Zwischen Ironie und Schicksal

Joakim Garffs Biografie zu Sören Kierkegaard

Von Maximilian ProbstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Probst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er lebte in der Überzeugung, dass sein Leben das interessanteste war, das "je von einem Autor in Dänemark geführt wurde", und dass er deshalb "in der Zukunft gelesen und studiert" werde - kein Geringerer als Sören Kierkegaard notierte sich diese prophetischen Worte; und schien sich damit gewaltig verschätzt zu haben. Denn während seine Schriften nach seinem Tod im Jahr 1855 zusehends an Popularität gewannen, bis sie Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Existenzialismus geradezu kanonisiert wurden, blieb die Privatperson Kierkegaard bis zuletzt im Dunkeln. Erst heute, da sich die Epoche der Selbstinszenierung ihrem Ende zuneigt, erst im Rückblick auf eine Epoche, für die es keine Kunst, sondern nur noch Künstler gab, lässt sich die Spannweite dieser wenig bescheidenen Worte ermessen: Erst heute wird deutlich, dass diese Epoche seine, Kierkegaards Epoche war.

Eine Biografie Kierkegaards, die Ernst macht mit dem Versuch, Leben und Schrift des exzentrischen Philosophen wechselseitig zu erklären, war also überfällig. Jetzt, rund 150 Jahre nach seinem Tod, liegt sie vor: Verfasst hat sie Joakim Garff, ein Theologe und ausgewiesener Kenner des Kierkegaard'schen Korpus, dem er selbst noch in seinen eigenen Formulierungen treu bleibt: Kierkegaard selber hätte nicht pointierter ausdrücken können, warum Leben und Schrift bei der Betrachtung seines Werkes zusammengehören: "Entfernt man nämlich erst den Mann aus dem Werk, hat man ihm auch das Leben genommen." Damit ist die Marschroute der Biografie vorgezeichnet: Sie wird sich vor allem auf Texte konzentrieren, die für den biografischen Hintergrund vielversprechend erscheinen, und umgekehrt gerade die Aspekte seines Lebens thematisieren, von denen ein Licht auf jene Texte fällt.

Kierkegaard war von Anfang an ein Einzelgänger: Seine Mutter dürfte ihm sehr fern gewesen sein, in den Tagebüchern erwähnt Kierkegaard sie mit keinem Wort. Auch zu den Geschwistern ist das Verhältnis vorwiegend gespannt; bleibt der Vater, und der verbreitet im Namen des Christentums eine düstere Stimmung von Stille und Strenge im Haus. Existenzieller Ernst und Vereinzelung: das ist Kierkegaards Kindheit.

In diesen Zusammenhang könnte man auch eine berühmt gewordene Tagebucheintragung des frühen Kierkegaard stellen: "Es gilt eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will; und was nützte es mir dazu, wenn ich eine sogenannte objektive Wahrheit ausfindig machte; wenn ich mich durch die Systeme der Philosophie hindurcharbeitete [...], wenn es für mich selbst und mein Leben keine tiefere Bedeutung hätte." Dem Existenzialismus galten diese Worte "als eine Art Manifest der Eigentlichkeit", schreibt Garff, der sie mit den großen Durchbruchstexten vergleicht, wie sie von Luther und Augustinus bekannt seien: An dieser Stelle werde "Kierkegaard er selbst" und zwar "im Dialog mit den Texten, den fiktiven ebenso wie den weniger fiktiven, die er zu Papier bringt." Vielleicht nehme diese textliche Doppelspiegelung sogar Kierkegaards spätere pseudonyme Praxis vorweg: denn auch dort balanciere er ja "zwischen notorischer Nähe und zweifelloser Abwesenheit."

Kierkegaard hat sich erschreckend konsequent beim Wort genommen: die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will - wer böse ist, sieht darin den Grund, dass seine einzige Liebe nicht Wirklichkeit wurde. Musste Kierkegaard seine Verlobung mit der hübschen Regine Olsen brechen, weil er die Liebe als Idee bewahren wollte? Das Nichtsein dessen, was hätte sein können: was auf diese Weise nicht existiert, insistiert - als Phantom. Und so geistert Regine nicht nur bis zuletzt durch Kierkegaards Leben und Bücher, er widmet ihr schließlich sein gesamtes Werk. Hatte er hier die Idee gefunden, für die es zu leben und sterben galt?

