Raoul Schrotts neue Gedichte - Much ado about nothing

Die Rezension als Schwarzbuch über ein Weißbuch

Von Jürgen EgyptienRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Egyptien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Raoul Schrotts im Herbst 2004 erschienenes "Weißbuch" trägt keine Gattungsbezeichnung, aber der ihn einrahmende Essay "Über das Heilige, die Jagd und die Frau" spricht seine Texte als Gedichte an. Manche weisen dabei äußerlich durch Blocksatz das Merkmal von Prosagedichten auf, wie etwa die sieben Texte, die den Zyklus "Triumph der Reinheit" bilden, und mehrere, die zum Zyklus "Über das Heilige" gehören. Überhaupt ist der Sprachduktus des "Weißbuchs" recht prosanah, die Bevorzugung von Langzeilen verleiht ihm einen litaneihaften Charakter. Auch die Entscheidung, auf jede Interpunktion zu verzichten und konsequent Kleinschreibung anzuwenden, verstärkt diesen Lese- und Höreffekt. Es ist in einer Tonlage gehalten und sorgt für Abwechslung einzig durch die Abfolge von privaten und öffentlichen Sujets.

Von seiner Struktur her ist das "Weißbuch" sehr aufwändig gestaltet. Es ist in sieben 'Stücke' untergliedert, von denen das mittlere drei Triumphzüge enthält, das zweite und sechste einen Triumphzug und die übrigen zwei Triumphzüge. Auf diese insgesamt dreizehn Triumphzüge verteilen sich sieben Themen, von denen sechs zweimal abgehandelt werden. Einzig der "Triumph der Jagd" kommt nur einmal vor. Schon diese Bezeichnungen machen deutlich, dass Schrott auf den Spuren von Petrarcas "Trionfi" zu wandeln versucht, denen er auch die Motti zu den sieben Stücken entnimmt. Die sieben Themen der Triumphzüge sind indes nicht gleichzeitig namensgebend für die unter ihnen zusammengefassten Gedichte. Vielmehr laufen die drei Großzyklen "Über das Heilige" (20 Gedichte), "Szenen der Jagd" (15 Gedichte) und "Wildwochen" (10 Gedichte) durch alle Triumphzüge hindurch. Hinzu kommen noch 21 selbstständige Gedichte sowie 11 Gedichte, die sich auf drei kürzere Zyklen verteilen. Als ein weiteres Strukturierungselement fungieren Zitate aus Schrotts Notizheften beziehungsweise Reisetagebüchern. Fast jedem der 77 Gedichte ist eine solche kurze Notiz zugeordnet, deren zentrale Begriffe dann in aller Regel in dem zugehörigen Gedicht aufgegriffen und 'poetisiert' werden. Durch diese raumgreifende Komposition ist ein fast 200 Seiten starker Band entstanden.

Es wird also einiger architektonischer Aufwand getrieben, der sich auch auf die Art der Versifikation ausdehnt. Dazu sei ein längerer Absatz aus dem begleitenden Essay zitiert: "Halbreime jedoch einzusetzen, indem man entweder den Vokal beläßt, um den herum die Mitlaute wechseln, oder indem man den Konsonanten einen anderen Selbstlaut verleiht, heißt dagegen, auch Entsprechungen für die Sinnverschiebungen anzudeuten, die die Vorstellungen vom Heiligen ausmachen. Und sich Wort für Wort in ihr Dunkel vorzutasten. Sie werden damit zum Agens eines diskursiven Sprechens - zwischen dem, was formulierbar wäre und dem, was die Assonanzen und Konsonanzen erlauben -, indem es sich auf eine offene Mitte einläßt, die alles verwandelt: so inszeniert Sprache ihre Metamorphosen. Mit diesem Offenen zu denken, ohne die Strophen sofort paarweise zu verklammern, vielmehr einzelnen Progressionen zu folgen, gibt dem Gedicht eine unaufdringliche Diskretheit; es annonciert seine Mittel nicht mehr, sondern tritt hinter ihnen zurück. Die Strenge seiner Form liegt damit nur in den Säulen und Traversen, den Verstrebungen einer Architektur, die wie die Ruinen der Tempel ins Licht gebaut ist."

