitigen "Kalender" und seinen Wurzeln bis hin zu Nicolais "Allgemeiner Bibliothek", die anfangs tatsächlich ihr Ziel erreichte, alle deutschsprachigen Neuerscheinungen zu rezensieren; später war es jedoch nicht mehr möglich, mit der explosionsartigen Vermehrung der belletristischen Literatur Stand zu halten. Die Bedeutung der Zeitschriften als "Schule der Nation" kann kaum überschätzt werden.

Kevin Hilliard nimmt die lyrische Dichtung in den Blick, insbesondere die Epen - hier ragt natürlich als monumentales Projekt Klopstocks "Messias" heraus. Die literarische Entwicklung in der Schweiz, die mit den Namen Bodmer, Breitinger und Haller (neben anderen) verbunden ist, zeichnet Rosmarie Zeller nach. Nachdem Gottsched (und seiner Frau) bereits ein eigenes Kapitel gewidmet wurde, ist es nur konsequent, dass Francis Lamport genauer auf die Bedeutung Lessings eingeht, dem zentralen Autor der Hoch- oder Spätaufklärung. Sarah Colvin erweitert das Spektrum um einen Beitrag zu "Musical Culture and Thought". Sie kann zeigen, dass auch der Beginn der Selbstständigkeit im Bereich der Musik im 18. Jahrhundert liegt, dass hier die Voraussetzungen für die außerordentlichen Erfolge von Komponisten und Produktionen des 19. Jahrhunderts gelegt wurden. Anna Richards beschäftigt sich mit dem Roman, der als moderne Gattung ebenfalls in der Aufklärung entsteht. Sie rückt den Vernunftbegriff in den Titel, aber auch den des "Self-Fashioning", mit Bourdieu könnte man vielleicht vom Habitus der bürgerlichen Autorinnen und Autoren sprechen, der sich aus den Romanen beispielhaft rekonstruieren lässt. Es folgt der Beitrag von Franz M. Eybl zur Entwicklung der österreichischen Literatur. W. Daniel Wilson beschäftigt sich mit dem historischen Hintergrund der Epoche, vor allem den politischen und sozialen Rahmenbedingungen. Den Abschluss macht Robert Holub mit einem Blick über die Epoche hinaus. Er zeichnet das Erbe des aufklärerischen Denkens nach, über die Stationen Hamann, Herder, Nietzsche, Adorno und Habermas.

Bei der Lektüre ist die Anordnung der Beiträge eigentlich kein Problem, auch wenn sie auf den ersten Blick etwas willkürlich scheint. Steht der Beitrag zu den historischen Grundlagen am Ende, weil man wieder stärker die Entwicklung des 'literarischen Feldes' (auch ein Ausdruck Bourdieus) in den Blick nehmen will? Befinden sich zwei Beiträge zwischen jenen, in denen die Besonderheiten der Literatur Österreichs und der Schweiz geschildert werden, um keinen Schematismus entstehen zu lassen? So könnte man weiter fragen, angesichts der Selbstständigkeit der Beiträge wäre eine andere Ordnung problemlos möglich und nicht weniger schlüssig. Das hat Vor- und Nachteile. Einzelne, in sich geschlossene Abhandlungen sind als selbstständige Forschungsbeiträge lesbar, allerdings leidet darunter etwas die Kohärenz des Bandes, die vor allem über die zeitliche Klammer hergestellt wird. Die Vorzüge der Themenauswahl liegen auf der Hand, inbesondere das Eingehen auf die Entwicklung des literarischen Marktes und der Musik ist innovativ, zumindest im Vergleich mit der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung. Es gibt allerdings einen blinden Fleck: Es fehlt ein Beitrag zur beginnenden Industrialisierung und deren Folgen, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum bereits abzeichnen. Hier hätte mehr von den Sozialgeschichten gelernt werden können. Der in vielen Beiträgen enthaltene Blick über den nationalen Tellerrand, also der Vergleich mit den Entwicklungen insbesondere in Frankreich und Großbritannien, ist ausgesprochen positiv, diese Tendenz hätte allerdings noch verstärkt werden können. Untadelig ist dagegen der schwierige Umgang mit der Gender-Frage: Die Rolle der (schreibenden) Frauen wird stellenweise ausführlich und immer ausgesprochen ausgewogen behandelt, ohne dafür an notwendiger Kritik zu sparen. So wird deutlich, dass das 18. Jahrhundert die Chance vertan hat, Frauen mehr Möglichkeiten und Rechte einzuräumen; zu stark war der Druck einer männlich codierten Gesellschaft, solche Freiräume nur dann zu schaffen, wenn es nicht anders geht.

Noch etwas, das diese Literaturgeschichte vor vielen anderen auszeichnet, ist ihre Lesbarkeit. In der Tradition angloamerikanischer Wissenschaftsprosa stehend, will sie nicht nur ein Nachschlagewerk oder ein Kompendium sein, sondern eine lustvolle Lektüre für alle, die sich für die literarhistorischen Entwicklungen im Zeitalter der Aufklärung interessieren. Dabei ist sie - auch das ein Vorzug zu vielen deutschsprachigen Konkurrenzprodukten - ideologisch unbestechlich und in jeder Hinsicht ausgewogen. Nach Lektüre des Bandes hat man das angenehme Gefühl, in (von wenigen Passagen abgesehen, die dazu neigen, Daten und Fakten zu kompilieren) stilistisch bestens geschriebenen Beiträgen so unterhaltsam und zugleich umfassend wie auf gut 300 Seiten möglich informiert worden zu sein und sich in den Erkenntnissen über das Zeitalter auf der Höhe der eigenen Zeit zu befinden.

Titelbild

Barbara Becker-Cantarino (Hg.): German Literature of the Eighteenth Century. The Enlightenment and Sensibility.
Camden House, London 2004.
349 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 1571132465

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