Die (Idee der) Liebe zu Regine ist in ständiger Bewegung, oszilliert im spannungsgeladenen Feld zwischen den beiden anderen Polen von Kierkegaards Leben: Ästhetik und Religion. Ästhetik - das bedeutet auch Genuss und Spielerei. Garff zeigt uns Kierkegaard als Dandy, die exquisiten Speisen, die seinen Tisch zieren, die extravagante Garderobe (ein zitronengelber Mantel löst einen rotkohlfarbenen ab), die unzähligen Spazierstöcke, Regenschirme, eine erlesene Kaffeetassensammlung, Zigarren, kistenweise ... Einen Großteil seiner Zeit verbringt Kierkegaard in Kaffeehäusern, im Theatersaal, mit dem standesgemäßen Flanieren und Kutschfahrten - alles finanziert mit dem väterlichen Vermögen aus dem Wollhandel. Er sei nun einmal eine "Verschwendernatur", notiert Kierkegaard resignierend. Bei seinem Tod ist das Erbe restlos aufgezehrt.

Flankiert wird dieser befremdliche Prozess prätentiöser Selbstpromotion von einem Bewusstsein christlicher Zerknirschung und Erniedrigung. Kierkegaard steht im Bann der alttestamentarischen Vorstellung des strafenden Gottes, die weniger amüsante Seite der Erbschaft des Vaters. Dieser war, als armer Junge in der jütländischen Heide Schafe hütend, auf einen Hügel gestiegen und hatte Gott verflucht. Seither lebte er in der Überzeugung, Gott werde dereinst seine Nachkommenschaft vernichten, und er, Michael Kierkegaard, seine Familie überleben. Der Tod zweier Ehefrauen und fünf seiner sieben Kinder bestärkten ihn in seinem Glauben. Auch Sören war fest von dessen Richtigkeit überzeugt - älter als Jesus würde er auf keinen Fall werden, wenn's hoch käme, würde das 34 Lebensjahr sein letztes sein. In einer späteren Schrift mit dem bezeichnenden Titel "Selbstbetrachtung eines Aussätzigen" greift er die Vatergeschichte wieder auf: "Was die Schrift lehrt, dass Gott die Missetat der Väter an den Kindern heimsuche bis ins dritte und vierte Glied, das verkündet das Leben wahrlich mit lauter Stimme. Von dem Entsetzlichen sich freireden zu wollen mit der Erklärung, jene Aussage sei jüdische Lehre, hilft zu nichts". Hinter diesen Worten verbergen sich Erfahrungen, die den Ästhetizismus Kierkegaards weit in den Schatten stellen. Auch die Titel seiner übrigen Werke verraten, wie wenig er auf der Sonnenseite des Lebens zu Hause war: "Furcht und Zittern", "Der Begriff Angst", "Die Krankheit zum Tode". In seinen letzten Jahren führt die Betonung des Leids, der Verzweiflung und Erniedrigung als Kern des christlichen Glaubens Kierkegaard in einen aufreibenden Kampf mit den kirchlichen Würdeträgern. Er bezichtigt sie eines performativen Selbstwiderspruchs: "In der prächtigen Domkirche tritt der hochwohlgeborne, hochwürdige, geheime General-Oberhofprediger auf, der ausgewählte Günstling der vornehmen Welt, er tritt auf vor einem auserwählten Kreis von Auserwählten und predigt gerührt über den von ihm selbst ausgewählten Text: 'Gott hat auserwählt das Geringe vor der Welt und das Verachtete' - und da ist niemand, der lacht."

Für Kierkegaard ist man nur um den Preis des Leides Christ - doch selbst im Verkünden dieser todernsten Lehre bleibt er Ästhet: "Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der tiefe Qualen birgt in seinem Herzen, aber seine Lippen sind so gebildet, dass, derweil Seufzen und Schreien über sie hinströmt, es tönt gleich einer schönen Musik". Garff resümiert: "Die Nachwelt hat sich ausgiebig mit jenem Kierkegaard beschäftigt, der seine Schwermut zelebrierte, der seitenlang über seine unsäglichen Leiden schrieb [...] Darüber hat man oft vergessen, dass sein Unglück, seine Trauer und Verzweiflung Kierkegaard auch interessierten - und selten war er so deprimiert, dass er nicht gern darüber schrieb." Und so entzieht sich Kierkegaard immer wieder in dialektischem Seitenwechsel nicht nur dem interpretatorischen Griff des Lesers, sondern wohl auch dem Selbstverständnis des Autors: Auf die Tanzfläche hat sich Kierkegaard sein Leben lang nicht gewagt, auf dem Papier aber ist er ein tanzender Derwisch, wie sonst nur Nietzsche einer gewesen sein mag. Ein glattes Parkett also, auf dem sich Garff, nicht ohne einen Sinn für Pirouetten, bewegt.