Gustav René Hocke hat sich kurz nach dem 2. Weltkrieg in der Zeitschrift "Der Ruf" in scharfer Form gegen eine Schreibmethode der Inneren Emigranten ausgesprochen, die er als Kalligrafie bezeichnete und mit der er einen hohen Ton meinte, der über die Substanzlosigkeit des Gesagten hinwegtäuschen wolle. Ähnlich scheint der Fall hier zu liegen. Abgesehen von allerlei sprachlichen Unzulänglichkeiten - was soll das grammatische Bezugswort für "Sie" am Satzbeginn von "Sie werden damit" sein?, "unaufdringliche Diskretheit" ist eine Tautologie, und logisch korrekt müsste es wohl im selben Satz heißen: "sondern tritt hinter sie zurück" - scheint diese Passage ein Exempel für einen Typus von Schönschreiberei zu sein, der durch das Geklingel mit modischen Worten und Begriffen seinen eher diffusen Gehalt kaschiert. Überhaupt muss man über den recht ambitioniert auftretenden Essay sagen, dass er dichterisch wesentliche Themen des Heiligen, Numinosen und Rituellen mit kulturhistorischem und etymologischem Geplauder abfertigt, ohne zu originären Perspektiven vorzudringen.

Den Schritt zum allgemein Interessierenden, womöglich Neuen vermisst man auch in den Gedichten selbst. Im Essay gesteht Schrott die private Wurzel der Texte selbst ein, behauptet jedoch, über "die Form des Gedichts [...] versachlicht sich alles Private, vermag aus subjektiver Erinnerung Exemplarisches zu werden." Das trifft der Lektüre nach aber nur in wenigen Fällen zu, besonders die Gedichte im "Wildwochen"-Zyklus lassen diese Transformation ins Exemplarische vermissen und wirken zuweilen fast peinlich. In ähnlichem Sinne hat schon Paul Jandl in seiner Besprechung des "Weißbuchs" in der "Neuen Zürcher Zeitung" festgestellt: "Was das allegorische Programm der 'Trionfi' für das 'Weissbuch' wirklich bedeuten soll, bleibt offen. [...] Die Gedichte im 'Weissbuch' sind eine bedeutend leichtere Kost, als es das theoretische Beiwerk weismachen will." Freilich, es gibt ein paar wunderbare poetische Bilder im "Weißbuch" - etwa "schmetterlinge eine membran des lichts" in "Über das Heilige XII" - und im ganzen gelungene Texte wie das Palermo-Gedicht "Über das Heilige XX" und vor allem "Wendekreis des Krebses", das auf großartige Weise die algerische Wüste evoziert, aber es überwiegt doch der Eindruck, das lyrische Journal eines verliebten Globetrotters zu lesen, der seinen exotischen Reisestationen und in der Regel exquisiten Hotelunterkünften ein literarisches Denkmal setzen möchte. Man könnte den Verdacht hegen, dass der Wille zum Elementaren und Archaischen, der überall herausschaut, im Widerspruch zu der Tatsache steht, dass dem lyrischen Ich, wie es in den "Szenen der Jagd VII" heißt, "ein schicksal [...] stets nur auf der zunge liegt", dass also trotz aller polyglotten Existenzweise ein Mangel an Erfahrung besteht.

Schließlich stößt man noch auf einen anderen Widerspruch. In einem Notizbucheintrag vom 12. Mai 2002 kann man am Ende die Sentenz lesen: "jede wahrheit bloß im scheitern der sprache". Dieser erkenntnistheoretischen und sprachkritischen Einsicht entspricht aber rein gar nichts in der lyrischen Praxis des "Weißbuchs". Nirgends lässt sich eine sprachliche Selbstreflexion im Zeichen des Zweifels, geschweige denn des Scheiterns ausmachen, die Gedichtzeilen strömen bruchlos dahin, ihr Fluss ist so regelmäßig und planvoll, dass man geradezu die Assoziation einer Fließbandproduktion abwehren muss.

Titelbild

Raoul Schrott: Weißbuch. Gedichte.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
188 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446205403

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