"Ein Landarzt" wird seziert
Elmar Locher und Isolde Schiffermüller haben Interpretationen zu Kafkas Erzählungen-Band herausgegeben
Von Stefan Neuhaus
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKafka gehört zweifellos zu den meistinterpretierten Autoren der Welt. Einerseits ist es schwer, etwas Neues zu ihm und seinem Werk zu sagen, andererseits hat jede Generation das legitime Bedürfnis nach immer wieder neuer Aneignung und Deutung. Ein Tagungsband unternimmt nun den Versuch, ein scheinbar heterogenes Bündel aus Erzählungen, überschrieben mit "Ein Landarzt", im Zusammenhang zu betrachten. Die Aufsätze der Literaturwissenschaftler gehen zurück auf eine Tagung in Verona im November 2003. Dem Inhalt des Bandes nach zu urteilen muss es eine anregende Tagung gewesen sein, denn was sich zwischen den zwei Buchdeckeln findet, zeugt von detektivischem Spürsinn und sicherem Gefühl für das Spannende der Interpretationspraxis.
Ein Beispiel hierfür ist Peter Utz' Deutung von "Auf der Galerie", die kleine Erzählung wird vor der Folie früherer Texte anderer Autoren gelesen. Verblüffend ist die Ähnlichkeit mit Frank Wedekinds "Zirkusgedanken" von 1878 und Robert Walsers "Ovation" von 1912, Kafkas Text scheint auf beide (und andere) Erzählungen zu reagieren. Peter Staengle betont einerseits die Bedeutung der Zahlensymbolik für "Ein Besuch im Bergwerk", andererseits bewertet er die bisherigen Vereindeutigungsversuche (jede Besucherfigur auf eine der Erzählungen des Bandes zurückzuführen) als unzulässig. Staengle ist ebenfalls darin zuzustimmen, dass die "stiefmütterliche" Behandlung der Erzählung durch nichts gerechtfertigt ist, es gäbe hier noch viel zu schürfen und zu Tage zu fördern. Die Parallele zur Erzählung "Elf Söhne" würde noch deutlicher, zählte man zu den zehn Ingenieuren den ihnen folgenden Diener hinzu. Die Interpretation der "Elf Söhne" durch Konstanze Fliedl ergänzt die Perspektive; es wäre interessant, diese beiden Erzählungen einmal nebeneinander zu legen und zu sehen, inwieweit sie aufeinander reagieren. Wenn die elf Söhne nach einer Äußerung Kafkas für die ursprünglich elf Geschichten des Bandes stehen, dann dürfte es sich eher in einem allgemeinen Sinn um Schlüsselerzählungen für ein mögliches Verständnis des gesamten Bandes handeln - auch wenn durch dessen Erweiterung die Zahl Elf ihre zentrale symbolische Rolle verloren hat. Die von Fliedl herausgearbeitete Ikarus-Symbolik lässt sich auf den gesamten Band beziehen, und sie führt zweifellos, über die Vater-Sohn-Beziehung, in das biografische Zentrum des Werks.
Zu "Vor dem Gesetz" diskutiert Massimo Salgaro die Deutungen Benjamins, Agambens und Derridas. Handelt es sich bei der Frage, was hinter dem Tor steht, um eine "wolkige Stelle"? Hat die Dekonstruktion die Stelle des Türhüters eingenommen? Eine Antwort wird nicht gegeben, vielmehr bleibe, meint Salgaro abschließend, die "Materialität eines Textes" ein "unerklärliches Felsgebirge". Ob das weiterhilft? Das darf bezweifelt werden. Doch die Konzentration auf ideologisch oder methodisch unterschiedlich ausgerichtete Deutungen kann wenig Konkretes zu Tage fördern, will man nicht selbst Partei ergreifen.
Häufig werden frühere Positionen der Deutung erläutert; dies hilft dem nicht so kundigen Leser. Walter Busch schickt voraus, dass die titelgebende Erzählung "Ein Landarzt" als Versuch Kafkas gelesen wurde, "die Differenzen des 'jüdischen Körpers' im modernen literarischen Diskurs zu überwinden". Einen Diskurs über Judentum und Gesellschaft haben auch andere Interpreten zu anderen Erzählungen ausgemacht, etwa Isolde Schiffermüller mit Blick auf "Schakale und Araber". Und Ingo Breuer zitiert das Wort von Max Brod, bei dem "Bericht für eine Akademie" handele es sich um die "genialste Satire auf die jüdische Assimilation, die je geschrieben worden ist". Doch rückt der vorliegende Band von solchen monokausalen Deutungsmustern weitgehend ab. Es wird zugestanden, dass der Kontext eine wichtige Rolle gespielt haben kann, aber durchgespielt werden Deutungen, die sich vorzugsweise am Text orientieren. Hier wird insbesondere an den Poststrukturalismus angeschlossen, ohne Kafka (wie dies ja auch schon geschehen ist) als paradigmatischen Autor sprachkritischer Texte auszuweisen. Überhaupt ist die ideologieferne Offenheit für Beobachtungen links und rechts der ausgetretenen Deutungspfade ein Markenzeichen dieses Bandes.
Es finden sich immer wieder auf bestimmte Texte und Textstellen bezogene, aber generalisierbare, auf den ganzen Kafka anwendbare Feststellungen. Zu "Der neue Advokat" meint Roland Reuß, dass Kafka "das Verlangen, hierzu [zu den Hintergründen der Erzählung] Näheres gesagt zu bekommen, ins Leere laufen lässt". Peter Staengle stellt zur "Sprecherinstanz" des "Besuchs im Bergwerk" bündig fest, dieses "wir" sei "unzuverlässig". Elmar Locher urteilt über "Das nächste Dorf", dass "in dieser rhetorischen Struktur des Textes ein Rest nicht aufgeht". Milena Massalongo meint zur Gewalt in "Ein Brudermord": "Der Zweck ist suspendiert". Und immer wieder wird auf den inneren Zusammenhang der Sammlung eingegangen, etwa wenn Peter Utz feststellt, an den "Grenzstellen" der Deutung öffneten sich die Einzeltexte füreinander.
Nur manchmal, doch das gehört bei Kafka dazu, schießen die Interpreten über ihr Ziel hinaus. Etwas mehr Bodenhaftung wäre ja schon Ikarus zu wünschen gewesen. Wolfram Groddecks Kritik an Friedrich Kittler gilt auch für diesen Band und Kafka-Interpretationen generell. Man merkt immer wieder, "wie schnell man beim Interpretationsgeschäft den Boden unter den Füßen verlieren kann". Es ist am Leser, den Angeboten zu folgen oder nicht zu folgen und lose Enden aufzunehmen, etwa folgende, nicht ganz stilsicher formulierte Bemerkung: "Eigentlich kann man nicht verneinen, daß ein gewisser Humor bei Kafka vorhanden ist." In der Tat wäre es angebracht, Kafka nicht immer so ernst zu nehmen, und das gilt auch für diesen Satz.
In der Summe der Beobachtungen lässt sich Peter Kofler zustimmen: "Angesichts der Flut von metaphorischen und allegorischen Doppelungen, durch die in der Kafka-Kritik Zeichen und Bedeutung immer wieder gewaltsam kurzgeschlossen werden, rechtfertigt sich ein Reden über Kafka vielleicht einzig durch den Aufweis der Strategien, mit denen sich seine Texte der Rede entziehen." Das Bewusstsein für diese "Strategien" geschärft zu haben, ist das zentrale Verdienst des vorliegenden Bandes.