Garff ist aber in seinem Buch mehr als Kierkegaards Biograf; er ist Kartograf: Kartograf einer kultur- und sozialgeschichtlichen Landkarte Kopenhagens zur Zeit der "dänischen Klassik". Kopenhagen als den Kontext von Kierkegaards Leben zu thematisieren - bei Garff scheint dieses Vorgehen der Sache selbst geschuldet, denn Kierkegaard war nicht nur Erzkopenhagener, der wie wenige die Geografie der Stadt in sein Werk eingeschrieben hat; er war Straßenphilosoph und machte als solcher selbst noch die Sprache der Straße zu der seinen: "Worüber man in Büchern vergebens Belehrung gesucht, darüber geht einem plötzlich ein Licht auf, wenn man ein Dienstmädchen mit einem anderen Dienstmädchen reden hört; einen Ausdruck, den man vergebens in Wörterbüchern gesucht hat, selbst in den wissenschaftlichen, den hört man im Vorübergehen: ein Landwehrmann gebraucht ihn und lässt sich nichts davon träumen, wie reich er ist." Bei Kierkegaard, dessen Vorbilder nicht umsonst Sokrates und Christus gewesen sind, ist auch der Flaneur eine Figur des existenziellen Ernstes: "Ganz buchstäblich die Alltäglichkeit des Lebens zu seiner Bühne machen, ausgehen und auf der Straße lernen."

Bei den vielen Ab-, Um- und Auswegen, die Kierkegaard ersinnt, und den vielen Straßen, Gassen und Gässchen, in die Garff seinen Leser schickt, kann es nicht ausbleiben, dass sich dieser verirrt (es sei denn, er verfügt vorweg schon über präzise Ortskenntnisse). Dieser Einwand, wenn es denn einer ist, trifft Garff nicht als Erzähler, wohl aber als Biografen, denn als solcher soll er den Leser nicht nur unterhalten, sondern vor allem - informieren.

Das scheint nicht immer Garffs Absicht gewesen zu sein. Ja, er vermeidet es fast, Dinge zusammenzufassen, zu komprimieren, auf den Punkt zu bringen. Ein Beispiel: Worum geht es in Kierkegaards religiösen Schriften? Lange darf der Leser rätseln, bis es Garff nebenbei verrät, während er Kierkegaards Meinungsverschiedenheit mit dem damaligen Bischof J. P. Mynster thematisiert: "Deren markanteste ist, dass das Christentum für Mynster eine große Beruhigung darstellt, während es für Kierkegaard eine skandalöse Umkehrung aller menschlichen und kulturellen Werte ist, ein permanenter Konflikt mit der Welt" - endlich ein Anhaltspunkt, der Leser atmet dankbar auf. Nicht anders verhält es sich mit der Philosophie: Viele zentrale Begriffe werden umgangen oder nur angedeutet; im Ganzen bleibt sie seltsam unterbelichtet. Das hat der Carl Hanser Verlag dezenter formuliert: Er kündigte das Buch als einen "Lebensroman" an, - "nicht nur für Philosophen". Es empfiehlt sich allerdings, verbraucherfreundliche Avisierungen dieser Art anders aufzufassen und das "nur" auszustreichen. Dann würden die fast 1.000 Seiten zu einem von Erwartung ungeschmälerten Genuss.

Aber auch so: Garffs Buch über den "großen Außenseiter des 19. Jahrhunderts" ist ein Verdienst - "und tatsächlich kommt Kierkegaard überhaupt erst mit dieser Biographie richtig bei uns an", belehrt uns der Klappentext; oder besser: "richtig gut an", denn die Individualität steht zur Zeit hoch im Kurs; seitdem ihre Tage gezählt sind, versucht auch der Letzte noch, eine zu sein. Ob das Kierkegaard Freude bereitet hätte?

Titelbild

Joakim Garff: Sören Kierkegaard. Biographie.
Übersetzt aus dem Dänischen von Hermann Schmid und Herbert Zeichner.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
960 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3446204792

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