Unverkrampfte Annäherung

Zwei Kinderbücher erzählen die Geschichte von "Wilhelm Tell" nach

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Klassiker für Kinder" sind für den Berliner Kindermann Verlag Programm. Shakespeares "Romeo und Julia" und Gottfried Kellers "Kleider machen Leute" hat Verlegerin und Autorin Barbara Kindermann bereits in einfachen Worten fürs junge Publikum nacherzählt. Den Inhalt von Goethes "Faust I" hat sie dabei gar zu knapp 35 Seiten komprimiert. Ziel ist stets, eine packende Handlung zu erzählen, einen Grundstein zu legen. Später, so ist die Hoffnung, werden dann vielleicht auch die Originale der Geschichten gelesen, an die man sich aus Kindertagen erinnert.

Auch Schillers "Wilhelm Tell" ist nun in der Reihe erschienen, auch dieses Drama erzählt die Autorin geradlinig nach. Sie schafft es dabei gekonnt, wichtige Originalzitate und Wendungen unaufdringlich in den Text einzuflechten. "Der Starke ist am mächtigsten allein", ist da in Kursivdruck zu lesen, aber auch "ein rechter Schütze hilft sich selbst" und "Früh übt sich, was ein Meister werden will". So kommen die kleinen Leser - empfohlen wird die Lektüre ab sieben Jahren - ganz unverkrampft und spielerisch mit dem Original in Berührung, werden jedoch nicht überfordert. Für etwas gedeckte Stimmung, die jedoch hier zum Thema passt, sorgen die großformatigen, detailfreudigen Bilder von Klaus Ensikat, der die Kulisse zum Tell-Mythos liefert. Der 68-jährige akribische Buchkünstler, der 1996 für sein Gesamtwerk mit der Hans-Christian-Andersen-Medaille geehrt wurde, bietet dabei überraschenderweise kein Bild von der Schuss-Szene selbst, sondern greift immer wieder Nebenschauplätze auf. Wildschäumende Wellen, mächtige Festungsmauern und große Menschenansammlungen laden zum genauen Hinsehen ein, und als heimliche Hauptfigur der Bilder erscheint bald der mächtige schwarze Hut des Landvogts Gessler. Allein schon die präzisen, raffinierten Zeichnungen sorgen für die Qualität dieser bibliophilen Ausgabe, die wohl auch deswegen von der Luchs-Jury der "Zeit" empfohlen wird.

Dennoch: Die Geschichte von Wilhelm Tell lässt sich für Kinder noch interessanter aufbereiten, wählt man deren eigene Perspektive. Jeremias Gotthelf hat 1865 die Idee zur Vater-Sohn-Geschichte verfolgt. Seine Erzählung "Der Knabe des Tell" ist allerdings heute kaum noch bekannt (und auch außerhalb der Werkausgabe kaum erhältlich), sein Ton ist vielleicht auch nicht immer ganz so passend für Kinder und Jugendliche. Bettina Hürlimann unternahm es deshalb vor 40 Jahren, Gotthelfs Erzählung zu straffen und kindgerechter neu aufzubereiten. Inzwischen ist Hürlimanns Version selbst fast ein Klassiker geworden, zumindest in der Schweiz, und als solcher in einer Neuausgabe erschienen. Dabei wurden der Text sowie die Original-Illustrationen von Paul Nussbaumer unverändert übernommen. Beides mag auf den ersten Blick etwas altmodisch wirken, doch hat es einen Charme, der sich ganz unaufdringlich entfaltet.

Bettina Hürlimann nimmt sich Zeit, in die Geschichte einzuführen. In kleinen, übersichtlichen Kapiteln wird zunächst die Landschaft, das Leben auf dem Hof der Tells und die Welt von Wilhelm Tells Sohn Walter geschildert, bevor die politische Situation ihre Schatten auf die Idylle des Jungen wirft. Dessen Blickwinkel, seine Gefühle und Sorgen bleiben dominierend, und so wird beispielsweise der Tyrannenmord nur indirekt erzählt, durch die Skrupel von Tells Ehefrau jedoch für Kinder in seiner Problematik stärker gewichtet, während die Angst Walters um seinen von Gessler verhafteten Vater im Vordergrund steht. Auch die Apfelschuss-Szene erscheint nun in neuem Licht, wenn Walter die Chance nutzen will, seinem Vater die eigene Furchtlosigkeit zu beweisen. Das zugehörige Bild von Paul Nussbaumer zeigt denn auch entsprechend einen vertrauensvoll lächelnden Walter inmitten erschrockener Zuschauer; auf den Schützen selbst wird in der Szene verzichtet, vielmehr sieht der Betrachter den Jungen gleichsam von Tells Standpunkt aus.

Abgerundet wird der Band durch Beispiele von Originalpassagen aus Gotthelfs Erzählung und eine Begleitbroschüre für Eltern und Lehrer mit Hintergrund-Informationen zum Wilhelm Tell-Mythos, Spielideen und Ausflugtipps. Wer will, kann sogar Tells Lieblingsspeise, einen Apfelauflauf, nachkochen. Na, wenn das mal nicht für bleibende Kindheitserinnerungen an den Klassiker sorgt!

Titelbild

Bettina Hürlimann / Paul Nussbaumer: Der Knabe des Tell. Frei nach einer Erzählung von Jeremias Gotthelf.
Illustriert von Paul Nussbaumer.
atlantis - orrell füssli verlag, Zürich 2004.
40 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 371520494X

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Titelbild

Barbara Kindermann: Wilhelm Tell. Nach Friedrich Schiller. Weltliteratur für Kinder.
Illustriert von Klaus Ensikat.
Kindermann Verlag, Berlin 2004.
36 Seiten, 15,50 EUR.
ISBN-10: 3934029183

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